ERGÜL ERTEM (geb.
in Silifke, Stadt zwischen Mersin und Antalya)
 Mutterland Türkei
Farben: blau, rot gelb
Sonne, Wärme, aber Chaos
 Vaterland Deutschland
Farben: grau, grün, blau
Zurückhaltung, Ordnung
Übersicht Erzählwerkstatt
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Meine Reise ins Ich
Mein Leben ist wie ein
abstraktes Bild. Es ist wie zwei Menschen, die in einem Körper
leben müssen und dabei grundverschieden sind.
Herkommen und Ausbildung
Ich wurde in der türkischen
Provinz Mersin in Silifke, einer typischen Mittelmeerstadt geboren. Der
Landkreis Silifke hat 110 000 Bewohner, von denen 60 000 in der gleichnamigen
Kreisstadt leben. Silifke liegt in einer Ebene, direkt am Meer, umgeben von Orangenplantagen,
Olivenhainen und Granatapfelplantagen, durchsetzt von Palmen. Im Norden zieht sich parallel zum Meer das
Taurusgebirge entlang, das sich bis Antalya erstreckt. Im Sommer kann man dort
Ski fahren oder im Meer baden. Silifke ist auch insofern
bedeutend, als es viele Zeugnisse aus der späten hellenischen bzw. frühen römischen Zeit aufweist. Silifke wird von dem
Fluss Göksu geteilt, in dem Kaiser Friedrich Barbarossa auf dem 3. Kreuzzug auf
dem Weg nach Palästina ertrank. Ein Denkmal, von der deutschen Botschaft in
Ankara errichtet, zeugt von diesem Ereignis. In Silifke ist es im Sommer
unerträglich heiß, bis 36°. Deshalb verbrachte unsere Familie den Juli und
August in den Bergen, wo mein Vater eine Wohnung gemietet hatte. In Tasucu, einer kleinen
Hafenstadt in der Nähe von Silifke, besuchte ich die Grund-schule bis zur
dritten Klasse. Mein Vater war an dieser Schule Lehrer. Dann zogen wir nach
Silifke um, wo ich bis zu meinem fünfzehnten Lebensjahr blieb. Da mein Vater es
sich nicht leisten konnte, alle vier Kinder studieren zu lassen, verbrachte ich
die letzten drei Jahre meiner Schulzeit an einem staatlichen Lehrerausbildungsinternat
in Adana, das kostenlos war. Nach der Abschlussprüfung dort ging ich als Grundschullehrerin zurück nach Silifke. Ich wusste, dass ich gut
malen konnte. Das wurde mir immer wieder von meinen Lehrern und Mitschülern in
der Grundschule, denen ich im Kunstunterricht bei schwierigen Aufgaben half,
bestätigt. In jeder freien Minute griff ich zum Pinsel. Malen war lebenswichtig
für mich. Deshalb bewarb ich mich für ein Studium an der pädagogischen
Hochschule für Kunst, Kunstgeschichte und Kunsterziehung in Ankara. Die
Aufnahmeprüfung war sehr anspruchsvoll. Sie dauerte eine ganze Woche lang und
verlangte Kenntnisse in Kunstgeschichte, Zeichnen, Malen mit Wasserfarben, etc.
Ich wurde zum Studium zugelassen und schloss es 1964 nach drei Jahren ab. Einer
der Professoren an der Hochschule, der Musik unterrichtete, kam aus Deutschland
und hieß Zuckmayer. Nach dem Studium wurde
verlost, wo in der Türkei wir als Lehrer eingesetzt werden sollten. Ich zog ein
Los, das von mir verlangte, in der Osttürkei an der Schwarzmeer-küste an einem
Gymnasium für angehende Lehrer zu unterrichten. Meine Eltern duldeten das nicht. Also kündigte ich und arbeitete
bis 1968 als Kunsterzieherin an einem
Privatcollege und an weiteren Privatschulen in Mersin. Die Atmosphäre an diesen
Colleges gefiel mir nicht, denn die Eltern der Schüler waren sehr reich und
leider oft auch arrogant. Sie nahmen Einfluss auf das Schul-geschehen und
setzten die Lehrer bei der Notengebung unter Druck. Deshalb ließ Ich mich an
eine staatliche Schule versetzen, wo das Schulklima angenehmer war. An dem
Gymnasium wurden zukünftige Lehrer ausgebildet. Im selben Jahr kam auch mein
Sohn zur Welt. Ich konnte aber weiter unterrichten, denn eine sehr gute, vertrauenswürdige
Haushälterin nahm mir das Kochen, die Hausarbeit und die Versorgung unseres
Sohnes ab.
