Zehra Kayain
(*1943) in der Türkei
 Frau Kayain in Ankara 1958
 Frau Kayain als Pfadfinderin in Ankara 1958

 Frau Kayain in Ankara 1960
 Fotos kurz vor der Hochzeit 1964
 Hochtzeitsfotos (1964)
 Istanbul 80er Jahre
 Hochzeit des Sohnes 1996
Übersicht Erzählwerkstatt
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(In Deutschland) Angekommen
Meine Geschichte ist auf den ersten Blick
eigentlich die ganz normale Geschichte einer Frau, die mit den ersten
Gastarbeitern nach dem Krieg aus der
Türkei nach Deutschland kam. Es ist die Geschichte, die in zwei Kulturen
spielt, aber auch die Geschichte, wie man mit einer Portion guten Willens
in eine andere kulturelle Gesellschaft
wechseln kann, ohne die eigene Herkunft zu
vergessen. Ich heiße
Zehra Kayain und wurde im Jahr 1943 in
der türkischen Hauptstadt Ankara als ältestes von sechs Kindern geboren. Zwei vor mir geborene Kinder waren gestorben, und so ist es
verständlich, dass ich ein Wunschkind für meine Eltern war, vor allem nachdem sie infolge des Militärdienstes meines Vaters zehn
Jahre getrennt waren. Mein Vater war Offizier, meine Mutter Hausfrau. Ich wurde im Geist der im Sinne Atatürks
modernisierten Gesellschaft erzogen und
das hieß mit Orientierung an westlichen Werten. Was
bedeutete das für unseren Alltag als junge Menschen in den Städten West- und
Mittelanatoliens? Natürlich waren die Eltern Autoritäten, besonders der Vater,
der die Familie nach außen hin repräsentierte. Dennoch hatten
wir für die damalige Zeit viel Freiheit,
die wir auch sehr genossen. Abends mussten wir Mädchen zwar zu Hause sein, aber
am Nachmittag nach der Schule hatten wir
Ausgang. Es gab zwar noch keine Discos, aber wir trafen uns in Privatwohnungen.
Trotz konservativer Einstellung war unser Vater sehr tolerant und vertrat die
Überzeugung von der Gleichberechtigung
der Geschlechter. Keine Frau aus meiner Familie trug Kopftuch. Mit sieben
Jahren wurde ich eingeschult, wurde aber auch zu Hause von einem in unserer
Familie lebenden Onkel, einem Jurastudenten zusätzlich unterrichtet, so dass
ich nach dem ersten Schulhalbjahr in die
dritte Klasse hochgestuft wurde. Nach
fünf Jahren Grundschule und drei Jahren Mittelschule ging ich vier Jahre lang auf das Gymnasium.
Übrigens trugen wir Schulkleidung, so dass es keine Probleme wegen des Outfits gab. Abschließend
absolvierte ich noch eine Haushaltsschule. Meine vier Schwestern gingen den selben Weg und sind immer noch berufstätig.
Mein Bruder hingegen durfte studieren und ist heute noch in Ankara als
Polizeikommissar tätig.
Ich war ein
sehr sportliches Mädchen und konnte
mehrere Pokale für meine Schule erringen wie z. B. Im Diskuswerfen,
Stabhochsprung und Hundertmeterlauf. Außerdem war ich bei den Pfadfindern
aktiv. Als besonders begabte Schülerin durfte ich mir immer eine rote Schleife anstecken.
