Erinnerungen an die Schicksalsjahre 1945 - 1946
Jahrhundertelang
lebten Deutsche in den Randgebieten von Böhmen, Mähren und Schlesien sowie in
einigen Sprachinseln im Landesinneren. Nach dem Ende des 2. Weltkrieges wurden
ungefähr drei Millionen Deutsche aus ihrer Heimat nach Deutschland und
Österreich vertrieben. Auf dem Gebiet von Tschechien und der Slowakei blieben
nur etwa 200 000 Deutsche übrig.
Die
damalige deutsche kleine Sprachinsel in Mähren
„Wachtl - Deutsch Brodek“ bestand
aus fünf deutschen Dörfern inmitten tschechisch-sprachiger
Umgebung.
Erinnerungen an die
Schicksalsjahre 1945 - 1946
Wenn im Frühjahr die warmen Maitage
kommen, gehen die Gedanken oft zurück in das Jahr 1945, als unsere heile,
dörfliche Welt verloren ging und nie mehr zurückkehrte. Die Front rückte näher,
schon hörten wir fernen Kanonendonner, Angst und Unsicherheit breiteten sich
aus. Auch wir hatten schon erfahren, was Mädchen und Frauen von den russischen
Soldaten angetan wird. Wie sollten wir versuchen, uns zu schützen? Niemand
wusste Rat. In den Nowak-Fabriken war es mit dem geregelten Arbeitsalltag
vorbei. Als alles still stand, lag eines Morgens ein Haufen Arbeitsschuhe im
Hinterhof. Aber als ehrliche Leute trauten sich nur wenige, ein Paar zu
nehmen. Auch in der Hutfabrik herrschte Chaos. Die Türen standen offen, die
schönen Damenhüte lagen überall verstreut. Wir jungen Mädchen schauten
neugierig in die Zimmer, setzten auch den einen oder anderen Hut auf, aber der
Spaß blieb auf der Strecke.
Am 8. Mai 1945 trat die bedingungslose
Kapitulation der Wehrmacht in Kraft, der Krieg in Europa war damit offiziell
beendet. An diesem Tag kamen deutsche Soldaten auf dem Rückzug in den Ort und
machten kurze Rast. Als sie am Morgen weiterzogen, schlossen sich ihnen etliche
junge Mädchen an, in der Hoffnung auf Sicherheit. Diese war jedoch trügerisch,
denn bald holten sie die Besatzer ein und sie waren ihnen ausgeliefert.
Der 9. Mai 1945 war ein wunderschöner
Frühlingstag, doch niemand konnte sich an der Natur erfreuen. Zu groß war die
Ungewissheit, was wir an diesem Tag noch fürchten müssen. Nachmittags um drei
Uhr waren schon die ersten russischen Pferdewagen durch das Dorf gerollt. Als
aber alles ruhig blieb, schöpften wir Hoffnung. Die Nachbarn versammelten
sich, um mehr Schutz in der Gemeinschaft zu haben. Als wir uns abends warme
Sachen holen wollten, war der Weg versperrt. 15 Soldaten drängten in unsere
Stube. Wir mussten Kartoffeln braten, dann schleppten sie eine große Kanne voll
Wodka herein, von dem sie sich reichlich bedienten. Dies hatte zur Folge, dass
sie meine Schwester und mich immer mehr bedrängten. Gerettet hat uns ein
russischer Offizier, der plötzlich in der Tür stand. Die Mutter musste Stroh
holen und er befahl den Soldaten, sich hinzulegen. Zur Mittagszeit des
nächsten Tages stolperte ein betrunkener Mongole zur Tür herein und bedrohte
die Mutter mit dem Gewehr. Wir flüchteten, seine Schüsse verfehlten uns. Wir
wussten aber nun, dass wir nicht zu Hause bleiben konnten. Bei der Familie in
Ölhütten, wo ich das Pflichtjahr gemacht hatte, fanden wir mit anderen Mädchen
im Hohlraum des Schüttbodens Schutz und überstanden so die ärgsten Tage. Viele
Frauen haben Schlimmes erlebt. Auch Kinder wurden durch die Vergewaltigungen
gezeugt. In Panik versuchten mehrere Frauen, sich das Leben zu nehmen. Jeder
Tag brachte neue Schrecken. Bürgerschuldirektor Gustav Schmid wurde in seiner
Wohnung erschossen. Elf deutsche Fernmeldesoldaten wurden brutal ermordet und
verstümmelt vor dem Friedhof abgelegt. Die ganze Bevölkerung musste vom
Marktplatz aus an ihnen vorbei laufen.