Erster Kontakt mit Deutschland Während meines Studiums in
Ankara hatte ich meinen Mann kennengelernt. Er studierte dort
Agrarwissenschaft. 1961 verbrachte er drei Monate als Praktikant in einem Dorf
bei Münster. Er besaß schon ein Basiswissen in Deutsch, denn an seiner Schule
wurde Deutsch unterrichtet. 1962 schloss er sein Studium als Agrardiplomingenieur
ab. Nach dem Studium ging er zurück in seine Heimatstadt Izmir, wo er mit seiner
Doktorarbeit begann. Gleichzeitig wollte er mich heiraten, und ich sollte zu
ihm nach Izmir ziehen. Doch meine Eltern waren strikt dagegen, besonders mein
Vater war sehr autoritär. Da wir uns mit unserer Meinung nicht durchsetzen
konnten, brach mein Mann seine Doktorarbeit ab und zog zu uns nach Mersin, wo
er in seinem Beruf arbeitete. Er kümmerte sich um Orangenplantagen, untersuchte
sie auf Krankheiten und kontrollierte die Zitrusfrüchte, bevor sie aus Mersin
exportiert wurden. Aber immer verfolgte ihn der Gedanke an seine abgebrochene
Doktorarbeit. Ich fühlte mich schuldig, weil er wegen mir seine
wissenschaftliche Laufbahn aufgegeben hatte. Eines Tages besuchte uns
mein Bruder in Mersin. Er wohnte schon
einige Jahre in Heilbronn, wo er als Diplomphysiker bei AEG-Telefunken im Labor
arbeitete. Er schlug meinem Mann vor, doch in Deutschland seinen Doktor zu
machen. Diese Idee setzte sich bei uns fest und ließ uns nicht mehr los. Aber
andererseits war mir nicht wohl bei diesem Gedanken, denn ich war glücklich an
meiner Schule, und Mersin war damals überschaubar. Man kannte sich, ich war
bekannt als Lehrerin und später, als ich zwei Ausstellungen gemacht hatte, auch
als Künstlerin. Mein Beiname war ‚die schöne Lehrerin‘. Außerdem hatten wir in Mersin eine eigene Wohnung, und
meine Mutter flehte uns an, doch hierzubleiben. Aber unsere Entscheidung, es in
Deutschland zu versuchen, war gefallen. Mein Bruder hatte meinem Mann inzwischen
eine Arbeit als Agraringenieur in einer Konservenfabrik in Gundelsheim verschafft.
Mein Mann fuhr also einige Monate vor mir nach Deutschland. Im April 1973 absolvierte
er einen Sprachkurs am Goetheinstitut in Schwäbisch Hall. Im September fuhr
nochmals nach Deutschland, um an der Universität Hohenheim seine Doktorarbeit
über Pflanzenschutz, Pflanzenkrankheiten und Schädlingsbekämpfung zu machen.
Aber alle Versuche, einen Doktorvater zu finden, schlugen fehl.
Umzug nach Deutschland 1974 ließen wir uns
endgültig in Deutschland nieder. In den ersten Wochen habe ich nur geweint. Wir
lebten aus Koffern. Alles war so trist und leer. Ich fragte mich: „Wo bin ich?
