Türkei


Zakar Ursan, Armenien, geb. 1957 in der Türkei

 

Übersicht Erzählwerkstatt

Zacharias, der Armenier


Mein richtiger Name wäre eigentlich  Ursanian. Dieser Namen musste aber „eingetürkt“ werden, um in Istanbul als Armenier leben zu können.

Meine Vorfahren wurden Opfer des Völkermordes an den Armeniern

Mein Großvater kam aus Ostanatolien, aus der Gegend des Van-Sees, der siebenmal so groß wie der Bodensee ist. Die Armenier bewohnten als indogermanische Ureinwohner die Regionen von Ostanatolien bis zum Kaspischen Meer, schon bevor die Römer ihr Weltreich errichteten. Im Laufe der Geschichte gab es  viele Pogrome gegen die Armenier. Der Höhepunkt der Verfolgung, Vertreibung und Ermordung der Armenier fand aber zwischen 1915 und 1923 statt. Historiker schätzen die Zahl der Opfer bis zu 1,5 Millionen.

Mein Opa musste als Vierzehnjähriger erleben, wie seine Eltern in dieser Zeit verschleppt und später an einem unbekannten Ort ermordet wurden. Kurdische Nachbarn versteckten ihn  und schickten ihn bei Nacht und Nebel mit einem  Kindertreck nach Istanbul, wo er bei Verwandten untergebracht wurde. Da es in der Türkei zu dieser Zeit noch keine Meldepflicht gab, konnten viele Armenier, welche die Verfolgung überlebten, in Istanbul untertauchen. Mein Großvater war durch diese schrecklichen Erlebnisse so traumatisiert, dass er bis zu seinem Lebensende jeden Abend davon erzählte.

 

Kindheit in Istanbul

Mannik, meine Mutter, und mein Vater Kirkor wurden beide in Istanbul geboren, haben sich dort kennengelernt und geheiratet.

Sie haben außer mir noch zwei Söhne zur Welt gebracht: Asadur, der noch in der Türkei geboren wurde, und Gaspar, der in Deutschland zur Welt kam.

Mein Vater besaß eine kleine Schneiderei, die aber nicht viel Geld einbrachte, da es oft vorkam, dass seine Kunden nicht bezahlten. Er hatte  keine Möglichkeit, sich gegen diesen Betrug zu wehren. In unserem Wohngebiet, Ortaköy, lebten Armenier und Türken ohne Konflikte zusammen. Aber in anderen Gegenden fanden immer mal wieder Pogrome gegen Armenier statt. Spannungen lagen oft in der Luft. Wir Armenier konnten uns nicht gegen Menschenrechtsverletzungen auflehnen, sondern mussten immer ruhig bleiben und kuschen.

 Es gab Tage, an denen wir nichts zu essen hatten. Meine Mutter musste dann Nachbarn um Essen für ihre Kinder bitten. Aber trotz Hunger hatten wir eine schöne Kindheit in unserem Viertel. Wir lebten in einem wunderschönen, großen alten Herrschaftshaus, ganz aus Holz, mit Marmortreppe, einem Brunnen im Keller, mit Plumpsklo und Ofenheizung. Verwandte hatten es erworben und wir durften darin wohnen. Gekaufte Spielsachen gab es bei uns nicht. Alles, was wir zum Spielen brauchten, haben wir uns selbst gebastelt. Beliebt waren Pfeil und Bogen, Einkaufsläden aus Lehm und fahrbare Untersätze aus Dosen. Unsere Vorschulzeit spielte sich meist auf der Straße im Lehm ab. Wer das überlebte, hatte ein ausgezeichnetes Immunsystem, von dem ich heute noch profitiere.  Sehr beliebte Spielplätze  waren auch der jüdische und der griechische Friedhof, die sich in unmittelbarer Umgebung von unserem Haus befanden. Sie waren ein Paradies für Kinder, denn keine Umzäunung hinderte ihre Spiele. Es klingt makaber, aber besonders gefreut haben wir uns auf die Beerdigungen der Griechen, die wir nie versäumt haben. Denn es war Brauch, dass alle Trauergäste eine köstliche Süßspeise bekamen.

