Gül (Pseudonym) (geb. 30.8.65) in der Türkei
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Wie auf einer Achterbahn
Ein verwöhntes Kind in
Ankara
Bis ich acht Jahre alt war, lebten mein Bruder und ich bei meiner Großmutter
mütterlicherseits in Ankara, da meine Eltern als Gastarbeiter nach Deutschland
gezogen waren. Mein Großvater, ein wohlhabender Bauunternehmer, starb bereits
mit vierzig Jahren. Er hinterließ meiner Großmutter ein schönes, großes Haus,
in dem sie mit ihrer Großfamilie in gewissem Wohlstand leben konnte.
Als erste Enkelin und einziges Mädchen wurde ich von allen
Hausbewohnern maßlos verwöhnt. Was ich wollte, bekam ich. Herausgeputzt hat mich
Oma mit Hütchen, Lackschuhen mit
Spitzensöckchen und hübschen Kleidchen. Der Ort meiner Träume war ein großer
Vergnügungspark, den wir mit Oma und deren Schwägerin oft
besucht haben. Das Riesenrad, die Bootsfahrten und die vielen Stände mit duftendem Essen waren
magische Anziehungspunkte.
Nachts kuschelte ich mich am allerliebsten zu meiner Urgroßmutter
in deren riesiges Bett. Mein
heißgeliebter Hund durfte dort aber nicht fehlen. Zu dritt schlummerten wir
völlig zufrieden dem Morgen entgegen. Da Oma sehr auf Hygiene achtete, hätte sie das niemals erlaubt. Deshalb mussten wir warten, bis Oma eingeschlafen war,
um unseren bereits vor der Türe wartenden Freund zu uns ins Schlafzimmer zu
lassen.
Mutter fehlte
jegliche Lebenskraft Indessen wurde meine Mutter in Deutschland krank. Sie litt
unter Depressionen, hatte ständig Kopfweh und ihr fehlte jegliche Lebenskraft.
Vater brachte sie zu mehreren Ärzten, die jedoch nichts finden konnten. Ein
Arzt, der die Ursache ihrer Leiden erahnte, gab Vater den Rat, sie mehrere
Monate lang zu ihren Kindern und ihrer Familie nach Ankara zu schicken. Nach
ihrer Rückkehr wollte er sie erneut untersuchen.
Es war ein kluger Arzt, da seine Diagnose stimmte. Mutter
kam völlig erholt und gesund von ihrem Besuch in Ankara nach Deutschland
zurück. Wie meine Mutter erzählt, sagte der Arzt nach der Untersuchung lächelnd zu ihr: „Deine Kinder sind deine
Medikamente!“ Unsere Eltern zögerten nun nicht mehr länger, ihre Kinder zu sich nach Deutschland zu
holen.
Mit dem Flugzeug in
die neue Heimat Mutter hatte meinem Bruder ein großes mit dem Logo der
Lufthansa versehenes Flugzeug aus Deutschland mitgebracht. Es wurde mit einer
Batterie betrieben und konnte elegant auf unserem großen Balkon fliegen. Ich
ahnte, dass wir uns bald in einem echten großen Flugzeug Richtung Deutschland befinden
würden. So geschah es auch. Kurze Zeit
später saßen mein Bruder und ich in
einem Jumbojet der Lufthansa Richtung Stuttgart. Eine freundliche Stewardess
hat uns angeschnallt und uns Essen und Trinken gebracht. Wir verstanden kein
Wort und konnten nur mit Handzeichen miteinander kommunizieren. Abgeholt wurden
wir vom Vater und einem Nachbarn an
einem Freitag im Herbst. Mama und Papa waren glücklich, ihre Kinder nun bei
sich zu haben.
