Raisa Elsenbach, geb. Fries (* 1940) in der
Ukraine (ehemalige UdSSR)
 Wasserholen in der Sowchose Tschornaja im Ural (1956)

Verwandtenbesuch in Kasachstan (1960) Frau Elsenbach
(1. von rechts, untere Reihe)
 Familie Elsenbach 1964 (in Issyk)
 Abschlussklasse von Frau Elsenbach (1977)
 Frau Elsenbach mit ihrer Familie (1979)
 Frau Elsenbach (2000)
 Der geografische Lebensweg von Frau Elsenbach
Übersicht Erzählwerkstatt
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Rajas weite Reise
Wie komme ich zu dem russischen Namen Raisa, der bei den deutschstämmigen Ukrainern doch völlig ungebräuchlich
war? Für diese Namensgebung war mein Vater verantwortlich, der viel Schelte
dafür einstecken musste, und oft wurde folgende Geschichte später im
Familienkreis erzählt: Mitten im eisigen ukrainischen Winter sollte
mich Vater am 1. Dezember 1940 in der 25 km entfernten Stadt Bobrinez ins Geburtsregister eintragen lassen, da ich bereits
zehn Tage alt war. Er spannte sein Pferd vor den Schlitten und machte sich auf
den Weg. Unterwegs besuchte er in den Dörfern, die er durchqueren musste,
mehrere Kunden unserer Schmiede. Sobald
diese hörten, dass er nur eine Tochter bekommen hatte und keinen Sohn, was für
jeden Vater eine kleine Kränkung war, hatten sie großes Mitleid mit ihm. Um ihm
Trost zu spenden und ihn aufzumuntern, schenkten sie ihm ein paar Becher Braga
ein, eine Art russisches Bier, und vielleicht auch ein Gläschen Schnaps. Als er
so getröstet bei der Standesbeamtin erschien,
hatte er die Erinnerung an mein Geburtsdatum und an den
Namen Regina, den mir die Familie geben wollte, aus seinem Gedächtnis
gelöscht. Da ihm die Standesbeamtin gefiel, fragte er sie nach ihrem Namen.
Raisa fand er sehr ansprechend und geeignet für mich und er ließ diesen Namen
ins Geburtsregister eintragen. Als Geburtsdatum wurde der 1. Dezember
festgelegt, damit mein Vater nicht noch einmal den langen Weg auf sich nehmen
musste, um sich bei Mutter nach dem richtigen Geburtsdatum zu erkundigen. Auf
den Ämtern sah man eben alles lockerer als heute.
Alles änderte sich, als der Krieg begann Geboren bin ich in der Ukraine in der
Oblast (Bezirk) Kirowograd im Rayon (Kreis) Bobrinez. Meine
Vorfahren stammten vermutlich aus dem Schwäbischen und wurden von Katharina der
Großen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit vielen Freiheitsrechten
angesiedelt. Die meisten Menschen hier sprachen Deutsch und waren der
russischen Sprache nicht mächtig. Ein Fluss trennte unser Dorf Selivanowo. Auf der einen Seite wohnten die
Deutschen, auf der anderen Seite die Juden, einige russische Familien
lebten ebenfalls in unserem Dorf. Mein
Großvater war vor den russischen Revolutionen 1917 ein wohlhabender Schmied mit einer großen
Landwirtschaft. Bevor Hitler in die Ukraine 1941 einmarschierte, lebten die
verschiedenen Volksgruppen friedlich nebeneinander. Alles änderte sich, als der
Krieg begann. Vater wurde umgehend von den Kommunisten in die Trudarmee, eine
sogenannte Arbeitsarmee, eingezogen. Das war aber lediglich ein anderes Wort
für Arbeits- oder Militärlager, in denen zigtausende Deutschstämmige umkamen. Bevor er uns verließ, hat er der
Mutter das Versprechen abgenommen, dass sie die Großeltern nicht im Stich
lassen werde. Mutter wurde nicht zum Kriegsdienst eingezogen, da sie ein kleines
Kind hatte. All diese Informationen habe ich von meiner Familie, da ich zu jung
war, um mich an diese Situation zu erinnern.
Mit dem Pferdewagen „Heim ins Reich“ Nach der Besetzung der Ukraine durch Hitler
durften die Deutschen „Heim ins Reich“, wie die deutsche Propaganda das
formulierte. Da meine Großeltern Enteignung und Diskriminierung unter den Kommunisten erlebt hatten und es sich nach Stalingrad
abzeichnete, dass die Alliierten den Krieg gewinnen würden, wollten sie
unbedingt nach Deutschland. Mit einer Kutsche, zwei Pferden, meinen Großeltern,
meiner Mutter und mir haben wir uns 1943 auf den Weg gemacht und waren fast bis
zum Kriegsende unterwegs. In der warmen Jahreszeit sind wir gefahren, im Winter
haben wir in Polen bei mehreren Gutsbesitzern gewohnt. Hier konnten sich die
Erwachsenen durch Arbeit in der Landwirtschaft ihr Essen verdienen. Unseren deutschen Einbürgerungsbescheid haben
wir in der heute polnischen Stadt Kalisz bekommen. Diese Stadt lag in der von
Hitler annektierten Region, die von den Nazis Reichsgau Wartheland
genannt wurde. Schließlich erreichten wir Bitterfeld in Sachsen, wo wir im Dorf Salzfurtkapelle bei
einer Frau Tillige einquartiert wurden.
Kriegsende Der Einmarsch der Russen in Sachsen hatte für
uns schlimme Folgen. Gestützt auf die
Bestimmungen der alliierten Jalta-Konferenz im Februar 1945 ordnete Stalin die
Zwangsrepatriierung aller Russlanddeutschen an. Frau Tillige hatte Mitleid mit
uns und wollte uns verstecken, aber irgendjemand aus der Nachbarschaft hat uns
angezeigt und so wurden wir eines Nachts von der sowjetischen Militärpolizei
abgeholt und zum Bahnhof gebracht.