Wer bin ich? Was mache ich hier?“ In der
Türkei war ich eine Persönlichkeit. In Deutschland war ich nichts. Außerdem
wurde unser Geld knapp. Da hörte ich, dass das
türkische Konsulat türkische Lehrer
einstellen wollte. Es meldeten sich viele Bewerber. Deshalb gab es ein
Auswahlverfahren. Am Ende hatten mit mir 15 Bewerber die Prüfung bestanden. Es
war eine verkehrte Welt. Ich sagte zu dem Verantwortlichen auf dem
Generalkonsulat, in der Türkei hätte ich Schüler auf das Lehrerstudium
vorbereitet, und jetzt sähe ich mich in der Rolle meiner damaligen Schüler. Weil mein Mann keine Stelle
als Doktorand gefunden hatte, wollten wir wieder in die Türkei zurückkehren.
Ich brachte unseren Sohn deshalb zurück zu meinen Eltern, die inzwischen nach
Ankara gezogen waren, weil dort zwei meiner Geschwister studierten. Er war,
als wir 1974 nach Deutschland kamen, viereinhalb Jahre alt und hatte im
Kindergarten Deutsch gelernt. Jetzt besuchte er in Ankara die Grundschule, wo
er in die zweite Klasse eingeschult wurde. Zunächst ein paar Sätze zu
der damaligen politischen Lage in der Türkei: Zwischen 1974 und 1979 war die
Lage katastrophal. Täglich gab es bis zu 25 Tote. Man wusste nie, ob man das
nächste Opfer sein würde. Journalisten wurden getötet, unter ihnen der bekannte
Journalist Abdi Ipekci. Es kam zu einem Massaker In der Stadt Kahramanmaras in
der Südtürkei. Meine Trauer fand in jener Zeit Ausdruck in meinen depressiven
Bildern, die in Schwarz und Grau gehalten waren. Erst der Militärputsch von
1980 brachte mehr Sicherheit. Das Militär gab dem Land eine neue Verfassung,
und es wurden Wahlen abgehalten. Aber ganz sicher war die Lage nicht.
Linksgerichtete Gegner der Regierung wurden hingerichtet, und es tobte immer noch
ein Kampf zwischen den Linken und den religiösen Fundamentalisten. Ein weiterer
bekannter Journalist, Ugur Mumcu, kam 1993 bei der Explosion einer Autobombe
ums Leben. Die Urheber dieses Attentats sind immer noch unbekannt. Inzwischen
hatte wir unsere Wohnung in der Türkei aufgegeben und die Wohnungseinrichtung
aufgelöst. Außerdem hatte mein Mann eine
Umschulung gemacht und bei Edeka als EDV-Sachbearbeiter eine Arbeit gefunden.
Sein Chef bat ihn inständig, in Deutschland
zu bleiben und wirklich einen neuen Anfang zu machen. Schließlich gaben wir den
Plan auf, in die Türkei zurückzukehren. Ich holte unseren Sohn aus Ankara
zurück, der hier in die erste Klasse zurückversetzt wurde. Ich hatte inzwischen
eine Stelle als Türkischlehrerin gefunden. Der Anfang war sehr schwer. Wir
wohnten in Leingarten und meine Arbeitsstelle war in Lauffen und in Ilsfeld. Ich
hatte keinen Führerschein (seit 1977 besitze ich einen), und so war ich drei
Stunden am Tag unterwegs, um mit öffentlichen Verkehrsmitteln meine Schulen zu
erreichen und wieder nach Hause zurückzufahren.