Schließlich wurde ich auch Klassensprecherin. Da ich ein Talent zum
Schauspielen hatte, durfte ich von der Schule aus an einem der fünf Theater Ankaras kleine
Rollen übernehmen oder als Aushilfssouffleurin arbeiten. Wenn meine Eltern nicht zu Hause waren, musste ich mich bei unseren Nachbarn aufhalten. Das war aber ein weiterer
Glücksfall für mich, weil ich da meine Leidenschaft für Kindermärchen entdeckte
und lernte, sie zu erzählen, was ich bei Gelegenheit auch heute noch gerne tue. Schon in
meiner Kindheit gab es in Ankara die sogenannte mobile Bibliothek, die
wöchentlich kam. Dort habe ich immer für
mich und meine Geschwister mit großer Begeisterung Kinderbücher ausgeliehen. Es
gab viele Klassiker darunter, wie z. B. „In 8o Tagen um die Welt“, „Gullivers
Reisen“ usw. Obwohl wir damals schon Strom hatten, reichte das Licht im
Wohnzimmer am Abend nicht für alle Aktivitäten der Familienmitglieder. Meine
Mutter zündete daher immer noch zusätzlich Gaslampen an, so dass wir unsere Handarbeiten, wie z. B. Stickereien,
die auch teilweise für unsere Aussteuer bestimmt waren, besser verrichten konnten. Auch zum Lesen und Hausaufgaben Machen durfte jeder mal die Gaslampen
verwenden. Nebenher hörten wir oft Radiosendungen
und wärmten uns im Winter am Ofen. Meine Mutter beglückte uns zusätzlich mit
Popcorn und gekochten Maiskolben. Ich hatte eine schöne Kindheit. Im Sommer
wurden wir heranwachsenden jungen
Mädchen von unserem Cousin an den Wochenendabenden ins Freilichtkino
eingeladen. Wir schauten sowohl türkische Klassiker derdamaligen Zeit als auch berühmte
amerikanische Filme mit Untertiteln an Eigentlich hatten wir aber keine große
Mühe, diese Filme ohne Untertitel zu
verstehen. Im Alter von
neunzehn Jahren beendete ich meine Schulzeit. Eines Tages entdeckte ich beim
Gang durch die Stadt zufällig einen Aushang am Arbeitsamt, worauf stand, dass
Deutschland und Kanada dringend Arbeitskräfte benötigten Sofort habe ich mich
entschieden, nach Deutschland zu gehen. Es war eine Blitzentscheidung, die mein
Leben veränderte. Es war das Jahr 1962.
Um die
notwendigen Formalitäten zu erledigen,
musste ich nach Istanbul zum Arbeitsamt
und zu einer ärztlichen Untersuchung reisen. Diese wurde sowohl von einem
türkischen als auch von einem deutschen
Arzt durchgeführt. Es stellte sich bei der Untersuchung heraus, dass ich unter
Blutarmut litt. Daraufhin sagte man mir, ich dürfe unter diesen Umständen nicht
nach Deutschland ausreisen. Dies war ein großer Schock für mich und ich war sehr verzweifelt. Aufgeregt sagte ich
zu dem deutschen Arzt auf Englisch, dass
ich auf keinen Fall nach Ankarazurückkehren würde und er mich unbedingt
ausreisen lassen müsse. Überrascht von meiner Sturheit und meinen guten
Englischkenntnissen entgegnete er lachend, dass er mich unter folgenden
Bedingungen ausreisen lassen würde: Ich müsse ihm versprechen, dass ich in Deutschland auf das Nachtleben verzichten und ausschließlich mich der Arbeit und dem
Haushalt widmen würde. Natürlich
versprach ich das. Was mir auch Mut gemacht
hatte, war die Tatsache, dass ein Onkel von mir mit einem Stipendium in den USA
studiert hatte und dort lebte. Dies war für mich ein starkes Motiv, diesen
Schritt nach Deutschland zu wagen.
Leicht war das für mich nicht, denn meine Familie und mein übriges Umfeld waren
sehr schockiert. Ein solcher Entschluss war damals für eine junge türkische Frau neu und ungewöhnlich. Aber ich war mutig,
und Sorgen, wie das Abenteuer wohl
ausgehen würde, machte ich mir keine. Ich war eben jung und recht unbedarft. Wenn ich heute daran
denke, kann ich das Ganze kaum selber
glauben. Während meines Aufenthalts in Istanbul konnte ich bei
Angehörigen einer unserer Nachbarn in
Ankara wohnen, einer Mutter und ihrem Sohn, der als Buchhalter arbeitete. Der
Sohn zeigte mir die Sehenswürdigkeiten Istanbuls, eine mich faszinierende Stadt. Auch begleitete er mich auf meinen Behördengängen. Alles in Istanbul war spektakulärer und
aufregender als in Ankara; meiner
Heimatstadt, einer ebenfalls westlich
orientierten Stadt, die auch einige Sehenswürdigkeiten wie ein Schloss und mehrere
Museen vorzuweisen hatte und in der ich
immerhin meine ganze Jugend auf recht unbeschwerte Weise verbracht hatte. Der Aufenthalt in Istanbul dauerte zehn Tage, währenddessen der Sohn
meiner Gastgeberin und ich uns näher
kamen und wir uns ineinander verliebten. Schließlich machte er mir einen
Heiratsantrag. Wir warteten noch sechs Monate, bis wir uns schließlich entschlossen,
heimlich zu heiraten,ohne Wissen unserer
Angehörigen. Das war sehr klug von uns, denn meine Schwiegermutter, die alleinstehend war und sich ganz auf ihren
Sohn konzentrierte, war keineswegs
erfreut, als wir ihr von unserer vermeintlich bevorstehenden Hochzeit
berichteten. Ich war ihr zu westlich erzogen. Außerdem hatte sie grundsätzlich
nicht die Absicht, ihren über dreißigjährigen Sohn mit jemandem zu teilen. Dass
wir bereits getraut waren; verschwiegen wir ihr vorerst. Sie hat dann auch zeitlebens
versucht, uns auseinander zu bringen.