Transport im Viehwaggon in den Norden der UdSSR Eingesperrt in einen Viehwaggon, der mit
Stroh ausgelegt war, wurden wir zusammen mit vielen anderen
Russlanddeutschen an ein unbekanntes
Ziel transportiert. Ich erinnere mich noch, dass der Güterzug unendlich lang
war und nur alte Menschen oder Mütter
mit ihren Kindern sich in dem Transport befanden. Drei Monate von Oktober bis
Dezember oder Januar waren wir in arktischer Kälte unterwegs. Jede Familie
bekam einen Eimer, in den sie ihre Notdurft verrichten konnte. Sobald der Zug
an einem Bahnhof hielt, durfte Mutter den Eimer leeren. Wenn wir Glück hatten,
gelang es Mutter, von einer Bauersfrau etwas Suppe oder Brot zu kaufen, meist
mussten wir uns aber mit einem Schluck Wasser begnügen. Ein paarmal ist der Zug
ohne Mutter abgefahren. Niemand wusste, wann der Zug losfahren oder stehen
bleiben würde. Beim nächsten Halt, der oft sehr lange dauerte, hat Mutter uns
dann aber doch wieder irgendwie gefunden. Vielleicht ist sie uns mit dem
nächsten Transport gefolgt. Das Stroh wurde nur einmal gewechselt. Bald
forderte der Typhus mehrere Opfer. Oma hat das alles nicht verkraftet und ist
während der Fahrt gestorben. Um die Oma zu beerdigen, musste unsere Familie in
einem Dorf aussteigen, wo das Begräbnis stattfand. Wir hatten die Order, in den
nächsten Transport wieder einzusteigen. Nach
dieser dreimonatigen Tortur ist Großvater ganz grau gewesen.
Leben in einem Gefangenenlager im Norden Russlands Endstation unserer Reise war ein
Gefangenenlager in der Nähe von Archangelsk in Nord-Russland. Hier waren
Gefangene interniert, die zu über 25 Jahren
Gefängnis verurteilt worden waren. Ähnlich wie in Sibirien gab es von
dort kein Entkommen, da große Sümpfe und eiskalte Winter das Gebiet von der
Zivilisation trennten. Die Gefangenen waren in vier sehr langen
Baracken untergebracht. Als wir ankamen, mussten die Gefangenen zusammenrücken
und zwei Baracken räumen, damit wir einziehen konnten. Ein Leintuch trennte uns
von den anderen Zwangsrepatriierten. Die
Menschen mussten schwere Waldarbeit
verrichten. Sehr viele von ihnen starben an Hunger, Kälte oder
Krankheiten. Unser Überleben verdanken wir unserer Mutter, die als Köchin für
das ganze Lager eingesetzt wurde, da sie bereits in einer Kolchose in der
Ukraine als Köchin gearbeitet hatte.
Eine Kolchose war ein landwirtschaftlicher Großbetrieb, der von Bauern
genossenschaftlich geführt wurde. Wenn wir ihr in der Küche beim
Kartoffelschälen halfen, haben wir uns immer heimlich etwas in die Tasche
gesteckt, so konnten wir dem Hungertod entgehen. Opa hat die Lagerjahre nicht
überlebt.
Familienzusammenführung 1946 Nach Kriegsende wurde Vater nicht aus der
Trudarmee entlassen, sondern musste weiterhin in einem militärischen
Sperrgebiet im Nord-Ural im äußersten Osten Europas nahe der Stadt Solikamsk
arbeiten. Die Lagerinsassen hatten die Aufgabe, die Beschäftigten einer großen Waffenfabrik mit Lebensmitteln
aus der Landwirtschaft zu versorgen. Es war Vater verboten, mit Hilfe offizieller
Organisationen nach seiner Familie zu suchen. Dass wir unseren Vater
wiedersehen konnten, dazu verhalf uns das Schicksal. Vater und Mutter
schrieben, ohne von einander etwas zu wissen, je einen Brief mit ihren Adressen an das Postamt
ihres Heimatortes. Die russische Postfrau, die unsere Eltern kannte, hat beide
Briefe geöffnet und die Adressen ausgetauscht. So hat sich die Familie wieder
gefunden. Wenige Monate später durften wir zu Vater in den Nord-Ural reisen und
in dem militärischen Sperrgebiet wohnen.
Ein Kollege meines Vaters machte für uns seine Pritsche frei Ein Kollege meines Vaters hat seine Pritsche
frei gemacht, auf der Mutter und ich schlafen konnten. Wenn wir das Lager
verlassen wollten, mussten wir den Kommandanten um Erlaubnis fragen. Im Rahmen
der Familienzusammenführung trafen immer mehr Ehefrauen mit ihren Kindern bei
uns ein, sodass die Zustände in den Baracken täglich unerträglicher wurden. Der
Lagerkommandant erlaubte deshalb den Vätern, in Eigeninitiative Häuser für ihre
Familien zu bauen.