Türkischlehrerin in Deutschland Als Lehrerin für den
muttersprachlichen Unterricht in türkischer Sprache unterrichtete ich Türkisch
und türkische Kultur. Für einen solchen Unterricht gibt es zwingende Gründe: Das
Selbstbewusstsein der Kinder, die ihre Muttersprache beherrschen und ihrer Kultur
bewusst sind, wird gestärkt und sie
lösen sich nicht so leicht aus ihren familiären Bindungen. Sie nehmen auch ihr
Umfeld besser wahr. Außerdem ist es von Vorteil, wenn das Kind in sein Land
zurückkehrt und seine Muttersprache beherrscht. Das Unterrichten fiel mir
leicht. Aber für mich als Kunsterzieherin war es frustrierend, nicht in meinem
Beruf arbeiten zu können. Ich bemühte mich, mein
Deutsch zu verbessern. Die Gespräche im Lehrerzimmer waren hilfreich. Auch gab
es gute Kontakte zu Nachbarn und zu Familien, die ich durch meine Ausstellungen
kennengelernt hatte. Mit meiner guten Freundin Marion Eisenhuth ,einer Kollegin,
die sich immer für meine Bilder interessiert und meine Ausstellungen besucht
hatte, verbrachte ich einen 14-tägigen Urlaub in der Türkei. Außerdem schaute ich mir deutsche Fernsehprogramme an,
da es damals noch keine türkischen Programme in Deutschland gab. Die
Deutschkurse an der Volkshochschule waren nicht passend für mich, denn die
Teilnehmer konnten zum Teil weder lesen noch schreiben. So war ich mit dem Deutschlernen
im Wesentlichen auf mich selbst gestellt. Später nahm ich an zwei
Intensivkursen am Berufsbildungszentrum in Heilbronn mit sehr gutem Erfolg
teil. Die Situation an der Ilsfelder Schule war nicht einfach. Die türkischen
Eltern kamen in der Hauptsache aus verschiedenen kleinen Dörfern. Unter
ihnen gab es viele bildungsferne Eltern. Das Geldverdienen war für sie
wichtig, um dann wieder in die Türkei zurückzukehren. Die Schule stand für sie
nicht im Mittelpunkt. Außerdem hatten
sie eine gewisse Scheu im Umgang mit der Schule. Die Sprachbarriere spielte
dabei auch eine Rolle. Türkische Schüler wurden oft in die Sonderschule
geschickt. Als sich die türkischen Eltern darüber beschwerten, wurde verordnet,
dass bei den Sonderschulprüfungen ein türkischer Lehrer zugegen sein müsse. Mir
wurde diese Aufgabe übertragen, die ich dann, um meine eigenen
Unterrichtsstunden nicht
ausfallen zu lassen, an einen anderen türkischen Kollegen weitergab. Es stellte sich heraus,
dass viele türkische Kinder an der
Sonderschule durchaus begabt waren, aber
eben nur nicht genügend Deutsch konnten. Da man annahm, dass die
Gastarbeiter wieder in ihre Heimat zurückkehren würden, gab es auf deutscher
und türkischer Seite keine großen
Integrationsbemühungen. Das rächte sich, denn die meisten Gastarbeiter blieben.
Wenn die Politiker sie mehr in die Gesellschaft eingebunden hätten, gäbe es
jetzt weniger Probleme.
Vorurteile Erfahrungen mit
Fremdenfeindlichkeit und Vorurteilen machte ich auch. Wenn mich die Menschen
nicht kennen, denken sie, ich sei eine Deutsche, weil ich blond bin, kein
Kopftuch trage und mich wie eine Deutsche kleide. Wenn sich die Deutschen unterhalten,
reden sie manchmal wenig positiv über die Ausländer. Wenn ich aber zu reden
beginne, merken sie, dass ich eine Ausländerin bin, und fixieren mich daraufhin
skeptische von Kopf bis Fuß. Einmal fragte mich eine Frau tatsächlich, ob man
in der Türkei auch Kunst studieren könne. Wenn ich in türkischer
Gesellschaft bin, geschieht dasselbe,
nur mit umgekehrtem Vorzeichen. Manche Türken schimpfen ungeniert über die Deutschen, weil sie denken, ich
verstünde kein Türkisch, sind dann aber höchst erstaunt, wenn ich mich als
Türkin entpuppe. Einmal machte ich eine interessante
Erfahrung. Der Hausmeister einer Schule, an der ich nachmittags unterrichtete,
ließ mich immer vor der verschlossenen Eingangstüre stehen, obwohl er sie
hätte öffnen müssen. Als das einige Male passiert war, beschwerte ich mich beim
Schulleiter. Als der Hausmeister bei der Unterredung mit dem Schulleiter
erfuhr, dass ich Künstlerin bin, war er wie verwandelt. Von da an behandelte
er mich äußerst höflich und zuvorkommend. Der Schulleiter war Hobbymaler, und
war hatten deshalb ein gutes Verhältnis. Auch manche Kollegen hatten
Vorurteile. Sie beschwerten sich immer wieder, meine Schüler würden klauen,
obwohl ich nur einmal in der Woche für zwei Stunden an der Schule war. Ich
sagte: „Meine Schüler sind wie eure Schüler, mit denselben Verhaltensweisen.“
Mit der Zeit gab es keine Probleme mehr. Wenn Unrecht geschah, auf deutscher
oder türkischer Seite, sprach ich die Schwierigkeiten direkt an und vermittelte zwischen den
streitenden Parteien. Eines Tages wurde ich als
Mediatorin an die Grund-und Hauptschule in Neckarsulm gerufen. Dort hielt ich
vor dem Lehrerkollegium einen Vortrag über Konfliktlösung, wie ich sie mir
vorstelle. Dabei betonte ich, wie wichtig es für die Heranwachsenden sei, ein
Gleichgewicht zwischen den Erwartungen des Elternhauses und den Anforderungen der Gesellschaft zu
finden. Von zentraler Bedeutung sei dabei die Entwicklung eines gesunden
Selbstbewusstseins, das einerseits vermeidet, die Eltern durch schlechtes
Verhalten zu verletzen, und das andererseits unempfindlich macht gegen
gefährliche Einflüsse von außen.