Die Lehrerin erklärt und erklärt und
du verstehst überhaupt nichts
Da ich bereits in Ankara die Schule
besucht habe, kam ich in Heilbronn-Böckingen vermutlich in die zweite oder
dritte Klasse der Grünewald-Schule. Genau weiß ich das nicht mehr. Es ist
einfach grausam, wenn man kein Wort
Deutsch versteht. Die Lehrerin erklärt und erklärt und du verstehst überhaupt
nicht, um was es da geht. Du willst mit den andern Kindern spielen, kannst es
aber nicht, da du nicht kapierst, was sie spielen. Mein Bruder konnte schneller
mit anderen Jungen Kontakt knüpfen, da er auf der Straße zusammen mit ihnen
Fußball spielte, wozu man keinen großen Wortschatz braucht. Mädchen sprechen
eben mehr miteinander.
Ich bekam
von meiner Lehrerin ein Buch, in dem Bilder von Begriffen dem entsprechenden
Wort zugeordnet wurden. So lernte ich das deutsche Wort für Brot, Käse, Mann,
Frau (…). In den 70er Jahren gab es noch keine speziellen
Sprach-Förderprogramme für Kinder von Zuwanderern, weil nur wenige dieser
Kinder in Deutschland lebten. Ich war z. B. das einzige Kind mit
Migrationshintergrund in meiner Klasse. Da in meiner Umgebung, außer zuhause,
nur deutsch gesprochen wurde, fand ich mich jedoch relativ schnell in diese
Sprache ein. Nachdem ich sprechen konnte, gab es keine Probleme mehr mit meinen
Mitschülern. Gerne erinnere ich mich an meinen Klassenlehrer, Herrn Ackermann, in
der 5. und 6. Klasse der Elly-Heuss-Knapp-Hauptschule, der erkannte, dass ich
während seines Unterrichtes mit einer akuten Blinddarmentzündung schnell ins
Krankenhaus musste. Er ist mit mir im Krankenwagen ins Krankenhaus gefahren und
hat mir die Hand gehalten, bis ich einer
Notoperation unterzogen wurde. Am Ende meiner Hauptschulzeit war ich sehr krank, ich hatte Nierenprobleme und
damit verbunden große Schmerzen, so dass ich oft nicht zur Schule gehen konnte.
Jugendfreundschaften Über unserer
Wohnung hat ein Vater mit seiner Tochter gewohnt, eine liebenswerte und
hilfsbereite deutsche Familie. Immer wenn ich mit den Hausaufgaben nicht
weiterkam, haben sie mir geholfen. Auch sonntags hat der Vater oft
gerufen: >>Auf Kinder, kommet,
esset mit uns<<. Diese
Gastfreundschaft vergisst man nicht. Uns gegenüber lebte eine freundliche,
etwas reichere deutsche Familie. Die Frau schenkte mir ein Fahrrad und
Rollschuhe, Dinge, die ihre fast erwachsenen Kinder nicht mehr benötigten und
über die ich mich sehr freute.
Mit der Zeit
sind immer mehr Migranten in unsere
Gegend gezogen, Italiener, Griechen, Türken. Die deutschen Kinder und die
Kinder mit Zuwanderungsgeschichte spielten problemlos miteinander auf der
Straße
10 Jahre bei Telefunken Nach meinem
Hauptschulabschluss wollten meine Eltern nicht, dass ich arbeite, da ich sehr
krank war. Ich ergriff aber mehrere
Gelegenheitsjobs, um mir meine vielen Sonderwünsche zu erfüllen. Eine Nachbarin,
die mich sehr gerne hatte und mich verwöhnte, arbeitete bei Telefunken. Ich
wollte auch so viel Geld verdienen wie sie, aber es war sehr schwer einen Job
in dieser Firma zu finden. Meine Nachbarin hat sich für mich eingesetzt und ich
habe ein Jahr lang wöchentlich den Personalchef genervt, bis ich endlich eine
Stelle dort hatte.