Endlich im eigenen Heim Holz gab es in den umliegenden Wäldern
reichlich. Und da alle Männer zusammenarbeiteten, entstanden in wenigen Monaten
massive Blockhäuser, die mit Moos gedämmt wurden, damit die kalten Stürme im
Herbst und Winter nicht durch die Ritzen ziehen konnten. Später wurden die
Häuser verputzt und weiß gestrichen, sodass sie ganz manierlich aussahen. Die Häuser
waren langgezogen. Vorne wohnte die Familie, dann hinter einem Durchgang war
Platz für die Ziegen, Schweine und Hühner, dahinter eine Art kleine Scheune. Ganz am Schluss befand sich unser
Plumpsklo, in das auch der Küchenabfall geschüttet wurde. Alles konnten wir
erreichen, ohne bei Regen oder Schnee nass zu werden. Später entstand um unsere
Siedlung herum eine reiche Sowchose, ein großer landwirtschaftlicher
Staatsbetrieb, in dem die meisten Deutschstämmigen arbeiteten. Die Arbeiter
spürten von diesem Wohlstand allerdings wenig, da sie einen sehr geringen Lohn
bekamen. Wir sind anfänglich nur sehr schwer über die Runden gekommen. Eine
etwas reichere Nachbarsfrau gab uns ihre Kartoffelschalen, damit sie meine
Mutter verarbeiten konnte. Mutter hackte und trocknete die Schalen und stellte
Kartoffelpuffer her. Wenn Mutter in dem Dorfladen einkaufen ging, fragte sie
uns Kinder: „Wollt ihr Weißbrot ohne Margarine oder Schwarzbrot mit Margarine?“
Über diese Frage ließ sich so herrlich mit meinem Bruder streiten. Unser
Grundstück grenzte direkt an die Taiga. Wir pflanzten dort Gemüse und
Kartoffeln an. Es konnte empfindlich kalt werden im Nord-Ural. Sobald das
Thermometer auf minus 43 ° Celsius fiel,
bekamen wir schulfrei. Zu gefährlich wäre der lange Schulweg für uns gewesen.
DieTaiga – unverzichtbare Lebensquelle Hügel, Moorlandschaften und großflächige
Pinien-, Birken- und Mischwälder bestimmten das Bild unserer Taiga. Lange
eiskalte Wintermonate folgten auf kurze, heiße Sommer. Wenn wir im Winter über
Nacht manchmal meterhoch eingeschneit waren, schaufelte ein Nachbar, der
Nachtschicht hatte, unsere Türe früh morgens nach seiner Nachtschicht frei,
sodass wir herausklettern konnten. Im Sommer war der Wald der
Abenteuerspielplatz aller Kinder unserer Straße. Da jede Familie Ziegen hatte,
mussten die Kinder Birkenbesen von den
Ästen der jungen Birken schneiden, die getrocknet im Winter zusammen mit Heu
den Ziegen gefüttert wurden. Die Birken standen ungefähr eine Stunde von uns
entfernt am Fluss, den man nur erreichen konnte, wenn man einen Tannenwald
durchquerte. Wir liebten es, stundenlang im Wald zusammen Versteck zu spielen.
Die Eltern waren weit weg, die Vögel zwitscherten, keine Erwachsenen weit und
breit. Nicht nur Birkenreiser lieferte uns die Taiga im Sommer, sondern vor
allem auch Pilze, Himbeeren, Blaubeeren,
Preiselbeeren, Sauerampfer und das Brennholz für
den Winter. Eine Delikatesse waren geröstete Pinienkerne. Ich konnte klettern
wie eine Katze und durfte deshalb wie ein Junge die harzigen Zapfen von den
hohen Pinienbäumen schlagen, die dann zuhause entkernt wurden. So war die Taiga eine sehr wichtige
Lebensgrundlage für uns.
Bären fressen gerne Beeren Nach der Arbeit in der Sowchose pflückten wir
kiloweise Himbeeren, die in den Lichtungen der Wald-Taiga wuchsen. Da es weder
Handys, Wegweiser noch Wege gab, bestand die große Gefahr, sich zu verirren,
was tödliche Folgen nach sich ziehen konnte. Um
das zu verhindern, pfiffen oder sangen wir Melodien, damit wir in Rufkontakt
geblieben sind. Eines Tages hatte ich gerade meinen Eimer randvoll mit
Himbeeren gefüllt, als ich plötzlich ein Geräusch hinter mir hörte. Ich dachte,
es sei Vater, der Feierabend machen wollte, aber es war ein Bär. Vater hatte
mir eingeschärft, nicht wegzurennen, sondern den Eimer hinzustellen und mich
möglichst geräuschlos zu entfernen, da ansonsten der Bär aggressiv reagieren
würde. Genau das tat ich, als Vater schon kam, der den Bären bereits vor mir
gesehen hatte. Er packte mich und entfernte
mich vorsichtig aus der Gefahrenzone. Der Bär zog eindeutig den süßen Geschmack
der Himbeeren Menschenfleisch vor. „Schade um die süßen Beeren“, dachte ich
traurig. Wir meldeten den Vorgang der Leitung der Sowchose und am nächsten Tag
lag der Bär tot vor unserer Baracke. Jäger hatten ihn erschossen. Das Fell des
Bären wurde abgezogen, sein Fleisch abgekocht und verfüttert. Wir waren die
Helden des Tages: Vater bekam eine Prämie und eine Auszeichnung.
Nachts heulten die Wölfe Heute hört man häufig in den Medien, Wölfe
würden keine Menschen angreifen, aber das stimmt nicht. Wenn die Wölfe hungrig
waren, sind sie wie die Füchse in unser Dorf gekommen, um z.B. im Hühnerstall
nach Beute zu suchen. Noch heute ist mir das schreckliche Heulen der Wölfe in
den Ohren, die nachts um unser Dorf geschlichen sind. Ein paarmal wurden wir
von Wölfen verfolgt. Vertreiben konnten wir sie durch lauten Lärm, den wir mit
unseren Stöcken erzeugten und durch das Kreisen der Fackeln, die wir nachts mit
uns führten, da unser Dorf und die Wege außerhalb des Dorfes nicht beleuchtet
waren. Feuer und Lärm fürchten die Wölfe und sorgten dafür, dass sie wieder
lautlos verschwanden. Unheimlich war es, wenn im Widerschein der Fackeln die
Augen der Räuber rötlich reflektierten. Eine alte Frau, die sich im Sturm im Wald
verirrt hatte, hatte nicht so viel Glück wie wir. Als die Männer des Dorfes am
nächsten Tag nach ihr suchten, fanden sie nur noch einige Kleiderfetzen und ein
paar Knochen von ihr. Man sagte, dass Wölfe sie gefressen hätten.