Mein Mann
hatte mich überredet, nicht nach Deutschland zu gehen. Bald jedoch kam es zu
einem Streit zwischen meinem Mann und seiner Mutter, so dass ich
kurzerhand dies zum Anlass nahm, meine
ursprünglichen Ausreisepläne in die Tat umzusetzen. Glücklicherweise hatte ich
einem Instinkt folgend meine Papiere für eine Einreise nicht erlöschen lassen.
Meinem zurückbleibenden Mann sagte ich resolut, wie ich war: „Wenn du mich
liebst, kannst du nachkommen.“ Ich setzte mich in den Zug nach Deutschland. Endlich ging mein Wunsch in Erfüllung. Nach sehr langer Fahrt war ich in
Deutschland angekommen, dort, wo ich immer schon hin wollte. Der Wechsel nach Deutschland war von deutscher Seite hervorragend organisiert
worden.. Die Reise wurde bezahlt und alle Formalitäten wurden für uns erledigt. Auf dem Münchener Bahnhof wurden
wir mit Musik empfangen Wie aber würde es weiter gehen? Wie und wo würde ich
Arbeit finden, um mich zu ernähren? Die ersten drei bis sechs Jahre waren eine
schwere Zeit für mich, da ich die deutsche Sprache nicht beherrschte. Ich fühlte mich wie in
einem Gefängnis. Zwei Jahre habe ich mit mir gekämpft, ob ich nicht wieder in
die Türkei zurückkehren sollte .Aber ich blieb. Eine Rückkehr wäre das Ende einer Sehnsucht und eine Niederlage
für mich gewesen Die deutsche Sprache erlernte ich dann doch recht schnell und zwar im Goethe-Institut in
Schwäbisch Hall. Dabei kam mir meine Sprachbegabung zugute. Entgegen der
ursprünglichen Planung, in einer Schokoladenfabrik in Bremen zu
arbeiten, kam ich zu Siemens nach
Heidenheim an der Brenz. .Von meinem
Mann hatte ich nichts mehr gehört. Ich dachte, er habe mich schmählich sitzen
lassen. Plötzlich jedoch nach sechs Monaten erschien er in Deutschland, doch
ich war sehr distanziert ihm gegenüber. Wir warfen uns gegenseitig vor, den
anderen vergessen zu haben, bis sich herausstellte, dass unsere Briefe, die wir
einander geschrieben hatten, von meiner
Schwiegermutter abgefangen und zerrissen worden waren. Natürlich versöhnten wir
uns, denn wir liebten uns ja. Mein Mann landete bei Audi in Neckarsulm. Wir mussten
also zunächst eine Wochenendehe führen .Immer, wenn er mich besuchte, brachte er mir eine rote
Rose mit.Wer kann da widerstehen? Trotz der räumlichen Trennung genossen wir unser neues Leben , z. B.
besuchten wir Paris, stiegen auf den
Eiffelturm, besichtigten Notre Dame und spazierten auf den Champs Elysees. Irgendwann
ergab sich die Gelegenheit, dass auch ich in die Nähe von Heilbronn ziehen
konnte. Wir gründeten eine Familie. Wir bekamen zwei Söhne, die heute fünfzig
und siebenundvierzig Jahre alt sind. Ich habe fünf Enkel, die mir große Freude
bereiten.