Einschulung in Istanbul (1963)

Bevor ich nach Deutschland kam, bin ich in unserer armenischen Schule eingeschult worden. Armenische Schulen sind in der Türkei meist an die armenischen Kirchengebäude  angeschlossen. Armenier finanzieren ihre Schulen selbst und dürfen diese auch verwalten. Es ist aber Gesetz, dass der Rektor immer ein Türke sein muss, damit der Staat die Kontrolle über diese wichtige Instanz behält. Außerdem hängt heute noch an jedem Schulgebäude die türkische Fahne, in den Klassenzimmern das Foto von Cemal Atatürk.  Jeden Morgen müssen die Schüler aufstehen und die türkische Nationalhymne singen. Erst bei einer späteren Reise in meine Heimat ist mir der Schriftzug aufgefallen, der über allen Schulpforten prangt: „Jeder kann stolz sein, sich Türke nennen zu dürfen“. Diesen für Armenier provokanten Satz habe ich aber 1963 noch nicht verstanden. Traurig war ich, als ich diese Schule nach wenigen Monaten verlassen musste, um mit meinem Vater nach Deutschland zu ziehen.

Emigration des Vaters (1963)

Anfang der 60er Jahre wurden von deutschen Firmen Arbeitskräfte in der Türkei angeworben. Viele Nachbarn aus Oktaköy nahmen das Angebot an. Voraussetzung für einen Job war aber, dass der Bewerber unter 40 Jahre alt war. Da mein Vater diese Altersgrenze bereits um einige Jahre überschritten hatte, aber sehr fit war und ein jugendliches Aussehen hatte, konnte er sein Alter bei der Anwerbung etwas reduzieren. Als Schneider bekam er in der Zwirnerei Ackermann sofort eine Stelle. Vermutlich dachte der Personalchef, Vater könne gut mit Garn umgehen. Mit anderen Gastarbeitern lebte mein Vater nun in einem Wohnheim in Sontheim und schickte uns jeden Monat Geld, damit wir überleben konnten. Wochenlang hörten wir oft nichts von ihm, da die Post das einzige Kommunikationsmittel war. Telefonanschlüsse existierten in unserer Nachbarschaft noch nicht.

„Post ist da“, riefen die Empfänger von Briefen laut über Häuserzeilen hinweg, wenn Post aus Deutschland kam. Die Frauen, deren Männer in Deutschland arbeiteten, ließen alles stehen und rannten, so schnell es ging, in das Haus, aus dem das Rufen kam. Die Briefe richteten sich nämlich meist nicht nur an die eigene Verwandtschaft, sondern enthielten auch heißersehnte Grüße und Infos für mehrere  getrennte Familien.

Aufbruch in ein unbekanntes Land

Nach einem dreiviertel Jahr wusste Vater, dass er in Deutschland bleiben wollte, aber nicht ohne seine Familie. Er kam mit der Arbeitserlaubnis für Mutter nach Istanbul und wollte seine Familie in seine neue Heimat abholen. Mutter konnte nicht mitfahren, da sie wegen eines tragischen Todesfalls in der Verwandtschaft zurückbleiben musste. 

Die dreitägige Zugfahrt von Istanbul nach Heilbronn war eine Odyssee, die ich nie vergessen werde. In Zügen, die mit Menschen überfüllt waren, die in der BRD Arbeit suchten, saßen wir dicht gedrängt im Flur auf unseren Koffern und dösten vor uns hin. In Eiseskälte verbrachten wir die Nächte auf den Bahnsteigen der Umsteigebahnhöfe in Belgrad oder München, immer in der Angst, den Anschlusszug zu verpassen.

Leben in einer düsteren Kellerwohnung

Vater hatte für uns  in der Steinstraße zwei Zimmer in einem Keller gemietet, ohne Küche und Toilette. Irgendwo gab es eine Kloschüssel. Gegenüber unseren Zimmern befand sich ein Holzverschlag, in dem die anderen Hausbewohner ihren Krempel aufbewahrt hatten. Mein Bruder und ich blieben alleine in der tristen Umgebung, wenn mein Vater zur Arbeit ging. Vater war kaum zuhause, da er so viele Überstunden wie möglich machte, um etwas Geld anzusparen. Eine türkische Frau, die im Haus wohnte, hat sich ein bisschen um uns gekümmert und Essen gebracht.

Ich war so verunsichert, dass ich mich nicht vor das Haus getraut habe, in der Angst, mich zu verlaufen. Ich konnte die Sprache nicht und somit niemand sagen, wer ich bin, wo ich wohne und was ich wollte. So habe ich die Türe in den Garten nur kurz geöffnet, ein bisschen rausgeschaut und dann bin ich wieder rein ins Haus. Das ging einige Wochen so, für mich als Kind eine endlose Zeit.  Unsere Wohnung empfand ich quasi ein Knast. Wir hatten kein Radiogerät, keinen Plattenspieler, kein Fernsehgerät- nichts. In dieser Kellerwohnung saßen wir fest.