Die „Wald-Russen“ lebten in tiefster Armut Die Russen, die in kleinen Ansiedlungen im
Wald um unsere Sowchose herum wohnten,
waren bitterarm. Meist legte die Mutter
den Kindern, die mit uns spielten, etwas Brot auf den Tisch, das sie sich holen
durften. Die Kinder waren zu schüchtern, um das Essen direkt von ihr zu nehmen.
Im Winter trugen sie Schuhe, Lapti, die aus Rinde geflochten waren, und
zerlumpte Socken. Da die Rinde nicht wasserdicht war, hatten diese Kinder
schmerzende Frostbeulen an den Füßen. Die Hütten dieser „Waldrussen“ bestanden
in der Regel aus zwei Zimmern, einem Winterzimmer und einem Sommerzimmer, in
denen die ganze Familie lebte. Der wichtigste Gegenstand im Winterzimmer war
ein großer gemauerter Holzofen, der die Stube heizte. In dem Ofen wurde gekocht und gebacken und auf dem Ofen schlief
die ganze Familie. Ein Aberglaube besagte, dass man im Winter den Dreck nicht
entfernen dürfe. Entsprechend sah es in den Stuben aus. Das Essen war sehr
eintönig. Meist gab es Grütze aus verschiedenen Getreidesorten, oft aus Hirse.
Die Sowchose Tschornaja, unser Arbeitgeber Der Name Tschornoja, der Schwarze, stammt von dem eiskalten Fluss Tschornaja, der auch
Namensgeber unserer Sowchose und Schule
war. Meiner Meinung nach hatte der Fluss den Namen „der Schwarze“, weil das Leben um ihn herum schwarz, schlecht und
hoffnungslos war.
Mein Vater arbeitete als
Traktorfahrer, meine Mutter in der Hühnerfarm der Sowchose. In den Ferien und
nach der Schule habe auch ich mein Geld dort verdient. In den vier frostfreien
Monaten haben wir Rote Rüben, Kraut, Karotten, Tomaten und Gurken angebaut,
alles besondere Züchtungen, die schnell gereift sind. Herangezogen wurden die
Setzlinge in großen Frühbeeten. Das Kraut wurde in großen Silos eingestampft,
die Tomaten eingelegt und zusammen mit allen anderen Erzeugnissen an die Stadt
verkauft. Wenn Mutter schnell mal nach Hause musste, durfte ich als Schulkind
zuweilen die Aufsicht über die Hühnerfarm übernehmen. Doch dann passierte etwas
Schlimmes: Ein starker Sturm brach in wenigen Minuten los, die Hühner rannten
und flatterten von ihrem Auslauf in den Stall, flogen in ihrer Panik
aufeinander und bauten mit ihren Körpern eine riesige Pyramide. Der
Vorarbeiter, eine weitere Helferin, die herbeigeeilt waren, und ich versuchten,
die Tiere auseinanderzutreiben, was uns aber nur ansatzweise gelang. Die Hälfte
der Hühner erstickte. Die ganze Nacht über haben alle verfügbaren Kräfte die
Tiere geschlachtet, gerupft und ausgenommen. Nachdem der Veterinär sie
untersucht hatte, konnten sie verkauft werden. Ich denke, dass meine Mutter
Ärger bekommen hat, ich durfte sie jedenfalls nicht mehr vertreten.
Schule der Sowchose Tschornaja Die erste bis siebte Schulklasse
konnte ich in unserem Dorf besuchen, die Mehrzahl meiner Mitschüler hatte
deutsche Wurzeln. Die ethnischen Minderheiten waren in der UdSSR berechtigt, in
der Schule Unterricht in ihrer Muttersprache zu erhalten. Damit wir
Hochdeutsch lernen konnten, bekamen wir
viermal die Woche Deutschunterricht von einer Lehrerin, die perfekt Deutsch
sprach, aber Russisch nur mit Akzent. Wenn wir gewusst hätten, dass viele von
uns diese Sprache in Deutschland einmal sprechen müssen, hätten wir sicherlich
aufgepasst. Was haben wir diese Frau doch geärgert! Lernen wollten wir die
Sprache nicht, weil wir in dieser Zeit keine Deutschen sein wollten. Zu viel
hörten und lasen wir von den Kriegsverbrechen, die die Deutschen in Russland
begangen hatten und mit denen wir manchmal identifiziert wurden. So richtig zu
den Russen gehörten wir nie!
Besuch der Mittelschule in Solikamks Wer
die 8.-10. Klasse in der weiterführenden Schule besuchen durfte, musste in das
ca. 10 km entfernte Solikamks ziehen und sich dort eine Bleibe suchen. Es gab
keinen Nahverkehr dorthin. Am Wochenende brachte uns ein von der Sowchose
organisierter Fahrdienst nach Hause.
Zusammen mit fünf anderen Mädchen lebte ich in einem Zimmer am Rande der Stadt.