Sehr
beglückt war ich, als ich auf meinem Kontoauszug sah, dass ich als ersten Lohn 1395
DM überwiesen bekam. Ich fragte meinen Vater: „Was macht man mit so viel
Geld?“. Verständnislos antwortete er: „Wie bitte? Das kommt gleich auf das
Sparbuch.“ Ich bin ein Mensch, der gerne Geld ausgibt. Meine Eltern mussten
mich bremsen. Markenklamotten, Kosmetikerin, Friseur, teure Geschenke, alles
habe ich mir geleistet. Essen gehen in guten Lokalen war eine Leidenschaft von
mir. Der tägliche Treffpunkt mit meiner Freundin, die in einer Boutique
gearbeitet hat, war das ehemalige vornehme Cafe Noller. Hier haben wir unseren Kaffe
genossen und Eve, eine lange dünne
Zigarette, geraucht. Einfach nobel war das! Andere Frauen haben geheiratet und Kinder bekommen und nichts
erlebt. „Ich bin nur einmal jung, ich
will das Leben genießen“, war meine Devise. Ich konnte mir das alles leisten, weil ich bei Telefunken nach
jedem neuen Tarifabschluss mehr verdient habe. 1994 war diese schöne Zeit um,
da ich wieder sehr krank wurde. Ich habe gekündigt, weil ich lange Zeit nicht
in der Lage war, meinen Job auszufüllen. In den folgenden Jahren arbeitete ich
in einer Boutique, einer Bäckerei, im Altersheim, im Krankenhaus… Aber nirgends
verdiente ich so viel wie bei Telefunken.
Auch in Ankara hätte es interessante
Heiratskandidaten gegeben Mit 17 bin
ich alleine nach Ankara geflogen, um meine Großmutter und meine Tante zu
besuchen, die eine Tochter hatte, die so alt war wie ich. Meine Verwandten wollten,
dass ich bei ihnen in der Türkei bleibe. Meine Tante gehörte zu den sog.
besseren Kreisen, da ihr Mann ein bekannter Rechtsanwalt war. Bei den
Kaffeekränzchen, die wöchentlich jeweils bei einer anderen Dame stattfanden,
wurden Pöstchen verschoben und Heiraten arrangiert. Bald hatte meine Tante eine
Stelle im deutschen Konsulat für mich, da ich gut Deutsch und Türkisch sprach
und eine deutsche Schule besucht hatte. Durch meine einflussreiche Tante
standen mir viele Wege offen. Sie hätte mich in ihre Gesellschaftskreise eingeführt, wo es bestimmt auch interessante
Heiratskandidaten gegeben hätte. Obwohl ich eine wunderschöne Zeit in Ankara
verbrachte, packte mich das Heimweh nach meinen Eltern.
Mein Vater
überließ mir die Entscheidung, wo ich mein zukünftiges Leben verbringen wollte.
Es war eine schwere, schicksalhafte Entscheidung: Ich kehrte zu meiner Familie nach Heilbronn zurück.
In meinem
Leben hatte ich mehrere gute Chancen,
ein erfolgreiches Leben zu führen. Man weiß aber oft nicht, welchen Weg man
gehen soll. Heute überlege ich mir manchmal, ob ich nicht falsche
Entscheidungen getroffen habe.
Ich schließe Freundschaft mit einem
jungen Deutschen Unsere
Straße war eine lustige Straße, in der viel passiert ist. Wenn ein Kameramann
das abgefilmt hätte, hätte es eine
spannende Telenovela gegeben.
Da ich viel
Respekt vor meinen Eltern hatte, habe ich nie vor Ihnen geraucht, sondern immer
nur heimlich am Fenster. Beim Rauchen fiel mir auch ein junger Mann auf, der uns
gegenüber mit seiner Familie frisch eingezogen war. Er machte auf dem Balkon
Späßchen mit einer jungen Frau, schaute aber trotzdem sehr intensiv zu mir
herüber. Ich dachte: „So eine Unverschämtheit, hat eine Freundin und „glotzt“
auf mich. Der tickt nicht richtig!“ Ich habe meine Zigarette weggeworfen und
bin ins Geschäft. Später habe ich erfahren, dass es seine Schwester gewesen
ist.
Am nächsten Tag rauche ich wieder am Fenster.
Er kommt auf den Balkon und starrt mich abermals sehr intensiv an.