Noch heute bekomme ich Panik, wenn ich an einen Einkaufsbummel denke, der so schön an Vaters Hand begonnen hatte. Nach einem Einkauf im Kaufhaus Merkur wollte mein Vater noch Lebensmittel im „Kaiser“ besorgen. Vater hat mich auf dem Gehweg mit der vollen Plastiktüte abgestellt und mich angewiesen, auf ihn zu warten, damit er nicht so viel schleppen musste. Plötzlich war mein Vater weg. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war und ich  hatte keine Möglichkeit mich zu verständigen. Vater kehrte nach den bestimmt längsten zehn Minuten meines Lebens wieder zurück und ich habe Tränen der Erleichterung geweint. Die Erinnerung an diese Situation ist bis heute präsent.

Keine Freundschaft ohne gemeinsame Sprache

Mein erster Kontakt zu Deutschen war ein Kind, das direkt neben unserem Haus wohnte und etwas älter war als ich. Wir haben uns immer mal wieder gesehen, wenn ich kurz in den Garten ging. Sobald es mich anfänglich ansprach und versuchte, mir ein kleines Match-Box- Auto durch den Zaun herüberzureichen, bin ich meist wie ein scheues Tier geflüchtet.  Mit der Zeit fasste ich Vertrauen zu dem Jungen und wir spielten zusammen, aber ohne sprachliche Kommunikation kann sich eben keine Freundschaft entwickeln.

 

Schulbesuch in Deutschland

Nach drei Wochen kam Mutter zu uns nach Heilbronn, was mir wie Monate vorkam. Ich hatte vor Sehnsucht zu meiner Mutter das Zeitgefühl völlig verloren. Umgehend wurden wir bei den Behörden angemeldet und mussten nun die deutsche Schule besuchen. Da ich einer der ersten ausländischen Schüler in der Silcherschule war und die deutsche Sprache nicht verstand, wussten die Lehrer nicht, was sie mit mir anfangen sollten. Zwar konnte ich den Text „Lotte und Hans“ buchstabierend lesen, hatte aber keine Ahnung, was ich da las. Meine hilflosen Lehrer setzten mich  in eine Bank und ließen  mich weitgehend in Ruhe. Nur der Name Zakar war ihnen zu fremd. Sie fragten, wie er auf Deutsch hieße. Da ich das nicht wusste, wurde ich  Zacharias genannt. Auch auf meinem Zeugnis steht heute noch Zacharias Russan, statt Zakar Ursan.

Schulschwänzen aus Angst zu versagen

Oft habe ich die Aufgabenstellungen der Lehrer nicht erfasst, da ich mindestens bis in die vierte Klasse viele Redewendungen und Ausdrücke im Deutschen nicht verstehen konnte. Die Lehrer haben von mir gefordert, was sie von anderen Kindern auch gefordert haben. Es war mir aber nicht möglich, diese Leistung zu erbringen.

Als ich in der vierten Klasse die Aufgabe bekam, einen Aufsatz, eine Nacherzählung, zu schreiben, reagierte ich panisch, da ich nicht wusste, was ich machen sollte, und mich nicht traute, den Lehrer zu fragen. Ich bildete mir ein, dem Stoff nicht gewachsen zu sein,  und befürchtete, dass ich mich maßlos vor der Klasse blamieren würde. Also schwänzte ich mindestens drei Wochen lang den Unterricht. Meine Eltern bemerkten das nicht, weil sie jeden Morgen vor uns zur Arbeit gingen und wir uns selbstständig organisieren mussten. Pünktlich verließ ich das Haus, setzte mich in den Bus und habe mich dann in der Stadt herumgetrieben. Zwei Blaue Briefe von der Schule konnte ich abgefangen, beim dritten bin ich dann aufgeflogen, da ihn meine Klassenlehrerin selbst zu unserer Hausbesitzerin gebracht hat und diese bat, den Inhalt meiner Mutter zu erklären. Ich muss nicht erwähnen, dass ich am nächsten Tag wieder ordnungsgemäß die Schule besucht habe. Meine Lehrer forschten mit Hilfe eines türkischen Übersetzers nach dem Grund, weshalb ich geschwänzt hatte und erkannten mein Problem. Nach dem Unterricht rief mich mein Deutschlehrer zu sich und erklärte mir langsam und ausführlich, wie ich die Nacherzählung gestalten sollte. Ich verstand sofort, dass ich den vorgegebenen Text lediglich Abschnitt für Abschnitt zusammenfassen musste. Auf einmal hatte ich richtig Lust darauf, meine Hausaufgabe zu machen, da ich bemerkte, dass ich sie gut bewältigen konnte. Vermutlich hat der Lehrer mit der Klasse über meine Probleme gesprochen, jedenfalls haben alle applaudiert, als ich in der nächsten Deutschstunde meinen Aufsatz vorgelesen habe. Ab diesem Zeitpunkt war das Eis gebrochen und meine Schulängste waren verschwunden.