Deutsch-türkische Kooperation Zuvor nochmals ein kurzer
Ausflug in die türkische Geschichte: Am 23. April 1920 wurde das
erste türkische Parlament gegründet. Aus diesem Anlass verfügte Kemal Atatürk,
dass dieses Datum jedes Jahr mit einem Kinderfest gefeiert wird. Ich führte diese Tradition
weiter und organisierte im Frankenstadion in Heilbronn ein Kinderfest, an dem
türkische, griechische, spanische und deutsche Kinder mit folkloristischen
Darbietungen auftraten, in der Hauptsache mit Volkstänzen. Dieses Fest diente
dazu, die Vorurteile, die die einzelnen Volksgruppen gegeneinander hegen,
abzubauen. 1989 machte ich in
Leingarten den Vorschlag, für Ausländerkinder in der Grundschule eine
außerschulische Hausaufgabenhilfe einzurichten. Doch dabei entstehen natürlich
Unkosten. Bei der Kirche als Trägerin anzufragen, verbot sich von selbst, denn
türkische Eltern fürchten bei einer solchen Maßnahme die Beeinflussung ihrer
Kinder durch den christlichen Glauben. Auch das Bürgermeisteramt stellte sich anfangs
quer. Da erhielt ich von der Heilbronner Stimme Unterstützung, indem sie mir
Gemeinden nannte, die eine solche Einrichtung schon erfolgreich umgesetzt
hatten. Dies überzeugte die Gemeinderäte, die ich einzeln angeschrieben hatte.
Sie alle unterstützten nun diese sinnvolle Initiative und beschlossen, die
Kosten für die außerschulische Hausaufgaben-,Sprach- und Lernhilfe für
Ausländerkinder in der Grundschule zu übernehmen. Die Schule stellte Schulräume
zur Verfügung und gab die Zusage, mit den beauftragten Fachleuten zusammenzuarbeiten. Ganz wichtig ist mir die Integration
der türkischen Bürger in Deutschland, ohne dass sie dabei ihre Identität
verlieren. Eine andere gute Gelegenheit, diese Integration und das gegenseitige
Verständnis zu fördern, ist die Begegnung zwischen muttersprachlichen
Lehrkräften, Schulleitern, Lehrerinnen und Lehrern, türkischen Eltern, türkischen
und deutschen Kindern. „Der Tag des Lehrers“ bot sich für eine solche Begegnung
an. (Auch dieser Tag geht zurück auf Kemal Atatürk, der 1928 seinem Volk
verordnete, sich auf die lateinische Schrift umzustellen. Dies war eine riesige
Herausforderung für die Lehrerinnen und Lehrer, die seitdem hohe Wertschätzung
genießen). Zuerst lud ich als Kooperationslehrerin
Schulleiter und deren Stellvertreter von zehn ausgewählten Schulen ein, an
denen Türkisch unterrichtet wurde. (Insgesamt wird in Heilbronn und Umgebung an
etwa 50 Schulen Türkisch unterrichtet). Die zehn türkischen Kollegen durften
jeweils ihre Kolleginnen und Kollegen mitbringen. Man traf sich in einem Saal,