„Langsam
wird er unverschämt“, dachte ich, rauchte und beachtete ihn nicht. Als ich ins
Geschäft ging, kam er zu mir die Straße rüber. „Bei mir wohnen lauter türkische
Leute. Um Gottes willen, die werden lästern. Was werden sie über mich denken?“,
schoss es mir durch den Kopf. „Hallo“, sagte er. „Ja, hallo, bitte schön“,
erwiderte ich. „ Ich möchte dich kennenlernen“. „Aber ich dich nicht“,
entgegnete ich wie im Film. „Warum soll ich dich kennenlernen, sag mir mal
einen Grund, warum?“ „O.K“, hat er geantwortet: „Warum gibst du mir nicht eine
Chance. Du siehst so nett und hübsch aus.“ „Weil du eine andere Kultur hast und
ich eine andere Kultur habe.“ „Ich möchte dich aber kennenlernen“, drängte er.
Ich wiederholte: Hier wohnen noch andere Leute. Geh, sonst lästern sie über
mich.“ Nach diesem Dialog bin ich in meine Spätschicht gegangen.
Wie so oft,
hat mich am nächsten Wochenende meine Freundin abgeholt. Wir gingen Eis essen
oder Kaffee trinken. Wir waren jung und wollten Leute kennenlernen. „Gib ihm
eine Chance“, war der Rat der Freundin, als ich ihr das Geschehene erzählte.
„Warum soll ich ihm wehtun? Meine Eltern sind eh dagegen“, entgegnete ich etwas
resigniert. Ich dachte, ich seh‘ eine Fata-Morgana, als ich ihn am Montag schon
wieder vor Telefunken angetroffen habe. Da schaffen doch viele türkische Leute,
die gerne lästern. „Hallo Nachbarin“, begrüßte er mich schüchtern. „Tickst du
nicht richtig! Ich geb dir die Hand, dann nimmst du gleich den ganzen Arm.“
„Komm, setz dich hin“, beruhigte er mich. Ich war in großer Eile: „Ich muss zum
Rathaus, mein Pass ist abgelaufen, sonst darf ich keine Stunde länger in
Deutschland bleiben“, entgegnete ich. Langer Rede kurzer Sinn: Wir sind mit
seinem Moped Richtung Rathaus gefahren.
Er musste einige Straßen vor dem Rathaus parken, da ich Angst hatte,
dass ich in ganz Heilbronn blamiert wäre, wenn mich die Türken, die im
Ausländeramt zu tun hatten, sehen würden. Heute ist das ganz anders, die Zeiten
sind moderner und liberaler geworden.
Da Marcel nicht
locker ließ und immer wieder in meiner Nähe auftauchte, habe ich ihm zum
wiederholten Mal meinen Standpunkt erklärt: „ Guck mal, hör mal zu! Ich bin
Ausländer. Ich habe nichts gegen Deutsche, ich bin doch hier aufgewachsen, ich
bin glücklich hier, aber ich habe einen anderen Glauben, eine andere Kultur. Du
suchst dir eine Deutsche, ich jemand von meinen Landsleuten, egal ob gut oder
schlecht, dann haben wir dieses Problem mit der Kultur und dem Glauben nicht.“
„Was hat unsere Liebe damit zu tun? Du bist wie eine Deutsche“, meinte er
verständnislos. Ich konterte: „Du gehst am Sonntag in die Kirche, da kann ich
nicht mitgehen.“Er widersprach: „Wir haben alle den gleichen Gott. Du musst ja
nicht in die Kirche gehen. Ich muss auch nicht.“ Ich hatte aber noch ein
wichtiges Argument auf Lager: „ Wenn ich sehe, wie die Deutschen sind, die
können mit der Freundin Hand in Hand herumlaufen, die können sich umarmen,
poussieren, alles vor allen. Das geht bei mir nicht. Weißt du, das wird dir
alles fehlen. Ich brauch keinen Freund, mit dem ich nur in die Disco gehen kann
und Händchen halten und morgen- tschüss. Ich will einen Freund, der für immer
bei mir ist.“ Dann habe ich mich über ihn ein bisschen lustig gemacht: „Schlaf
eine Nacht darüber, dann werden wir ja sehen.“ Ich dachte, dass ihm das alles
nicht passen würde, was ich gesagt habe. Da hatte ich mich aber getäuscht.