Verpflegen mussten wir uns selbst. Nach dem Wochenende waren unsere Taschen
prallvoll mit Mehl, Zucker und allen Lebensmitteln, die wir zuhause hamstern
konnten. Ein Brei aus billiger Trockenmilch brachte uns zusammen mit unseren
Schätzen von Zuhause kalorienmäßig über die Runden. Manchmal gingen wir auch in
eine Kantine und kauften uns mittags eine Suppe. Da viel kostenloses Brot auf
den Tischen stand, konnten wir uns für wenige Kopeken satt essen. Das geringe
Taschengeld sparten wir so für Kinobesuche, Tanzveranstaltungen usw. Wir waren
froh, dass unsere Eltern das nicht erfahren haben. In
der Schule drückten wir Dorfmädchen uns immer in die hinterste Ecke. Wir
fühlten uns den Stadtkindern einfach unterlegen. Schon
unsere Kleidung entsprach nicht den modischen Vorstellungen unserer meist verwöhnten städtischen Mitschülerinnen. Sie
rümpften die Nase über unsere plumpen, schwarzen oder blauen gesteppten und mit
Baumwolle gefüllten Jacken, die in der Dorfschneiderei genäht wurden. Und vor
allem die selbstgenähten Röcke, langen Hosen und Strümpfe, die unter den Röcken
getragen wurden, schienen ihnen nicht zu gefallen. Von
den Schuhen möchte ich gar nicht sprechen. Unsere „guten Schuhe“ durften wir
nicht nach Solikamks mitnehmen, damit wir nicht auf dumme Gedanken kämen und
uns nachts in Solikamks herumtreiben würden, wie die Eltern meinten. Mit
unseren Schuhen hatten wir auch in der Tanzstunde große Probleme. Es war
einfach nicht möglich, mit unseren groben Bauernschuhen und Strümpfen, die
durch die Filzstiefel immer heruntergerutscht sind, auf der Tanzfläche zu
bestehen. Lediglich Ludmilla, eine Mitbewohnerin unserer Wohngemeinschaft,
besaß ein Paar geeignete selbstgefertigte Schuhe, eine Art Gymnastik-Schuhe.
Ludmilla ließ uns großzügig an ihrem Schatz teilhaben. Nach ca. zwei Tanzrunden
wurden Schuhe und Strümpfe schwesterlich unter uns gewechselt. Kaum hatte dich
ein junger Mann zum Tanzen aufgefordert, schon hat eine Mitbewohnerin unserer
Wohngemeinschaft geblinzelt und blitzschnell mussten Schuhe und Strümpfe in
einer Umkleidekabine einem anderen Mädchen übergeben werden. „Ich muss mal“,
war die gängige Ausrede, mit der wir uns aus den Armen unserer Tanzpartner
entfernten. Die Schule selbst war gut ausgestattet, die
Lehrer benutzten damals schon Dias. Neben den üblichen Unterrichtsfächern gab es
viel Sport- und Hauswirtschaftsunterricht, in dem wir von einer sehr
aufgeschlossenen Lehrerin Aufklärungsunterricht erhielten. Hier bekamen wir für
das Leben wichtige Informationen, die wir von unseren konservativ religiösen
Eltern nie erhalten hätten. Vor allem lernten wir in dieser Schule aber, den
Kapitalismus zu hassen und patriotisch zu denken.
Erste unglückliche Liebe In der 9. Klasse kamen zwei neue
Schüler in unsere Klasse. Einer von den beiden, Genadij
Ermakow, war der Sohn eines ukrainischen Generals.
Der neue Schüler war bereits 17, zwei Jahre älter als ich, da er durch den
häufigen Standortwechsel des Vaters
immer wieder die Schule wechseln musste und
so nicht zügig seine Schulzeit
beenden konnte. Bald entstand zwischen uns eine enge Verbindung. Sein 18.
Geburtstag stand vor der Türe, er durfte seine Freunde einladen und natürlich
war auch ich auf der Gästeliste. Der Vater wollte aber genau wissen, wer da ins Haus kommen würde. Gena hat ihm gebeichtet,
wer ich bin, und dass ich seine erste Liebe sei. Am Tag des Geburtstages war
ich sehr aufgeregt, da er aus einem ganz anderen Milieu stammte als ich. Wie es
damals üblich war, half ich seiner Mutter in der Küche, als sie mich ganz
unerwartet ansprach und mir mitteilte,
dass ihr Mann mich sprechen wolle. Bald stand ich stark verunsichert, schwitzend und rot im
Gesicht, vor diesem einflussreichen Menschen.
Was wollte er nur von mir? Er begann ganz freundlich sein Gespräch,
indem er mich dies und das fragte. Dann kam er zügig zur Sache: „ Ich möchte
Ihnen nicht zu nahetreten, aber aus der Beziehung darf nichts werden. “Auf
meine Erwiderung, dass wir keine Beziehung hätten, sondern lediglich
Schulfreunde seien, meinte er: „Was nicht ist, kann ja noch werden“. Er hätte
bereits mit seinem Sohn gesprochen, der ihm aber geantwortet habe, dass er mich
liebe und sich von seinem Vater nicht die Beziehung zerstören lassen werde. Der
Vater appellierte nochmals dringend an mich: Er habe einen hohen militärischen
Posten und seine Karriere würde auf dem Spiel stehen, wenn sein Sohn eine
Beziehung zu einer Deutschen hätte oder diese gar heiraten würde. Er nahm mir
das Versprechen ab, Gena nichts von unserem Gespräch zu erzählen und
einen Grund zu suchen, weshalb ich unser Verhältnis beenden wollte. Eine Welt
brach für mich zusammen, aber ich fügte mich dem Willen des ranghohen
Offiziers. Als Gena mich zur Rede stellte,
weshalb ich ihm immer ausweichen würde, sagte ich, ich hätte keine Gefühle mehr
für ihn, er sei einfach nicht mein Typ. Zu schwer lastete das Versprechen auf
mir, das ich seinem mächtigen Vater gegeben hatte. Einen Menschen, den man
liebt, so anlügen zu müssen, raubte mir alle Lebenskraft. Wochenlang schien es
mir, als ob ich bereits gestorben wäre, alle Energie war aus mir gewichen.
Der katholische und der evangelische Glaube konnten nicht offen
praktiziert werden Es war uns - im Gegensatz zur
russisch-orthodoxen Kirche - nicht möglich, unsere Religion offiziell zu
pflegen. Mutter war katholisch und besaß ein ganz zerfleddertes, handschriftlich
geschriebenes Gebetsbuch. Zum „Kaffeeklatsch“ trafen sich die Katholiken der
Umgebung in privaten Räumen zum Gebet. Ein Pfarrer, der von den Spenden seiner
Gemeindemitglieder lebte, taufte und verheiratete die Gläubigen und spendete
ihnen die restlichen Sakramente. Mutter war sehr enttäuscht, dass ich mich stur
gestellt und nicht gebetet habe.