es wurden Reden gehalten, und die Gäste wurden auf Kosten des türkischen
Elternbeirats in Heilbronn bewirtet. Diese Art der Feier
befriedigte mich nicht. Deshalb kam ich auf die Idee, die Feier in einem kleineren Rahmen abzuhalten. Ich lud an der
Kurt von Marval Schule in Nordheim, an der ich unterrichtete, den
Bürgermeister, den Vertreter des türkischen Konsulats, den türkischen Erziehungsattaché,
den Schulamtsdirektor, den Schulleiter, das Kollegium und die türkischen und
deutschen Eltern ein. Dann organisierte ich ein buntes Rahmenprogramm, bei dem
die türkischen und deutschen Schülerinnen und Schüler die Gäste mit Tänzen und Liedern unterhielten, und die
türkischen Eltern warteten mit landestypischen Spezialitäten auf. Die
Atmosphäre war einfach viel familiärer als zuvor. Dieses Fest trug dazu bei,
dass die türkischen Eltern ihre Berührungsängste wenigstens teilweise verloren,
und sie waren stolz, bei diesem Fest eine wichtige Rolle gespielt zu haben.
Mein Leben als Künstlerin
in Deutschland Nachdem ich mich über mein
Leben als Lehrerin ausgelassen habe, nun einige Worte zu meinem Werdegang als
Künstlerin. 1968 fing ich an, meine
Bilder auszustellen. Eine Ausstellung fand in der Rathausgalerie von Mersin
statt. Die Bilder entstanden im
Zusammenhang mit meinem Unterricht an der Schule. Jeweils am Ende eines
Schuljahres wurden die Schülerarbeiten und meine Arbeiten ausgestellt. Wie schon erwähnt, war ich
zu Beginn in Deutschland todunglücklich. Ohne Malen konnte ich nicht existieren.
Malen ist mein Leben und meine größte Liebe. Da lernte ich eine junge Türkin kennen.
Sie half mir beim Suchen einer Galerie, da ich ja überhaupt kein Deutsch konnte. Wir gingen zusammen zur Harmonie, wo der
Heilbronner Künstlerbund gerade eine Ausstellung hatte. Meine Dolmetscherin
stellte mich dort als Künstlerin vor. Daraufhin wurden Adressen ausgetauscht.
So kam mein erster Kontakt zustande. Eine schockierende Erfahrung machte ich
in einer Heilbronner Galerie. Als der Besitzer erfuhr, dass ich Türkin sei,
nahm er mich überhaupt nicht ernst und behandelte mich verächtlich von oben
herab. Der Künstlerbund traf sich einmal im Monat in der Harmonie. Zuerst wurde ich Gastmitglied,
weil ich die erste Ausländerin war, die zu ihm gestoßen war. Doch Ende 1975
wurde ich richtiges Mitglied, nachdem eine Jury meine Bilder für sehr gut befunden
hatte. Zuerst durfte ich an Gruppenausstellungen teilnehmen. 1978 fand dann
meine erste Einzelausstellung in der Stadtbibliothek in Heilbronn statt. Der damalige
Vorsitzende des Künstlerbunds, Dr. Hans Blascheck, übernahm den Einführungsvortrag.