Feierlich versprach er mir: „Ich will, dass du meine Freundin wirst, für
immer.“ Jetzt habe ich nicht mehr nein
gesagt, da er mir wirklich gut gefallen hat.
Ich hatte Angst, von meinen Eltern
verstoßen zu werden Drei Jahre
lang habe ich mein Verhältnis mit meinem späteren Mann vor meinen Eltern geheim
gehalten, aus Angst, dass sie mich verstoßen würden. Nur meine beste Freundin
wusste anfänglich von unserer Beziehung. Danach habe ich es meinem Bruder
erzählt. In türkischen Familien
ist es üblich, dass ein Bruder auf seine unverheiratete Schwester aufpassen
muss, selbst wenn er einige Jahre jünger ist, wie das bei meinem Bruder der
Fall ist. Er hat die schockierende Nachricht aber relativ gut verarbeitet, da
er viele deutsche Freunde hatte und sich schon gut in die deutsche Kultur
eingelebt hatte. Seine Aufgabe war es nun, mit Hilfe seiner Freunde zu
überprüfen, ob Marcel ein „Schlawiner“ ist und eventuell „tausend Weiber“ hatte
oder ein geeigneter Ehepartner. Nach ausgiebiger Beobachtung hat er sein O.K.
gegeben. Die Familie meines späteren Mannes hat mich gleich herzlich willkommen
geheißen und mich nicht spüren lassen, dass ich Ausländerin bin. „Du bist jetzt
Schwäbin, du gehörst jetzt zu uns“, sagte eine Tante oft sehr gastfreundlich zu
mir
Es hatte
sich bei allen Nachbarn herumgesprochen, dass mein späterer Mann und ich ein
Paar waren. Sie haben sich aber nicht getraut, es meinen Eltern zu erzählen,
aus Angst vor einer Katastrophe.
Wessen Freund ist mein Freund? 1989
verbrachte die Familie –wie jedes Jahr- den Sommerurlaub in der Türkei bei
unserer Familie. Marcel wollte unbedingt mit mir zusammen den Urlaub
verbringen, weshalb ihn mein Bruder nach langem Hin-und-Her als seinen Freund
ausgegeben hat. Als wir in Ankara ankamen, war die Mutter schon wieder
abgereist. Vater, der bereits sehr krank war, blieb meist einige Monate länger,
weil ihm das Klima in Ankara gut bekam. Mein Freund wurde mit großer
Herzlichkeit von meiner türkischen Familie aufgenommen. Niemand bemerkte
anfänglich die Täuschung. Nach einigen Tagen fragte mein Vater: „Junger Mann,
gefällt dir die Türkei?“ Mein Freund, der von den vielen neuen Eindrücken
überwältigt war, hielt mit Lob nicht zurück. „Dann muss ich dir ein türkisches
Mädchen suchen“, spornte mein Vater ihn begeistert an. Mein Bruder und ich schauten
uns nur an. Oma und deren Schwägerin hatten
jedoch sehr schnell Lunte gerochen: „Wir sind nicht dumm. Er guckt dich immer
so mit anderen Augen an. Er liebt dich!
“, sagte meine Oma eines Abends,
als ich mit ihr alleine auf unserem
großen Balkon saß. „Glaubst du, dass Vater mich hergibt?“, fragte ich sie
bange. „Lass uns das machen! Der Junge kommt aus gutem Hause“, beruhigte sie
mich. Ganz überzeugen konnten sie Vater nicht, aber das ist eine andere
Geschichte.
