Hermann Kannegießer
(*1867) im Königreich Sachsen
 Hermann Kannegießer als Feldwebel um 1900 in Stuttgart
 Wilhelmine Knobloch (* 1868) spätere Ehefrau von Hermann Kannegießer
Übersicht Erzählwerkstatt
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Mein Opa, der Gastarbeiter
Meine Vorfahren im Harz waren
arm. Sie hatten ein bisschen Landwirtschaft, einen Krautgarten hinter dem Haus,
vielleicht einen Kartoffelacker, Hühner und Karnickel, ein Schwein oder ein
paar Ziegen. Die Männer arbeiteten im
Kupferbergbau. 'Sie sind in den Schacht gefahren', sagte man, seit
Generationen. Eine andere
Verdienstmöglichkeit gab es nicht. Die Arbeit war hart,
gefährlich und gesundheitsschädlich. Unfälle waren an der Tagesordnung.
Lungenkrankheiten auch. Die Männer wurden früher oder später invalide oder
krank. Alt wurden sie alle nicht. Alt wurden die
zurückbleibenden Frauen, die mit ihren Kindern meist in bitterer Armut lebten. Einer meiner Vorfahren,
Ur-Urgroßvater oder so ähnlich, hatte ein Bein verloren, konnte nicht mehr
'einfahren', und wurde kurzerhand zum Lehrer ernannt. Eine Ausbildung dafür
hatte er nicht. Mit dem Rohrstock in der Hand
passte er auf die Kinder, meist Buben, auf und brachte ihnen Rechnen und Lesen
bei, so gut er es eben konnte. Die Mädchen schickte man nur
selten zur Schule. Die Frauen brauchten sie zum Kinder-Hüten, auf dem Feld und
im Stall. Meist brachten sie sowieso bald das erste Kind nach Hause. Dann hatte
man 'noch mehr Mäuler zu stopfen'. Geheiratet wurde meist später.
Mein Großvater Hermann,
geboren um 1870, hatte mindestens fünf
Geschwister. Schon mit 14 Jahren fuhr er in den Schacht. Die Schächte waren
tief, eng und niedrig und die Luft war 'zum Schneiden', wie er sagte. Viel zu
wenig Sauerstoff. Wie die meisten Männer der Familie war er mit 1,80 eigentlich
zu groß für diese Arbeit. Er konnte sich unter Tage nur gebückt bewegen und
nirgends aufrecht stehen. Immer wieder schickte der
König von Sachsen seine Werber aus und suchte Soldaten. Die jungen Bergleute
ließen sich meist gerne anwerben. Besser als in den Schacht zu fahren schien es
ihnen allemal. Auch Hermann verschlug es unter die Soldaten. Sich im Kasernenhof schleifen
und vom Ausbilder anschreien zu lassen, gefiel dem Hermann jedoch gar nicht.
Deshalb beschloss er, sich so schnell wie möglich nach oben zu strampeln. Er
brachte es zum Unteroffizier und bald auch zum Feldwebel. Jetzt war er es, der
die anderen anschrie und durch den Dreck robben ließ.
Das gefiel ihm wesentlich besser.
Um 1895 war der junge König
von Württemberg auf der Suche nach Soldaten. Er sollte heiraten und wollte
seiner Zukünftigen zur Hochzeit mit einem 'Leibregiment' imponieren. Die
Schwaben waren jedoch kaum ansprechbar für das Soldatenleben. Auch wenn die
steinigen Felder auf der Alb nicht viel hergaben. Ein Bauer war ein freier
Mann. Deshalb fragte der König bei
den anderen deutschen Fürsten an. Der König von Sachsen war zu jener Zeit
gerade knapp bei Kasse und gegen ein Entgegenkommen auf finanziellem Gebiet war
er bereit, einige seiner Mannen ziehen zu lassen. Auch mein Großvater Hermann
ließ sich auf das Abenteuer ein, und so wechselten, wie heute die
Fußballspieler, ein paar Soldaten von Sachsen ins Schwabenland. Er wurde Ausbilder, 'Kasernenhofschleifer',
wie er selber sagte, beim 'Leibregiment Königin Olga von Württemberg', erhielt
eine schicke Uniform mit Goldknöpfen und glitzerndem Lametta und schikanierte
jetzt die Rekruten in Stuttgart. Auf Sächsisch. Weil die Schwaben ihn aber nicht
verstanden, brüllte er umso lauter. Den bellenden Kasernenhofton und den
sächsischen Dialekt hat er sich sein Leben lang nicht abgewöhnt. Das Schwabenland war für die
Sachsen Ausland. Schwäbisch eine Fremdsprache. So saßen also die importierten
Soldaten in Stuttgart und verstanden kein Wort. Was lag näher, als den Frust
und das Heimweh im Alkohol zu ersäufen, und so zogen die Ausländer an den
Wochenenden durch die Kneipen und tauschten ihren Sold gegen Bier, Wein und
Härteres. Den Schwaben gefielen die
Eindringlinge ganz und gar nicht. Sie fragten sich, was die da wollten und
hofften vergeblich, dass sie bald wieder verschwinden würden. Für ausländisches
Gesindel hatte man in Stuttgart schon damals nichts übrig. Und warum der König