Ein Bild beeindruckte das Publikum besonders. Es hieß „Deutschland“. Es ist in
dunklen Farben gehalten, im Zentrum sieht man eine große Uhr, umgeben von
Kraftwerken, Fabrikschloten und Fertigungsanlagen, alles geometrisch geordnet,
und die Menschen sind als Roboter dargestellt. Im Gegensatz zu den Ländern am
Mittelmeer, wo die Menschen spontan und warmherzig sind, kamen mir die Menschen
hier am Anfang so kalt und unpersönlich vor. Ein Konsul in Köln, der das Bild
kaufte, meinte, Deutschland habe man nicht besser darstellen können. Aber ich machte auch
durchaus positive Erfahrungen und erfuhr viel Freundlichkeit, besonders von
drei Persönlichkeiten: von Dr. Weinmann, dem früheren Oberbürgermeister, von
dem schon erwähnten Dr. Blaschek und dem Direktor der Deutschen Bank,
Hans-Jürgen Arnold mit seiner Frau. Aus Dankbarkeit wollte ich
Dr. Weinmann ein Heilbronnbild schenken, doch seine Sekretärin auf dem Rathaus
sagte, als Beamter dürfe er kein so teures Bild annehmen. Die Gesetze ließen
das nicht zu. Für mich war das neu. In der Türkei wird so eine Sache viel
lässiger gehandhabt. Da kam mir die Idee, das Bild seiner Frau zu schenken.
Dagegen war nichts einzuwenden. Dr. Weinmann revanchierte sich, indem er bei
meiner nächsten Ausstellung auf dem Weißenhof den Eröffnungsvortrag hielt. Ein Höhepunkt meines Werdegangs
als Malerin war 1995 eine Ausstellung in der Volksbank Leingarten, wo ich mit
meinen Bildern ein Resümee meines zwanzig-jährigen Schaffens in Leingarten zog.
Der Schwerpunkt der Ausstellung lag auf der Darstellung meines Lebens in vier verschiedenen Phasen: Am Anfang
meines Hierseins war ich voller Optimismus und Erwartung, das neue Land
kennenzulernen, gleichzeitig aber sehnte ich mich nach meiner Heimat und der
südlichen Wärme. Die dominierenden Farben dieses Bildes waren Erdfarben, Gelb
und Orange. Dann folgte die Enttäuschung, die Desillusion, der Schock der
Realität, das Leiden unter der Einsamkeit, unter der menschlichen Kälte. Dieses
Bild war in Schwarz und Grau gehalten, versehen mit Skeletten, Stacheldraht und
Totenschädeln. Um mich von diesen schrecklichen Gedanken und Gefühlen zu
befreien, flüchtete ich in eine Phantasiewelt, in eine romantische Traumwelt in
Blau. Aber ich durfte nicht dauernd in dieser Traumwelt leben, sondern musste
mich der Realität stellen, den Ausbruch wagen, mich innerlich befreien. Diese
innere Rebellion ließ sich am besten mit roten Farben darstellen. Ich nenne
dies: „Rote Bewegung in der Enge“. Das Besondere an der Ausstellung dieser vier
Bilder war ihre Untermalung durch Sprache (Rezitation des Gedichts ‚Liebeslied‘
von Else Lasker-Schüler) und Musik, die eigens für diese Ausstellung komponiert
worden war. Die Verbindung der Bilder durch heitere, bewegte Klänge (Phase 1),
Monotonie und Misstöne (Phase 2), schwebende, ätherische Töne (Phase 3) und
expressive Musik (Phase 4) beeindruckte die Besucher stark, zumal ein Spotlight
in dem abgedunkelten Raum auf die einzelnen Bilder gerichtet wurde. Im Ganzen wurden bei 35
Einzelausstellungen und mehreren Gruppenausstellungen in verschiedenen Städten
in Deutschland meine Werke gezeigt. Besonders erwähnen möchte ich meine Ausstellung
im Heinrich-Fries-Haus im Jahr 2014 anlässlich meines 40jährigen Schaffens als
Künstlerin. Ich bedanke mich dafür bei Herrn Oberbürgermeister Mergel und dem
Leiter des Heinrich-Fries-Hauses, Herrn Hackmann. Eines Tages brach ich
zusammen. Intensives Malen, die Ausrichtung von vielen Einzelausstellungen,
gleichzeitiges Unterrichten, Organisieren von Lehrertreffen dreimal im Jahr war
zu viel für mich. Ich wurde von einem Schwindel erfasst, der sich erst nach und
nach wieder verlor. Zu viel Arbeit, gepaart mit dem unbedingten Willen zur
Perfektion, kann eine solche Krise auslösen, meinte mein Arzt. Mein Malen bewegt sich auf
der Grenze zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit. Zwar male ich
abstrakte Begriffe wie z.B. ‚Konflikt‘,
‚Meditation‘ oder ‚Einsamkeit‘, aber trotzdem muss ich erkennen, worum
es sich handelt. Augen sind sehr wichtig für mich. Die Menschen haben heute
keine Zeit mehr, ihrem Gegenüber in die Augen zu sehen, Blickkontakt
aufzunehmen. Der Blick zum Handy ist allgegenwärtig. Augen sind der Spiegel
des Herzens. Sie drücken vielerlei Gefühle aus: Glück, Trauer, Zorn, Neid,
Verliebtheit, etc. An die dreißig Augen-Collagen, verziert mit Bordüren
anatolischer Frauen, habe ich in eineinhalb Jahren fertiggestellt. Ich denke,
diese Collagen sind einmalig auf der Welt. Anschließend malte ich fünf Bilder
von Umarmungen. Diesen Bildern gemeinsam ist das Grundmotiv der Liebe, die
durch die Augen den Weg zum Herzen findet.