Nun war es meine Aufgabe, das
Geheimnis zu lüften. Als ich
wieder in Heilbronn war, habe ich Mutter über unser Verhältnis berichtet. Sie
hätten ihr Gesicht sehen sollen: „Tickst du nicht richtig! Das wird nicht
funktionieren. Was glaubst du, was dein Vater sagt?“ Meine schüchterne Antwort:
„Wir leben doch hier“, hat sie leider nicht beeindruckt. So richtig heftig
wurde es aber erst, als mein Bruder kam: „ Guck mal, was deine Schwester macht!
Schämst du dich nicht? Ist das Dankbarkeit?“ Ein bisschen gekränkt antwortete
er: „ Mein Gott, was soll ich machen? Soll ich sie fesseln? Ich habe den Jungen
überprüft. Er ist in Ordnung. Wenn deine Tochter einen Halunken heiratet, der
ein Scherenschleifer ist, ist dir das recht?“ „Das sage ich eurem Vater“,
empörte sich Mutter. „Das ist nicht mein Problem. Das ist dein Kind, nicht mein
Kind. Es ist meine Schwester. Ich habe meine Pflicht getan. Ich habe auf meine
Schwester immer aufgepasst. Meine Schwester war immer anständig, sie hat mit
Jungs nicht das und das gemacht.“
Der
spannendste Moment war aber, als Papa vom Urlaub zurückkam. Ich ging sofort ins
Zimmer und rauchte eine Zigarette. Meine Hände zitterten. Mutter überraschte
Vater umgehend mit unseren Heiratsabsichten. „Gül, komm sofort heraus“, drohte
die Stimme meines Vaters. „Herr hilf mir, jetzt bist du dran“, habe ich
gebetet. Dann bin ich gekommen. Meine Eltern sitzen auf der Couch, ich im
Sessel, ganz alleine. Ich fühl mich schuldig: „Ja, Papa!“ „Ich habe keine guten
Sachen über dich gehört“, begann er seine Anklage. „Was meinst du damit, Papa.
Ich weiß nicht, was ich angestellt habe. Ich bin immer deine brave Tochter
gewesen. Ich habe doch alles für euch getan“, mit dieser Tour versuchte ich ihn
zu beruhigen. „ Ja, ja, aber die Vögel haben in mein Ohr ganz andere Sachen
gezwitschert. Ist das wahr?“ Ich war nun darauf vorbereitet, dass die Eltern
mich schlagen und rauswerfen würden. „Du hast 24 Stunden Zeit. Pack dein Zeug,
alles, was dir gehört. Bitte geh!“, drohte Vater und setzte seine
Schimpfkanonade noch lange fort. „So Papa, bist du fertig? Wenn ich schon gehe,
darf ich dann ein paar Wörtchen sagen?“ „Ja, aber sei bitte nicht so frech und
respektlos“, was ich bestimmt nie gewesen bin. Jetzt legte ich los: „ Ihr habt
mir Liebe gegeben. Ihr habt mich erzogen und ich habe immer alles gemacht, was
ihr wollt. Kein Vogel bleibt in seinem Nest, alle Jungvögel fliegen fort. So
werde auch ich dieses Haus verlassen, aber nicht nur mit meinem Koffer, sondern
mit meinem weißen Kleid. Und deine Aufgabe, Papa, ist es, mich in der Hochzeit zu begleiten, auch wenn du kein Wort mit mir
redest.“ Papa schimpfte noch eine ganze Zeitlang, brachte er es dann doch nicht übers Herz, mich zu verstoßen. Da ich
seine Prinzessin war, willigte er schweren Herzens in die Hochzeit ein.
Hochzeit
unter schlechtem Stern Bei den Hochzeitsvorbereitungen und der Hochzeit lief
alles schief.
Es begann damit, dass es viele Wochen dauerte, bis aus
der Türkei die notwendigen Papiere für das Standesamt kamen.
Wenn Türken heiraten, werden alle Freunde und Verwandte
eingeladen. Es wird gesungen und getanzt, man feiert ausgelassen und fröhlich.
Oft kommen bis zu 1000 Menschen zusammen. Ich wünschte mir eine
Hochzeitsgesellschaft mit mindestens 500 Gästen. Das war meinen Schwiegereltern aber zu viel und so
einigten wir uns auf 200, was viele Freunde und Verwandte beleidigte.