denen diese Prachtuniformen schneidern ließ, in denen sie herumstolzierten wie
die Gockel zwischen den Hennen, wo doch die meisten Schwaben ihre schäbigen
Klamotten tragen mussten, bis sie ihnen vom Leib fielen, das fragten sie sich
auch. Nein, man mochte sie nicht,
diese fremden Soldaten mit der komischen Sprache. Weil man sich aber mit Worten
kaum verständigen konnte, flogen umso schneller die Fäuste. Auseinandersetzung
mit blutigen Nasen zwischen Einheimischen und den Reingeschmeckten am
Wochenende gehörten genauso dazu wie der Alkohol. Der König sah wohl, dass es
knirschte zwischen seinen Untertanen und den importierten Sachsen, und er
befahl den 'Ausländern', Mitglied zu werden in einem Schützenverein. So wollte
er das gegenseitige Kennenlernen und das Zusammenleben erleichtern. Schießen
konnten die Soldaten alle einigermaßen, und so war die Chance, dass sich die
Reingeschmeckten unter den Schützen einen Platz in der sozialen Hackordnung und
einen gewissen Respekt erkämpften, durchaus vorhanden. Schützenvereine gab es fast
überall. Wie heute der Fußballplatz, war damals der Schießstand der Ort der
Kommunikation unter Männern. Damit das Schießen auch
richtig Spass machte, wurden in jedem Dorf im Sommer Schützenfeste
veranstaltet, Wettkämpfe auf lokaler uind regionaler Ebene. Höhepunkt war die jährliche
württembergische Meisterschaft, ein großes Volksfest, mit Markt, Musik und
Aufmärschen der Vereine, die stolz ihre Fahnen schwenkten und ihre Waffen zur
Schau stellten und ihre besten Schützen in den Wettkampf schickten. Der
Landessieger erhielt den Titel 'Schützenkönig von Württemberg' und wurde vom
König persönlich ausgezeichnet.
So wurde auch mein Opa
Hermann, der Feldwebel, Mitglied in einem Schützenverein. Und weil er mit
Abstand der beste Schütze war, wurde er von seinem Verein zähneknirschend für
die Meisterschaft nominiert, obwohl er Ausländer war. Dabei schoß sich Hermann
immer weiter nach vorn, und am Ende war er der beste von allen und wurde - als
Gastarbeiter sozusagen -
"Württembergischer
Schützenkönig des Jahres 1899". Die Schwaben waren nicht
sonderlich glücklich darüber, dass dieser Reingeschmeckte die Lorbeeren
erntete. Aber der König hatte damit keine Probleme. Schwabe oder Nichtschwabe,
der Landesherr sah nur die Leistung und überreichte dem Feldwebel Hermann K.,
dem Gastarbeiter, persönlich den ersten Preis, eine goldene Taschenuhr mit der
Gravur: "dem besten Schützen
1899 - der König von Württemberg,"
und dazu einen aus Silber gegossenen röhrenden Hirsch zum an die Wand hängen
mit derselben Gravur auf der Rückseite.
So hat sich mein Großvater
Hermann seinen Platz erkämpft unter den Schwaben, die - Ausländer hin oder her
- eine solche Leistung durchaus anerzukennen vermochten. Mit solchen Ehren
ausgestattet, machten ihm jetzt auch die Schwabenmädchen schöne Augen, und noch
im selben Jahr heiratete er. Allerdings keine Schwäbin sondern eine hübsches
Mädchen aus dem Badischen mit dunklen
Kirschenaugen und schwarzen Haaren.
Sie kam aus einer bitterarmen
Familie in der Rheinebene und wurde mit 14 als Dienstmädchen in einen
Honoratiorenhaushalt nach Stuttgart verdingt. Meine Großeltern hatten zwei
Söhne, von denen es der ältere nach der
Hochzeit besonders eilig hatte, das Licht der Welt zu erblicken. Die Eltern meines Vaters
waren also beide 'Reingeschmeckte', Fremde im Schwäbischen. Gastarbeiter, wie
das heute heißt. Sie mieteten eine Wohnung in Stuttgart, und in der
Schwabenmetropole hat sich also die badische Leichtigkeit mit der sächsischen
Schwere zusammengerauft. Mein Vater pflegte zu
erzählen, dass er sich in der Schule genierte, weil seine Eltern so anders
sprachen als die Schwaben. Als Kind war er überzeugt, bei uns zu Hause, mit
meinen Eltern, stimmt etwas nicht. Schwäbisch gelernt haben
meine Großeltern nie. Ich bin auch bis heute überzeugt, Schwäbisch kann man gar
nicht lernen. Als Schwabe muß man geboren sein.
PS: Der silberne Hirsch hängt
heute noch bei mir im Klo an der Wand. Auf der Rückseite hat mein
Vater folgenden Satz hinterlassen: "Er-schossen von Hermann
K., Feldwebel im Leibregiment Königin Olga von Württemberg, im Sommer
1899."
Heilbronn, im Oktober 2016 Lilo Klug
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