Beruflich kam ich auch bei
Audi unter und arbeitete wie mein Mann in Vollzeit. Ich war Springerin, damit ich für Übersetzungstätigkeiten jederzeit abrufbar war. Auch für
Arbeitsvermittlung, Wohnungssuche, Bankangelegenheiten, bei Unfällen und vielen anderen Angelegenheiten, wenn
Türken nicht ausreichend Deutsch verstanden, wurde ich als Dolmetscherin
gerufen. Auch als Gewerkschaftsmitglied
habe ich etwa ein Jahr lang agiert. Ich konnte aber meine Gewerkschaftskarriere
nicht fortsetzen, weil ich wegen der Kinder die notwendigen Schulungen nicht
vollständig absolvieren konnte. Um den
Kontakt mit unserer ursprünglichen Heimat nicht zu verlieren und weil wir auch gerne dort waren, besuchten wir während
der Weihnachtsferien unsere Familien in der Türkei, machten aber auch
Badeurlaube. Wir reisten in viele andere
Länder, wie z. B. nach Italien, England, Frankreich, und Österreich. Den
Führerschein habe ich im Jahr 1971in deutscher Sprache gemacht. Damals gab es
noch keine türkischsprachigen Prüfungsbögen. So kam es, dass ich die erste
türkische Frau in Baden-Württemberg war, die die Führerscheinprüfung auf Deutsch
mit null Fehlern bestand. Die anderen Prüflinge konnten das gar nicht fassen.
Auch die Prüfer staunten. Ich war natürlich sehr stolz auf meine Leistung. Wenn ich an
meine Zeit in Heilbronn zurück denke, fallen mir viele Geschichten ein, die ich
erlebt habe, ernste und eher komische. Da war z.B. der Fall eines 60-jährigen
Mannes, der das Passfoto seiner gleichaltrigen Frau ausgetauscht hatte gegen
das Foto einer jungen Frau und diese so nach Deutschland brachte. Als er und seine
Freundin ein Kind bekamen, flog im Krankenhaus der Schwindel auf und die
Polizei erschien. Dabei war natürlich ich auch gefragt. Ich musste
übersetzen, wenn Geisterfahrer erwischt
wurden, bei Schuldnerberatungen, bei jeglichen Integrationsangelegenheiten, bei
den „gelben Damen der Diakonie“, bei deutsch-türkischen Kontakten der Stadt
Heilbronn. Auch der VHS stellte ich mich verschiedentlich zur Verfügung. Beispielsweise
dolmetschte ich bei Führungen, die die VHS veranstaltete. Ich half meinen türkischen Landsleuten bei allerlei
alltäglichen Fragen, die sie mit
ihren mangelhaften
Deutschkenntnissen ohne meine Hilfe
nicht hätten lösen können. So bekam ich einen guten Einblick in die Bedürfnisse,
die Sorgen und Nöte, die die türkischen Einwanderer in Deutschland
beschäftigten. Im Großen und Ganzen habe ich all diese Aktivitäten unentgeltlich
gemacht.
10 Jahre lang organisierte ich Elternabende für Ausländer in
Neuenstadt. Warum Neuenstadt? Dorthin
hat es mich nach meiner Tätigkeit bei Audi, bzw. NSU, wie die Firma damals noch
hieß, verschlagen. Und das kam so: Die Firma hatte 1975 eine wirtschaftliche
Krise zu bestehen, und es wurde im Zuge der Sanierungsarbeiten einer der
Doppelverdiener, wie mein Mann und ich, entlassen. Ich entschloss mich daher,
in Neuenstadt eine Änderungsschneiderei -- Handarbeiten waren mir ja von
Kindheit her vertraut- mit
Lederjackenverkauf zu eröffnen. Ich war also eine selbständige
Kleinunternehmerin geworden. Ich musste
dann für vier Jahre wegen der weiteren Schulbildung eines meiner Söhne zurück
in die Türkei und fand nach meiner Rückkehr eine Anstellung bei Kaco in
Heilbronn, wo ich bis zum Eintritt ins Rentenalter beschäftigt war. Inzwischen
bin ich Witwe, denn mein Mann war schwer
krank geworden und ist vor fünf Jahren gestorben. Die lange Krankheitszeit
meines Mannes hat mich seelisch und körperlich viel Kraft gekostet. Es war eine
harte Zeit gewesen. Heute bin ich durch verschiedene körperliche Leiden in
meiner Bewegungsfreiheit sehr
eingeschränkt und oft auf die Hilfe
anderer angewiesen. Trotzdem kann ich es nicht lassen und setze meine Helfertätigkeit
so weit möglich fort, nun eben per Telefon. Ich bin jetzt 72 Jahre alt und habe
den größten Teil meines Lebens in Deutschland verbracht. Ich liebe meine
türkische Heimat und liebe aber auch
meine Wahlheimat Deutschland.
Die Lebensgeschichte wurde von Wolfgang Thalheimer
weitererzählt
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