Ich war total überfordert, da ich die Hochzeit alleine
vorbereiten musste und die Ereignisse sich überschlugen. Unser Trauzeuge, ein
Freund meines Bruders, war ohne unser Wissen in den Skiurlaub gefahren. Nur mit
großer Überredungskunst gelang es mir, ihn dazu zu bringen, seinen Urlaub zu
unterbrechen und seiner Pflicht nachzukommen.
In der Nacht vor unserer Trauung hatte mein Bruder einen
Unfall mit seinem großen Mercedes, der als Auto für das Brautpaar vorgesehen
war. Woher sollte ich Ersatz bekommen? Ich benötigte genau diesen Autotyp, weil
der Blumenschmuck für dieses Auto bereits gerichtet und mein Kleid so voluminös
war, dass ich in kein kleineres Auto gepasst hätte. Ein türkischer Autohändler
war in letzter Sekunde der Retter in Not.
Mein Bräutigam und ich waren bereits Tage vor unserer
Hochzeit krank. Der Hausarzt musste Marcel vor unserer Trauung eine Spritze
geben, damit sein Fieber gesunken ist
und er das Fest durchstehen konnte. Ich selbst erlebte alles wie im Nebel. So
richtig aufgeschreckt bin ich aber, als der Koch die riesige Hochzeitstorte
fallen ließ, die meine Schwiegermutter so liebevoll gestaltet hatte. Traurig
blickte ich auf das Häufchen Matsch. War das ein böses Omen? Unsere Flitterwochen verbrachten wir
weitgehend krank und elend im Bett eines
Hotels im Schwarzwald. Ich hatte mir dieses Hotel ausgesucht, da ich den Schnee
so liebe.
Zu
viele Schicksalsschläge In den kommenden Jahren ist in meiner Familie und meiner
Ehe vieles passiert, was ich nicht verkraftet habe. 2007 wurde meine Ehe nach
17 Jahren geschieden. Nicht unsere unterschiedlichen Kulturen oder der Glaube
waren die Ursache des Scheiterns unserer Ehe, sondern die katastrophale
finanzielle Situation, in die uns mein Mann gebracht hatte. Meine Wohnung und
alles habe ich verloren. Auch mein sehnlichster Wunsch, ein eigenes Kind,
konnte nicht erfüllt werden. Es wäre einfach
unverantwortlich gewesen, in diesem
Desaster ein Kind zu bekommen. Wie mein eigenes Baby habe ich jedoch
Gwenda, meine Rottweiler-Hündin, geliebt. Immer wieder hat sie mir durch ihre
grenzenlose Treue Kraft gegeben, meine Schicksalsschläge zu verkraften. Nach
unserer Trennung lebte Gwenda aus Platzgründen bei Marcel. Zwei Monate später ist Gwenda gestorben. Sie
konnte ohne mich einfach nicht leben.
Heute zwingen mich schwere Krankheiten immer wieder in
die Knie.
Halt habe ich in meinem Glauben
gefunden Schon als
Kind hatte ich ein inniges Verhältnis zu meinem Herrn. Wenn ich Probleme hatte
oder einfach nur dankbar war, redete ich in Gedanken mit ihm. Die Kraft des
Gebetes habe ich aber erst kennengelernt, als meine Freundin mir auf meine
Bitten hin ein kleines Gebetsbuch aus der Türkei mitgebracht hat. Fast magisch
hat mich die 36. Sure „Das Herz des Korans“ angezogen. Sobald ich diesen Text gebetet
hatte, ging es mir besser. Heute ist dieses kleine Gebetsbuch durch seinen
häufigen Gebrauch ganz zerfleddert. Ich bete fünfmal am Tag und halte die
Fastengebote ein, so wurde mein Leben leichter. Ich bin froh, dass ich den Weg
zu Gott gefunden habe.
Weitererzählt von Christel
Banghard-Jöst
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