Umzug nach Kasachstan 1960 Meine erste große Reise als junge Frau
unternahm ich zusammen mit meiner Cousine Ende der 50er Jahre nach Kasachstan
zu einer Familienfeier. Die Atmosphäre in diesem Dorf war viel lockerer, nicht
wie in dem ehemaligen Strafgefangengenlager im Ural. Hier fühlte ich mich
sofort wohl. In einem Club tanzte die Jugend abends zu Akkordeon-Klängen, bald
waren Freundschaften geschlossen. Für mich stand fest, dass ich in diesen
Distrikt ziehen werde. Mein späterer Mann, Alexander, ein ehemaliger
Klassenkamerad, drängte aber nach seinem Militärdienst darauf, dass wir nach
Issyk umziehen, einem großen Dorf, in dem
viele Deutsche wohnten. Das Dorf lag in einem
grünen Gürtel und wurde von drei Seiten von jeweils einem hohen Berg geschützt,
dem Alatau-Gebirge, dessen Gipfel über 4000 m hoch sind. Einen Ausgang gab es
in die Steppe. Alle Obstsorten und sogar Trauben wuchsen in dieser fruchtbaren
Gegend. An den Stauseen, die im Gebirge angelegt waren, tummelten sich im
Sommer die Feriengäste. Unterschlupf bekamen wir zuerst in einem
kleinen kargen Zimmer in der Wohnung eines alten Ehepaars. Dort eingezogen sind
wir mit drei Koffern. Unsere Betten, auf die wir einige Haushaltsgegenstände
gebunden hatten, schleppten wir stolz den langen Weg vom Einrichtungsgeschäft
bis zu unserer Wohnung, da wir weder Auto noch Lasttier hatten. Am 21. Februar
1962 ließen wir uns als Ehepaar registrieren. Ein Freund feierte mit uns. Wir
saßen in unserer Wohnung auf den drei Koffern, aßen etwas Wurst, die wir nach
langem Schlange-Stehen ergattern konnten, und tranken Bier. Das war unser
Hochzeitsfest. Wer im Winter in eine Wohnung einzog, bekam kein Heizmaterial
zugewiesen. Damit wir nicht erfroren, hat unser Freund Viktor, immer wenn seine
Eltern weg waren, einen Korb Holz und ein paar Kohlen stibitzt. Auch unsere
chinesische Freundin organisierte für uns Holz. Während der Nachtschicht
zerlegte sie defekte Holzkisten, schnürte die Latten zu Bündeln, die mein Mann
abholen durfte. Zwei Jahre lang arbeitete ich in Issyk in
einer Lebensmittelfabrik.
Naturkatastrophe 1963 1963 ereignete sich eine verheerende
Naturkatastrophe in Issyk. Ein ungewöhnlich warmer Regen war die Ursache dafür,
dass ein Gletscher abgebrochen ist. Dieser stürzte in einen Stausee, der
wiederum mit einem anderen verbunden ist. In Minutenschnelle flossen die
Wassermassen der Stauseen zu Tal. Eine gewaltige Lawine aus Wasser, Geröll und
Bäumen verursachte eine 200- 300 m breite Schneise der Verwüstung. Vor allem
unter den Kasachen, die in alter Tradition am Fluss lebten, gab es die größten
Menschenopfer. Kein Stein blieb mehr auf dem anderen. Die ganze Stadt wurde
evakuiert. Nach Schätzungen von Helfern sind mindestens 10 000 Menschen zu Tode
gekommen. Wir hatten großes Glück, dass wir nicht in der Todeszone wohnten.
Leben in einem Reihenhäuschen Mein Mann war in einer großen Baufirma als
Schweißer beschäftigt, die auch Wohnhäuser baute. Unmittelbar nach der Geburt
des ersten Kindes durften wir zusammen mit einer anderen Familie in eines
dieser Reihenhäuser ziehen. Die Frau arbeitete als Ingenieurin, der Mann als
Arbeiter in der Firma meines Mannes. Die Küche mussten wir gemeinsam benutzten,
eine Toilette gab es nicht im Haus, die Wasserzapfstelle war 500 m entfernt. Da
die beiden Männer handwerklich geschickt waren, haben sie einige Jahre später
die Wasserleitung in unser Haus gelegt, was eine große Erleichterung war.
Lehrerin für russische Sprache und Literatur Bibliothekarin war mein Traumberuf nach der
Mittelschule. Jetzt, mit 24, ließ ich mich von niemandem mehr davon abhalten,
ein Lehramtsstudium aufzunehmen. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, mein
ganzes Arbeitsleben als Arbeiterin in einer Sowchose oder in einer Fabrik zu
verbringen. Mein Weg war schwer. Mutter, Haushalt, Beruf und Fernstudium unter
einen Hut zu bringen, überforderten häufig meine Kräfte. Nach wenigen Stunden
Schlaf war ich oft so müde, dass ich den Wecker nicht hörte. Der Fahrer des
Busses, der uns zur Schule brachte, hatte Mitleid mit mir. Wenn ich nicht an
der Haltestelle stand, fuhr er an unserem Haus vorbei und hupte laut.
Blitzschnell sprang ich dann aus dem Bett, schlüpfte in meine Kleider, packte
meine Tasche und los ging es. Der Lehrplan war sehr engmaschig, für jede Stunde
musste ein Verlaufsplan aufgestellt werde. Gelesen wurden vor allem die
russischen Schriftsteller Tolstoi, Puschkin, Majakowski, aber auch Heine und
Texte der Brüder Mann.