Häufiger Schulwechsel durch Umzug

Da meine Eltern häufig umgezogen sind, war ich gezwungen, innerhalb des Stadtgebietes  Heilbronn viermal die Schule zu wechseln, was für mich jedes Mal eine Tragödie war  Als ich die Reinölschule verlassen musste, habe ich viele Nächte lang geweint. Das Heimweh kam immer nachts. Vor Trauer, Schmerz und Heimweh war ich psychisch am Ende. Meine Mutter saß die ganze Zeit über liebevoll an meinem Bett, hat mich getröstet und mir Mut zugesprochen. Ob ich ohne sie diese Krise ohne Schaden überwunden hätte, weiß ich nicht. Meine Eltern haben sich in unsere Schulangelegenheiten nicht eingemischt. Schule war allein unsere Sache. Sie konnten uns nicht fördern und kontrollieren, da sie aus einer ganz anderen Kultur kamen, die deutsche Sprache nur schlecht beherrschten und durch ihren Job sehr gefordert waren. Was aber ohne ihr Urvertrauen und ohne ihre bedingungslose Liebe in allen Situationen aus uns geworden wäre, kann ich nur ahnen.

Dank Fußball verlief der letzte Schulwechsel problemlos

Die Gerhart-Hauptmann-Schule war die letzte Hauptschule, die ich besucht habe. Wieder hatten die Eltern eine neue schönere Wohnung gefunden und am Ende der sechsten Klasse stand unser Umzug vor der Tür. Meine Eltern machten sich keine Gedanken darüber, welche psychischen Auswirkungen das für uns hatte. In meinem alten Umfeld, in Böckingen, hatte ich Wurzeln geschlagen, Vertrauen zu Lehrern und Mitschülern entwickelt und vor allem jeden Tag im Verein oder auf dem Platz mit Freunden Fußball gespielt. Und das alles  musste ich nun wieder aufgeben. Völlig verzweifelt stand ich zu Schuljahresbeginn zusammen mit  zwei deutschen Schülern vor dem Sekretariat meiner neuen Schule. Wir wurden abgeholt, in die Klassen gebracht, wo unser neuer Klassenlehrer, Herr Böhringer, ein Fußballfan, gleich zu Beginn fragte, ob jemand im Verein Fußball spiele. Freudig habe ich mich gemeldet und beim nächsten von Herrn  Böhringer organisierten Spiel gegen die 9. Klasse spontan vier Tore geschossen. Plötzlich war ich der Klassenheld und in die Klasse integriert. Die beiden Schüler, die zusammen mit mir in die Klasse gekommen sind, wurden meine besten Freunde, auch mit anderen Klassenkameraden treffe ich mich heute noch gerne.

Ohne spezielle Sprachförderung kein fehlerfreies Schriftdeutsch

Ich war ein Sport-Ass und in Fächern, die mich interessiert haben, war ich gut, aber der Rechtschreib- und Grammatikunterricht lief komplett an mir vorbei. In Diktaten und Grammatikarbeiten hatte ich immer eine Sechs, so dass ich meist  frustriert ein leeres Blatt abgab. Warum ich im Zeugnis dann doch immer in  Deutsch eine Vier bekam, ist vermutlich der Freundlichkeit der Lehrer zu verdanken, die mich mochten und fördern wollten. Mitte der 60er Jahre gab es in den Hauptschulen einen A- und B- Kurs. Im B-Kurs, den ich besuchte, wurde kein Englisch unterrichtet. Stattdessen fanden Förderkurse in Deutsch statt, die aber mein schriftliches Ausdrucksvermögen nicht förderten, da sie auf  deutsche Kinder ausgerichtet waren. Heute spreche ich ein akzentfreies Deutsch. Mein Sprechen unterscheidet sich vermutlich deshalb nicht von dem eines Deutschen, weil ich bis heute nur deutsche Freunde habe. Mich schriftlich auszudrücken, fällt mir aber sehr schwer, da ich die Rechtschreibung kaum beherrsche. Diskriminierungen habe ich in der Schule keine erfahren. Ich war einfach Zakar, der nicht besonders gut in Deutsch war.

