Tülay Eser, geb. 1975 in der Türkei
Übersicht Erzählwerkstatt
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Ohne Fleiß kein Preis
Meine Kindheit Geboren bin ich in Erzincan-Binköcköy, einem an einem
Berghang gelegenen Dorf in Anatolien. Als mein Großvater gestorben war,
übernahm mein Vater die Verantwortung
für seine Geschwister. Ich wuchs in sehr bescheidenen Verhältnissen auf. Wir, d.h. meine
fünf Geschwister, meine Eltern, zwei Onkel und drei Tanten bewohnten ein kleines Haus mit nur zwei Zimmern. Bis ich acht
Jahre alt war, musste das Wasser von einem Dorfbrunnen geholt
werden. Erst später legte einer meiner Onkel eine Wasserleitung von einer
Quelle zu unserem Haus. Da es keinen Strom gab, mussten wir uns bei Dunkelheit mit Öllampen behelfen. Trotz einfachem Leben
verbrachte ich eine glückliche Kindheit. Ich hatte viel Freiheit und
wurde von den Erwachsenen verwöhnt. Spielsachen wurden nicht gekauft, sondern selbst gebastelt. Wir waren Selbstversorger. In einem Nebengebäude unseres
Hauses befand sich ein Stall mit ein paar Kühen. Angebaut waren ein Raum für die Küche und ein Zimmer,
in dem die männlichen Mitglieder unserer Familie schliefen. Um unser Haus herum gab es einen
Gemüsegarten und auf einem gepachteten Acker bauten wir Weizen an, der dann
mit einer Sense geerntet wurde.
Schulbesuch Der Schulbesuch in der Grundschule war kostenlos, doch es
fiel meinen Eltern schwer, das Geld für die Schuluniform und die
Lernmaterialien aufzubringen. Unser Lehrer war sehr streng. Er bestrafte mich
mit Schlägen auf die Finger mit einem Lineal, wenn er mich mit
Freundinnen im Freien spielen sah, anstatt im Haus Hausaufgaben zu machen und
zusätzliche Aufgaben zu lösen. Ich besuchte die Schule bis zur fünften Klasse. Da war ich zwölf Jahre alt. Ein Jahr später zogen wir
in den europäischen Teil von
Istanbul. Die Umstellung, plötzlich in einer riesigen Stadt statt in einem kleinen Dorf zu wohnen, fiel mir sehr
schwer. Ich traute mich nicht, in Istanbul zur Schule zu gehen und blieb
zu Hause. Außerdem war es meinem Vater nicht wichtig, dass ich
weiterhin die Schule besuchte. So endete meine Schullaufbahn mit 13 Jahren.
Ausbildung zur selbstständigen Friseurin Ein Jahr später arbeitete ich ein Jahr lang als Praktikantin
in einem Friseursalon. Einmal, beim Teekochen, verbrühte ich mir den Fuß.
Doch das kümmerte meinen Chef nicht. Er rief weder einen
Krankenwagen noch brachte er mich
zum Notarzt. Drei Monate dauerte es, bis die Wunde einigermaßen verheilt war.
Nach diesem traumatischen Erlebnis arbeitete ich mit einer meiner Schwestern fast ein Jahr in einer Schneiderei , wo ich aber nicht bleiben wollte. Bei einer anderen
Schwester arbeitete ich dann vier Jahre als angelernte Friseurin. Als
aber der türkische Staat ein Ausbildungsprogramm für Jugendliche
auflegte, die arbeitslos waren oder
keine richtige Ausbildung hatten, ergriff ich die Gelegenheit und ließ mich drei Monate lang in den
Theoriefächern des Friseurhandwerks
ausbilden. Danach stellte mir einer meiner Onkel in dem Haus, in dem wir
wohnten, einen Raum zur Verfügung, den ich als Friseursalon einrichten
konnte. So war ich schon mit 18 Jahren eine selbstständige
Geschäftsfrau und trug die Verantwortung für alles, was zum Führen eines
Friseurgeschäfts gehört. Das Geschäft lief gut. Nebenher bildete ich mich in
verschiedenen Kursen in meinem Beruf weiter.