So richtig zuhause fühlte ich mich in der Sowjetunion nicht. Offiziell waren wir gleichberechtigt und es fand keine offene
Diskriminierung statt, aber wenn ich sogar darauf achten musste, in wen ich
mich verlieben durfte, dann waren wir nicht frei. Auch hatten die Deutschstämmigen
nicht die gleichen Karrierechancen. Als ich Lehrerin war, nahm ich im
Lehrerzimmer einen Anruf vom Ministerium
entgegen. Der Anrufer, der nicht wusste, wen er am anderen Ende der Leitung
hatte, suchte einen Bewerber für einen höheren Posten. Er gab mir den Auftrag,
dem Direktor mitzuteilen, dass er einen Kandidaten nennen sollte, der in der
Partei und nicht deutschstämmig sei. Ich war so schüchtern, dass ich diese
Botschaft ohne Kommentar weitergegeben habe.
Meine Außenseiterrolle wurde mir auch schmerzlich bewusst, sobald ich
mit einem „echten“ Russen
Meinungsverschiedenheiten hatte. Um ein Beispiel zu nennen: Mein Mädchenname Fries klingt ähnlich wie Fritz. Fritz war ein anderes Wort für
Faschist. Um mich zu diskriminieren,
wurde ich dann oft Fritz genannt.
Auch auf Behörden hörte ich sarkastisch: „Ach, Sie heißen Fritz!“, wenn ich
eines der vielen Formulare ausfüllen musste. Von Herzen wünschte ich mir, einen
Mann mit einem schönen russischen Namen zu heiraten, aber wo die Liebe
hinfällt…
Der Kampf um eine autonome deutsche Republik Viele, vor allem ältere Russlanddeutsche,
forderten bereits in den 50er Jahren von der Regierung eine deutsche autonome
Republik. Die meisten Nationalitäten, die in der UdSSR lebten, hatten ein solch
politisches Gebilde, das ihnen kulturelles Selbstbestimmungsrecht und auch einige politische Rechte garantierte.
Bereits im Ural wurden für dieses Ziel Unterschriften gesammelt. Als Gebiet
dieser Republik stellte man sich einen menschenleeren Distrikt an der Wolga
Richtung Sibirien vor. Ich selbst war nicht so sehr überzeugt von dieser
Aktion. Mein Einwand: „Ihr esst das russische Brot…“, wurde so lange
niedergebügelt, bis ich schließlich doch unterschrieben habe. Später, in Kasachstan, organisierte unser Nachbar Johann, ein Arzt, einen Verein, der sich
für eine autonome deutsche Republik einsetzte.
Auch in dieser Bewegung gab es wie
überall Spitzel, wie der Arzt richtig vermutet hat. Als Köder ließ er Kopien
der Unterschriftenlisten auf dem Rücksitz seines Autos liegen, die umgehend
gestohlen wurden. Umsichtig, wie er war, hatte er die Originale in ein Versteck
gebracht, das nur er kannte. Sobald er die Listen in Moskau übergeben hatte,
wurde er verhaftet. Nicht für sein Engagement für eine autonome deutsche
Republik wurde er angeklagt, sondern weil er den Staat verunglimpft hätte. In
der Gerichtsverhandlung, die ich verfolgt habe, warf ihm der Ankläger z.B. vor,
dass er nach dem Tod seines Vaters, der von einem betrunkenen Busfahrer
überrollt wurde, gesagt hätte: „Wenn die Regierung
Alkohol am Steuer mehr bestrafen würde,
dann hätte Vater nicht sterben müssen.“ Er wurde zu drei Jahren Gefängnis
verurteilt. Nach seiner Entlassung durfte er sofort nach Deutschland ausreisen,
vermutlich wollte man einen Störenfried loswerden. Nach diesem Prozess hatte
ich mein Vertrauen in die russische Justiz endgültig verloren.
Ausreise Ich wollte unbedingt nach Deutschland, das
war wie eine Sucht, obwohl ich keine Ahnung von diesem Land hatte. Mein Mann
konnte die deutsche Sprache nicht sprechen, war ganz russisch sozialisiert,
hatte aber eingewilligt, weil ich das wollte. Es war in den 70er Jahren nicht
einfach, aus der Sowjetunion auszureisen. Man brauchte einen deutschen
Verwandten 1. Grades, der offiziell für die Ausreisenden bürgte, und man
benötigte ein Visum, das in Deutschland
von einem Verwandten mit großem bürokratischen Aufwand beantragt werden musste. Wir hatten Glück,
dass so hilfsbereite Menschen in Deutschland wohnten. 17 Jahre lang warteten
wir auf unsere Ausreise. Ein in Deutschland beantragtes Visum galt ein Jahr
lang. Nach der Absage von den russischen Behörden durfte ein Jahr lang kein
Visum eingereicht werden, dann ging das Procedere von vorne los. Einige Jahre
habe ich ausgesetzt, da ich die Warterei nervlich nicht mehr ausgehalten habe.
Als die Schulleitung mitbekam, dass ich einen Ausreiseantrag gestellt habe,
wurde ich schikaniert. „Sie können nicht
sowjetische Literatur unterrichten und ins kapitalistische Ausland ausreisen
wollen“, rügte mich die Schulleitung. Was folgte, waren häufige
Unterrichtsbesuche. Ich denke, dass ich unsere Ausreise unserer
netten kurdischen Nachbarsfamilie verdanke. Der Mann hatte einen höheren Posten
bei der Polizei und die Frau war Stadträtin, außerdem besaßen sie einige
einflussreiche Verwandte. Diese Nachbarin signalisierte mir 1979, dass unsere
Ausreisepapiere unterwegs seien. Am Ende fiel es uns doch schwer, alles
zurücklassen zu müssen, unsere Freunde, unsere Kultur und unser Hab und Gut. Ganz uneigennützig war das Engagement unserer
Nachbarn vermutlich nicht, da sie nach unserer Übersiedlung in unser schmuckes
Reihenhäuschen, das wir inzwischen alleine bewohnen durften, einziehen konnten.