Ferien in der Heimat

Im endlos wirkenden Treck nach Instanbul

In den großen Ferien besuchten wir in den 60er Jahren jedes Jahr unsere Verwandten in Istanbul. In einem endlosen Konvoi der Gastarbeiter, die alle in den Ferien in ihre Heimatländer wollten, fuhren wir oft Stoßstange an Stoßstange durch Österreich, Jugoslawien, Bulgarien in die Türkei. Wir wurden häufig Zeugen von grausamen Unfällen, die sich meist  ereigneten, weil die Fahrer übermüdet eingeschlafen waren. Dreieinhalb Tage in der Gluthitze eines überladenen Autos ohne Klimaanlage waren für uns Kinder die Hölle. Es stresste uns so sehr, dass wir zuweilen halluzinierten. Einmal brach mitten in Jugoslawien eine Achse unseres Autos wegen Überladung. Ein Bauer hat uns mit seinem Traktor auf seinen Hof abgeschleppt und die ganze Nacht an unserem Auto gearbeitet, bis es wieder lief. Wir durften im Haus übernachten und die Bäuerin ließ es sich nehmen, uns zu bekochen. Solche Gastfreundschaft gibt es heute wohl nicht mehr. Die jugoslawischen Polizisten dagegen waren oft nicht so freundlich. Sie zockten die Durchreisenden ab, wann immer es ging. Viele Autofahrer wurden beschuldigt, Verkehrsregeln nicht beachtet zu haben. Ihnen wurde der Pass abgenommen, der aber gegen Dinars wieder zurückgekauft werden konnte. Anders verhielten sich die Bulgaren. Hier bestand ein absolutes Verbot, Kontakt mit der Bevölkerung aufzunehmen, weshalb die Fahrzeuge von der bulgarischen Polizei durch die Ortschaften eskortiert wurden. Bei Stau  wurden die Ortschaften abgeriegelt, bis der Stau sich wieder aufgelöst hatte. So groß war die Angst der Regierung, dass ihre Landeskinder mit Ausländern kollaborieren könnten.

Endlich wieder in der Heimat

Erleichterung und ein starkes Glücksgefühl kamen erst auf, sobald wir die türkische Grenze passiert hatten. Die Prozedur dauerte in der Regel fünf bis sechs Stunden: Warten, Papiere ausfüllen, Auto ausräumen usw. Falls jemand vergaß, Bakschisch in den Pass zu legen, verlängerte sich der Grenzaufenthalt dramatisch.                                   

Todmüde sind wir in Ortaköy angekommen, aber an Schlafen war nicht zu denken. Mindestens eine Stunde knuddeln und küssen war bei unserer Ankunft die Regel. Hier habe ich mich wohlgefühlt, weil die Familienbündnisse der Armenier sehr eng sind. Ich hörte meine Muttersprache, bekam mein Lieblingsgericht, Linsensuppe mit Minze, serviert, atmete die vertrauten Gerüche ein und spielte mit meinen Freunden auf der Straße.

 Wichtig waren die Geschenke, unter deren Last unser altes Auto während der Fahrt sehr gestöhnt hat. Begehrt waren vor allem Pulverkaffee, Cremes, Shampoos  und Schokolade. Die Familie wohnte in einem großen vierstöckigen Haus, das von Opa, einem Maurer, eigenständig errichtet wurde. Unser Holzhaus stand nach unserem Wegzug eine Zeitlang lang leer, dann haben es Spekulanten angezündet, weil es denkmalgeschützt war.

Nach vier bis fünf Wochen ging es wieder zurück nach Heilbronn, im ächzenden Auto typisch türkische Lebensmittel, die damals noch nicht in den  Läden Heilbronns zu finden waren: Wassermelonen, Zucchini, Paprika, Aubergine, Gewürze, Tee, Käse.