Erwerb der deutschen
Sprache 1998 lernte ich meinen späteren Mann kennen, der in Istanbul seinen Urlaub verbrachte, und bald war uns klar,
dass wir hei- raten wollten. Mein Mann war schon im Alter von drei Jahren nach Deutschland gekommen. Sein Großvater gehörte zu den ersten
Gastarbeitern aus der
Türkei und ließ sich in Karlsruhe nieder. Da mein Mann in Deutschland
aufgewachsen und verwurzelt war, war es klar, dass wir uns in Deutschland eine
gemeinsame Existenz aufbauen wollten. Natürlich fiel es mir nicht leicht, meine
Heimat zu verlassen und meinen Beruf aufzugeben. Lange noch schwankte ich, ob dies
eine gute Entscheidung war. Aber mein Mann machte mir Mut. Um mich auf
meine neue Umgebung
vorbereiten, lernte ich vor der Ausreise im Selbststudium Deutsch, so dass ich in dieser Sprache das
Notwendigste sagen konnte. In den ersten fünf Monaten in Deutschland blieb ich
zu Hause und half mit großem Spaß bei der Renovierung unserer Wohnung. Ich war beeindruckt von den
deutschen Baumärkten, die es so in der Türkei noch nicht gab. Dann besuchte ich einen dreimonatigen Intensivkurs in
Deutsch, der vom Arbeitsamt bezahlt wurde. Ich verlängerte den Kurs um zwei Monate auf eigene
Kosten. Mein Mann war mir eine große Unterstützung beim Deutschlernen. Er verhielt sich pädagogisch sehr
geschickt. Um meine Deutschkenntnisse zu verbessern, sahen wir im
Fernsehen nur deutsche Programme. Türkische Programme waren in der ersten
Zeit für mich tabu. Außerdem gingen wir oft ins Kino und sahen
deutsche Filme, die mein Mann während der Vorstellung übersetzte. Natürlich
gingen wir nur zu solchen Zeiten ins Kino, in denen wenig Publikum zu
erwarten war. Jetzt komme ich sprachlich gut zurecht. Vor allem scheue ich mich nicht mehr, Fehler zu machen.
Leben in Deutschland Ich lebe jetzt schon 16 Jahre in Deutschland und bin
inzwischen Mutter von drei Kindern. Das
jüngste Kind ist drei und besucht den Kindergarten; die beiden älteren Kinder sind 10 und 12 Jahre alt.
Vor allem die zwölfjährige Tochter spricht sehr gut Deutsch. Zur Zeit ist natürlich nicht daran zu denken, in meinem Beruf zu arbeiten. Wenn mich meine
Kinder nicht mehr brauchen, würde ich gerne in meinen Beruf
zurückkehren. Ich habe in Deutschland als Türkin noch kaum schlechte
Erfahrungen gemacht. Die Menschen begegnen mir offen und freundlich und
wir sind von netten Nachbarn umgeben. Eine Sache, die mir nicht so
gefiel, war die Tatsache, dass ich als Türkin den zweiten Deutschkurs
selbst bezahlen musste, während die Vertreter anderer Nationalitäten
diesen Nachteil nicht hatten. Jetzt, im Zeichen der Integration, hat
sich dieser Zustand glücklicherweise gebessert.
Zugehörigkeit zur alevtischen Glaubensgemeinschaft Natürlich verfolgen wir im Fernsehen die fremdenfeindlichen Demonstrationen in einigen deutschen Städten. Wir persönlich
spüren aber keine Ausgrenzung. Vielleicht
hängt dies auch damit zusammen, dass wir Aleviten sind. Die Aleviten leben überall in der Türkei,
die meisten jedoch in Anatolien. Etwa 15% der Bevölkerung in der Türkei
zählen zu dieser
Religionsgemeinschaft. Die alevitische Religion ist liberal. Männer und
Frauen sind gleichberechtigt. Die Frauen tragen in der Regel kein Kopftuch. Niemand hat die Verpflichtung, etwas
glauben zu müssen. Die Aleviten wollen die Menschlichkeit und das Zusammenleben aller Menschen fördern. Nächstenliebe und
Hilfsbereitschaft stehen im Zentrum dieser Religion. Die Aleviten beten
nicht in Moscheen, sondern in
Gebetsräumen und legen den Koran nicht
wörtlich aus. Da sie auch die Scharia ablehnen, werden sie bei den Sunniten – etwa 80% der Türken sind sunnitisch – als
nicht gläubig angesehen. Der
türkische Staat hat die Aleviten bis heute nicht als religiöse Minderheit anerkannt.
Was bringt die Zukunft? Ich kann mir noch nicht so recht vorstellen, wie und wo ich
später leben werde. Ich könnte mir vorstellen, mein Leben abwechselnd in
Deutschland und an einem am Meer gelegenen Ort in der Türkei zu verbringen. Aber ich weiß nicht, was die
Zukunft bringen wird und welche Entwicklung meine Kinder nehmen werden.
Die Lebensgeschichte wurde von Rudolf Holzwarth weitererzählt
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