Ankunft in Deutschland 1979 Mit zwei Koffern und einem Sack mit zwei
Kissen und zwei Kamelhaardecken sind meine drei Kinder, mein Mann und ich in
Deutschland angekommen. 90 Rubel pro Kopf durften wir umtauschen, das entsprach
ungefähr 30 DM. Ich war der Meinung, dass ich gut Deutsch sprechen könne,
schließlich war ich Deutschlehrerin in Vertretung. Diese Illusion zerplatzte
bereits bei der Einreise wie eine Seifenblase: Das Deutsch, das die Deutschen
sprachen, war nicht mein Deutsch. Ich konnte diese Sprache weder verstehen noch
sprechen. Auch hatte ich bereits in der Schule gelernt und dies an meine
eigenen Schüler überzeugt weitergegeben, dass Russisch eine Weltsprache sei,
die überall verstanden würde. Leider war auch dies ein Trugschluss. So standen
wir alle mehr oder weniger sprachlos in der Fremde. In unserem ersten Aufnahmelager in Friedland
konnten wir für unsere Pässe die Namen unserer Kinder ins Deutsche übersetzten
lassen. Aus Irina wurde Irene, aus Jelena Helene. Nur unser Sohn Juri weinte,
als der Beamte ihn Georg nennen wollte. Juri
wollte kein Georg sein. Sein Namensgeber war der russische Kosmonaut und Held
Juri Gagarin. Juri durfte seinen Namen behalten.
Integration in die Gesellschaft Über das Aufnahmelager Rastatt kamen wir in
das Übergangswohnheim nach Crailsheim, wo wir unsere erste Zeit verbrachten,
bis wir uns endgültig in Heilbronn niederließen. Unser Kulturschock lähmte uns
anfänglich zutiefst. So standen wir am Geburtstag meiner Tochter Irene vor einer Bäckerei, aus der es verführerisch nach
süßen Backwaren duftete, und wagten es nicht, uns diese süßen Stückchen zu
kaufen. So verunsichert waren wir in dem neuen Land, das wir uns so sehr ersehnt
hatten. Kasachstan war in vielen Bereichen des Lebens fast 100 Jahre zurück.
Diese Zeitspanne zu überbrücken, schien mir jetzt fast unmöglich zu sein. Viele
Hürden gab es zu überwinden, bis meine Kinder und ich das Deutsche und das
Schwäbische beherrschten. Mein Mann schaffte es nie so richtig. Juri sollte in einem Internat in Crailsheim seine neue Sprache lernen. Da hier fast
ausschließlich Kinder aus Polen unterrichtet wurden und auch die meisten Lehrer
polnische Übersiedler waren, war es nicht verwunderlich, dass Juri bald perfekt Polnisch, aber nicht die Sprache seiner neuen
Heimat sprechen konnte. Nach einem Jahr schulten wir ihn bei uns in Sontheim in
die Hauptschule ein. Seine neue Klasse war aus Kindern vieler Nationen
zusammengesetzt: Türken, Jugoslawen, Griechen und Amerikaner. Damit sie sich
untereinander verständigen konnten, mussten sie sich auf einen Dialekt
festlegen und der war - Gott-sei-Dank! - Schwäbisch. Ähnliche Probleme hatte
meine älteste Tochter. Auch sie kam in ein Internat in Murnau, in dem
Aussiedler-Kinder aus Polen, der Tschechoslowakei und der UdSSR Deutsch lernen
sollten. Sie wurden nach Herkunftsländern in die Zimmer aufgeteilt, wo sie
natürlich nur Russisch miteinander sprachen. Ihre deutsche Sprachfertigkeit
haben sie verständlicherweise sich erst nach ihrem Internatsaufenthalt
erworben. Unsere Jüngste kam in die erste Klasse einer Regelschule. Sie hatte
Glück! Ihre Lehrerin setzte sie neben einen russlanddeutschen Jungen, der
Russisch und Deutsch perfekt beherrschte. Er übersetzte ihr die Aufgaben und so
war sie in kurzer Zeit fähig, mit ihrer deutschen Umwelt zu kommunizieren. Ich
selbst bekam nach einem Jahr einen Job im Arbeitsamt, wo ich ohne die Unterstützung
meines Chefs den Einstieg nur schwer gefunden hätte. Er ermutigte mich immer
wieder, nicht zu verzweifeln, wenn ich einen Anrufer, der breites Schwäbisch
ins Telefon nuschelte, nicht verstanden habe. Meine Eltern sind 1990 nach Deutschland übergesiedelt,
98 starb mein Vater, 99 mein Mann und 2000 meine
Mutter. Es war hart, Job, Haushalt, Krankenpflege und die Abschiede zu
bewältigen.
Wo ist meine Heimat? Wir wohnen nun seit 1979 in Deutschland, bald
sind zwei neue Generationen herangewachsen. Meine drei Kinder sind hier angekommen. Sie haben gute Berufe und
sind in der bundesrepublikanischen Gesellschaft fest verwurzelt. Allein mein
Mann hat - seelisch gesehen - unsere Umsiedlung nicht geschafft, oft ist er in
schwere Depressionen gefallen. Mir geht es finanziell gut. Mit meinem neuen
Lebensgefährten unternehme ich gerne Reisen. Ich hatte aber nie Sehnsucht nach
der UdSSR. Im Rahmen einer Schiffsreise habe ich Sankt Petersburg und Moskau
besucht, Kasachstan jedoch nie mehr betreten. Zur Zeit kommen viele Flüchtlinge
nach Deutschland. Ich verstehe ihre Sorgen, da es auch in einem schönen und gut
organisierten Land schwer ist, sich einzugewöhnen. Wer in Deutschland arbeitet,
seine Steuern bezahlt und nicht auffällt, ist in der Regel akzeptiert. Ich
fühle mich aber manchmal etwas ausgegrenzt und es tut mir weh, wenn Bekannte
mich als Russin bezeichnen. Und so stelle ich mir immer wieder die Frage: Wer bin ich? Wo ist meine Heimat?
Der Bericht wurde von Christel
Banghard-Jöst weitererzählt
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