Schwierige Berufswahl

Eigentlich wollte ich Fotograf oder Ornithologe werden. Mein Traum wäre es gewesen, berufsmäßig Vögel zu fotografieren und zu beobachten, was ich als Hobby sehr intensiv betrieb. Mein ganzes Zimmer war voller Vogelkäfige mit den unterschiedlichsten Vögeln. Stundenlang saß ich vor diesen Käfigen und beobachtete und fotografierte meine Lieblinge, bis es meinen Eltern zu viel wurde und sie mich anwiesen, alle Tiere zu entfernen. Nun begann der Ernst des Lebens und ich musste mich um eine Lehrstelle bemühen. Dem Berufsberater nannte ich meine Zielvorstellungen: Fotografie und Technik. „Aha, Elektriker“, meinte er.  Meinen Ausbildungsvertrag als Elektriker unterschrieb ich bei der Firma Köpf und Söhne in der Salzstraße. Die Firma war eine Tochter von der Agfa Gevaert AG, und da ich den Namen Agfa vom Fotografieren her kannte, dachte ich, in meinem zukünftigen Betrieb würden Fotoapparate hergestellt. Bei meinem ersten Besuch in der Firma war ich über den scheußlichen Geruch erstaunt, der mir in die Nase stach. Bald erfuhr ich, dass die Firma Gelatine aus Tierknochen und Häuten für die Produktion von Filmmaterial  herstellte, und keine Fotoapparate. Meine Lehre habe ich mit sehr gutem Ergebnis abgeschlossen, worüber ich sehr stolz war. Außerdem ist es mir gelungen, in Samstagskursen die Fachhochschulreife nachzuholen.

Der türkische Wehrdienst hing wie ein Damoklesschwert über mir.

Inzwischen war ich 18 Jahre alt. Nach türkischem Recht musste jeder, der einen türkischen Pass hatte, seinen Militärdienst in der Türkei ableisten oder sich mit 20 000 D-Mark, die an den türkischen Staat zu zahlen waren, freikaufen. Allerdings war bei dieser Option ein dreimonatiger Grundwehrdienst obligatorisch. Ich wusste, dass ich schikaniert worden wäre, falls ich diese Lösung gewählt hätte, weil die türkischen Militär-Ausbilder weder Armenier noch „Drückeberger“ liebten.  Eine Rückstellung vom Militärdienste bis maximal zum achtundzwanzigsten  Lebensjahr war aber möglich, falls man ein Studium aufnahm. Da ich nicht in den Militärdienst wollte, habe ich begonnen, in der Fachhochschule Heilbronn Feinwerktechnik  zu studieren. Während meines Studiums war ich politisch in verschiedenen Gruppierungen aktiv, u.a. im Arbeitskreis gegen Ausländerfeindlichkeit. Meine damaligen Freunde waren vorwiegend sozial engagiert. Wir waren alle gegen das System, und da hat ein Studium einfach nicht zur Gruppenmentalität gepasst. In diesem Lebensabschnitt konnte ich meinen politischen Standpunkt noch nicht vor Freunden vertreten. Allerdings kam ich auch mit meinem Studium nicht so richtig klar und  hatte nach fünf Semestern keine Lust mehr auf Schule. Nun befand ich mich in einer Zwickmühle- Entweder ich bekam die deutsche Staatsbürgerschaft oder ich musste nach Abbruch meines Studiums zum Militär.

Die Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft – ein Weg mit vielen Hürden

Als Ausländer wurde ich nicht geboren, sondern von den Behörden gemacht

Jedes Jahr Schlange stehen im Ausländeramt, ständig Angst haben, dass man die Aufenthaltsgenehmigung nicht bekommt, so kann man das Leben nicht verlässlich planen. Nach 16 Jahren Wohnen in Deutschland wollte ich endlich meinen deutschen Pass. Hierzu  benötigte ich zuerst die unbefristete Aufenthaltsgenehmigung. Als ich diese beantragte, öffnete der Beamte meinen Ordner und ich sah das Wort  A u s l ä n d e r quer über das Deckblatt in einer großen rot- gestempelten Schrift. Das war das allererste Mal in Deutschland, dass ich das Gefühl hatte: Ich bin ein Ausländer. Ich stellte mir immer vor, ich sei Weltbürger oder Mensch, aber kein Ausländer, da dieser Begriff mit  einer Menge von Vorurteilen belastet ist und häufig als Schimpfwort gebraucht  wird.  Viele Ausländer haben sich meiner Meinung nach nicht integriert, nicht weil die deutsche Kultur ihnen fremd gewesen wäre oder weil sie Probleme mit Deutschen gehabt hätten, sondern weil sie oft über Jahrzehnte mit der Unsicherheit leben mussten, wieder abgeschoben zu werden. Insofern kann man die Ursache für die Absonderung vieler Migranten von der deutschen Gesellschaft vielleicht auch bei den Behörden suchen.