Mein Kunstverständnis Ich versuche, meine
Theorien, meine Sehnsüchte, Freuden, Schmerzen, Lieben auf die Kunst anzuwenden.
Erinnerung und Traum (im Wachzustand) stehen in engem Zusammenspiel bei der Gestaltung.
Die Gestaltung ist Mittel, um mein Ziel zu erreichen. Das Motiv hat immer einen
persönlichen Bezug. Bei der Gestaltung sind mir ästhetische Normen sehr
wichtig. Die Farben, als Fläche und Linie, sind
Mittel der Malerei. Es gibt keine festen Regeln dafür. Die Gesetze für
das einzelne Werk bilden sich bei der Arbeit. Das menschliche Seelenleben
ist zum großen Teil unbewusst. Meine Bilder sind die ständige
Auseinandersetzung mit meinen Gedanken. Ich flüchte immer zu meiner Malerei im
Sinne einer, wie ich hoffe, besseren Wirklichkeit. Ich habe zwei Heimatländer. Die
Türkei ist mein Mutterland. Deutschland ist mein Vaterland. Oft fühle ich mich
als Kind geschiedener Eltern, aber meine richtige Heimat ist die Kunst. Dort
fühle ich mich am wohlsten. Auf die Frage, ob ich später in meine
Heimat zurückkehren wolle, antworte ich: Ich habe es in den ersten Jahren oft
bereut und mich öfters gefragt, warum wir nach Deutschland gekommen sind. Aber
mit der Zeit ist Deutschland meine zweite Heimat geworden. „Wenn man sich nicht
als Fremder fühlt, wird man auch nicht als solcher betrachtet.“ Meine Tochter ist hier geboren und hat
in Frankfurt studiert. Zur Zeit lebt sie in Barcelona. Mein Sohn lebt in Ulm. In der Türkei hat sich in den letzten
Jahren sehr viel verändert. Eine Rückkehr für immer kann ich mir nicht mehr
vorstellen. Ich leide unter dem Klima hier, ich
sehne mich nach der Wärme im Süden, aber ich liebe die Ordnung hier, den Fleiß,
die Disziplin, die Verlässlichkeit. Die Menschen hier stehen zu ihrem Wort.
Wenn etwas versprochen worden ist, wird es noch nach einem Jahr eingehalten.
Ich bin in dieser Hinsicht noch nie enttäuscht worden. Ich habe öfters an unser Schicksal
gedacht. Jeder Mensch hat eine Mission in dieser Welt. Manchmal möchten wir
etwas erreichen, aber es geschieht etwas ganz Anderes – gegen unseren Willen. –
Ich denke oft daran, was der deutsche
Philosoph Schopenhauer sinngemäß dazu gesagt hat: Wir sind frei zu tun, was wir
wollen. Ob wir frei sind, hängt von unserem Willen ab, es zu wollen. Alles , was ich male, sind Aspekte
meines inneren Dramas. Ich würde die Welt gerne
verändern, doch ich kann es nicht. Ich versuche zu malen. Ein Bild,
sonst nichts.
Die Lebensgeschichte wurde von Rudolf
Holzwarth weitererzählt
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