 Sehr unterschiedliche Erfahrungen mit den Ausländerämtern

Mit der Begründung, ich hätte mehr als zehn Fehltage bei der jährlichen Verlängerung meiner Aufenthaltsrechte, wollte mir der Beamte die unbefristete Aufenthaltsgenehmigung nicht geben. Nach einer Art Punktesystem könnten bei jeder künftigen termingerechten Verlängerung Tage abgezogen werden, sagte er. Ich erinnerte mich aber, dass das Amt einmal das von mir pünktlich abgegebene Dokument nicht mehr gefunden hat. Ich konnte es damals erst nach einiger Zeit wieder abholen. Vermutlich war dadurch diese Lücke entstanden. Der Beamte ging auf meine Argumentation überhaupt nicht ein. Erst als ich darauf bestand, den Vorgesetzten zu sprechen, bekam ich nach einigem Hin- und- Her von diesem die gewünschte Urkunde. Der vorgesetzte Beamte musste zugeben, dass es keine rechtsgültige Verordnung gab, der zu Folge wegen Überschreitung  der Verlängerungsfrist die unbefristete Aufenthaltsgenehmigung verweigert werden durfte.

 Hätte ich die Sprache nicht beherrscht und hätte ich im  Arbeitskreis gegen Ausländerfeindlichkeit  nicht meine Rechte studiert, hätte ich mich wahrscheinlich abwimmeln lassen.

Als ich einige Zeit später die deutsche Staatsangehörigkeit beantragte, befürchtete ich, in Heilbronn nur wenig hilfreiche Beratung zu bekommen. Das hätte meine Chance eingeschränkt, hier meinen deutschen Pass zu erhalten. Bekannte berichteten, dass die Beamten im Landkreis freundlicher und unterstützender seien. Als Notlösung habe ich deshalb meinen Wohnsitz geändert und bin zu meiner Tante nach Neckarsulm gezogen. Im Landratsamt bei Frau  Vogt herrschte eine freundliche Atmosphäre und sie erklärte mir die nächsten Schritte, die ich tun musste, um an mein Ziel zu kommen.

Als Fremder im türkischen Konsulat in Stuttgart

Frau Vogt schickte mich ins türkische Konsulat nach Stuttgart, wo ich um meine Ausbürgerung aus der türkischen Staatsbürgerschaft bitten sollte, da ohne dieses Dokument eine deutsche Einbürgerung nicht möglich war. Wenn meiner Forderung nicht stattgegeben würde, sollte ich eine schriftliche Begründung dafür verlangen. Falls ich die schriftliche Begründung bekäme, könnte ich die doppelte Staatsbürgerschaft beantragen.

Im Konsulat hat es ewig gedauert, bis ich zu irgendeinem Beamten reinkam, der gleich recht unfreundlich auf mich zuging. Er sah mich mit funkelnd bösem Blick an und schimpfte auf Türkisch, ob ich mich nicht schäme, mein Heimatland zu verraten, ob ich denn kein Türke wäre. Ich saß da und fühlte mich wehrlos und fremd. Mit meinem türkischen Pass befand ich mich in einer Botschaft, die türkisches Hoheitsgebiet war. Der Beamte spielte sich so auf, als ob er alle Macht der Welt hätte. Provokant beantwortete ich dennoch  seine Frage. „Wieso sollte ich Nationalstolz haben? Ich bin doch kein Türke, ich bin Armenier.“ Er hatte meinen Reisepass und meinen Personalausweis vor sich liegen. Nur im Personalausweis, den er nun genauer betrachtete, stand die Bezeichnung “Armenier“. „Ach, Armenier, so, so, so“, ohne weitere Worte verließ er das Zimmer. Nach einer halben Stunde brachte er ein türkisches Gesetzbuch und knallt es aufgeschlagen vor mir auf den Tisch. „Türkisch wirst du ja noch lesen können!“, zischte er. Mühselig entzifferte ich, dass man als Mann nur ausgebürgert werden kann, wenn man seinen Wehrdienst abgeleistet hat. „Schriftlich gibt es nichts“, rief er höhnisch beim Hinausgehen. 

Unehrenhafte Entlassung aus der türkischen Staatsbürgerschaft

Ich erzählte Frau Vogt meine Erlebnisse. Sie wusste, dass es im türkischen Konsulat so lief und dass die Antragstellenden nichts Schriftliches bekommen würden. Sie riet mir, ständig Briefe an das Konsulat zu schreiben und diese als Beweis zu dokumentieren. Falls ich in einem Zeitraum von zwei Jahren keine Antwort bekäme, würde meiner deutschen Einbürgerung nicht mehr im Wege stehen. Kaum war diese Frist vergangen, kam der erste und letzte Brief  vom Konsulat, in dem mir mitgeteilt wurde, dass ich aus der türkischen Staatbürgerschaft unehrenhaft entlassen worden sei.

Endlich Besitzer eines deutschen Passes

Im Nu bekam ich nun in Neckarsulm meinen deutschen Pass. Es war einfach ein tolles Gefühl, dieses Dokument in der Tasche zu haben. Es bedeutete, keinen türkischen Wehrdienst leisten zu müssen, mein ungeliebtes Studium aufgeben zu können und nun nach Herzenslust in die  meisten Länder der Erde ohne Visum und andere Formalitäten reisen zu können. Bis dato hätte ich bei Grenzübergängen- z.B. nach Frankreich- ein Visum, eine Einladung und den Nachweis, dass man über einen bestimmt Geldbetrag verfügt, erbringen müssen. Als türkischer Staatsbürger war ich in den 70er und 80er Jahren Schikanen an den Grenzen ausgesetzt, zumal ich lange Haare hatte und einen Al- Fatah- Schal trug, jung war und so ins Raster der Fahnder passte.

Zurück zu den Wurzeln meiner Vorfahren

Viele Jahre  träumte ich davon, den Ararat, den heiligen Berg meiner Vorfahren, zu besteigen und zu erkunden, ob in ihrem ureigenen Gebiet am Van-See noch irgendetwas von der armenischen Kultur vorhanden ist.

Zusammen mit drei deutschen Freunden, die- wie ich selbst- leidenschaftliche Bergsteiger sind, haben wir 2004 diese Reise mit Dr. Koch Reisen geplant. Für die Besteigung des Berges Ararat benötigt man sowohl von staatlicher als auch militärischer Seite eine Genehmigung, die unser Reisebüro problemlos vom türkischen Generalkonsulat in Frankfurt bekommen hat. Zwei Tage vor dem Abflug wurde mein Visum annulliert. Jemand hatte bemerkt, dass ich armenischer Abstammung bin und in Istanbul geboren wurde. Obwohl ich einen deutschen Pass habe, wurde mir als Armenier untersagt, den Ararat zu besteigen. Ich habe die Reise trotzdem angetreten, da ich ja mit meinem deutschen Pass in die Türkei einreisen durfte. Unsere türkische Reiseleiterin hat es dann mit vielen Tricks geschafft, mir das notwendige Dokument von der Militäradministration zu besorgen. Das war aber nur möglich, da die für uns vor Ort zuständige Militäradministration eine Namensliste unserer Gruppe vorliegen hatte, auf der mein Name noch nicht gestrichen war.

Als ob es uns nie gegeben hätte

Wir waren von Dr. Koch-Reisen in einer kleinen Anlage  am Van-See  untergebracht, die an ein kleines kurdisches Dorf angeschlossen war. Mit dem Bauer, der die Anlage verwaltet hat, habe ich Kontakt geknüpft. Ich fragte ihn nach den Armeniern, die hier gelebt hätten. Er antwortete, dass in der Gegend viele  Armenier und Kurden gewohnt hätten, die im Ersten Weltkrieg aber alle wegegezogen seien. Die Kurden seien nach dem Weltkrieg wieder zurückgekommen, die Armenier aber nicht.  Vielleicht hatte er es so in der Schule gelernt, jedenfalls wusste er es nicht besser. Glaubhaft erschien mir jedoch die Aussage, dass unter den Kurden noch Armenier lebten, und zwar Nachfahren von den armenischen Kindern, die Kurden zur Zeit des Völkermordes  versteckt hatten. Der Mann zeigte mir auch einen armenischen Friedhof, der als solcher nicht mehr zu erkennen war, da alle  Gräber geschändet worden waren. Die Grabräuber suchten nach den Goldzähnen und dem Schmuck der Toten. Die einzigen Relikte, die ich von meinen Vorfahren noch erkennen konnte, waren die exakt gebauten steinernen Grundmauern armenischer Häuser, auf die Lehmhäuser von Kurden gebaut worden waren. Ab und zu sah ich sogar noch ein Kreuz auf diesen Mauern oder Grabsteine, die als Baumaterial verwendet worden waren. Das türkische Militär zeigte um den Ararat Omnipräsenz. Alle 10 bis 20 Kilometer fanden Militärkontrollen statt. „Wir sind ein Volk“, stand mit riesengroßer weißer Schrift auf den Gebirgszügen, die kilometerweit zu sehen war, daneben flatterte die türkische Fahne. Die Grenzübergänge nach Armenien waren geschlossen, der Luftraum gesperrt.

 Obwohl ich meinen Lebensmittelpunkt in Deutschland habe und den armenischen Nationalismus ablehne, war ich doch erstaunt, welche tiefe Zugehörigkeit ich zu meinem Volk fühlte.

Der Bericht wurde von Christel Banghard-Jöst weitererzählt


©2014 diaphania
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