Bürgermeister Eugen Nowak und der
Fabrikant Walter schlossen sich bereits am 7. Mai 1945 einer
Wehrmachtsabteilung an, um zu ihren schon geflüchteten Frauen zu kommen.
Seitdem hat niemand mehr etwas von
ihnen gehört. Nach einem Gerücht sollen sie in einem Wald bei Stefanau von
Partisanen überfallen worden sein. Welche Tragik für die Eltern Nowak. Sie hatten
ihren letzten Sohn verloren. Sohn Josef war als Kradfahrer in Polen gefallen,
Otto in Stalingrad vermisst.
Im Sommer 1945 wurden viele Männer
aus der Sprachinsel nach Littau ins Lager gebracht, wo sie schwer arbeiten und
Hunger und Misshandlungen ertragen mussten. Sie wurden zum Teil zu längeren
Haftstrafen verurteilt und konnten erst spät zu ihren Frauen aussiedeln. Noch
gefürchteter war ein Lager bei Olmütz, als „Hölle
von Hodolein" berüchtigt. 900 Menschen, auch Kinder, wurden dort
ermordet. Eine Tafel am Altvaterturm erinnert an die Opfer.
Der erst 14-jährige Oswald Kopal und
der alte Herr Nowak sollten das Kriegerdenkmal in Brodek zerstören, für die
beiden ein hartes Stück Arbeit. Trotz der schadenfrohen tschechischen Gaffer
gelang es dem jungen Oswald, die Gedenkschrift aus dem Jahre 1903, die im
Sockel deponiert war, mit einer List in Sicherheit zu bringen. Ein wertvolles
Dokument war gerettet.
Schon bald begann auch die Enteignung
der Bauern. Josef Gröpl aus Döschna erzählt: „Im tschechischen Nachbarort wohnte eine Familie mit sechs Söhnen, die
auch schon Familie hatten. Im Herbst 45 kam der älteste, Bonifatius, und suchte
sich den schönsten Bauernhof aus, zwang kurz vor Weihnachten die Bewohner
binnen weniger Stunden das Haus zu verlassen, ohne sich um deren Unterkunft zu
kümmern. Kurze Zeit später suchte er für seinen Bruder einen Besitz. Am 20.
Februar, einem stürmisch kalten Tag, stand er um sieben Uhr vor unserer Tür und
forderte uns auf, das Haus binnen drei Stunden zu räumen. In Eile packten wir
ein paar Sachen und brachten sie zu meiner Großtante. Um 10 Uhr verwehrte er
uns den Zutritt ins Haus. So standen wir draußen in der Kälte und mussten uns
eine Bleibe suchen." Auf diese Weise ergaunerten sich auch die anderen
Brüder einen Hof.
Die jungen Mädchen wurden von den
Bauern aus den umliegenden tschechischen Dörfern zur Arbeit geholt. Ich durfte
erst einen Tag vor der Aussiedelung heim. Täglich zogen die Plünderer durch
das Dorf. Alles, was mehr oder minder wertvoll erschien, wurde mitgenommen. Die
meisten Bewohner hatten aber ihre Sachen gut versteckt, eingemauert oder
vergraben. Mit den anderen Schikanen hatte man sich abgefunden. Das weiße „N" (steht
für Deutscher/Deutsche) zu tragen und mit der Sperrstunde um 21 Uhr. Die
Gerüchte über die Vertreibung aus der Heimat breiteten sich aus, aber niemand
wollte sie glauben.
Im Juli 1946
war unser Schicksal besiegelt. Der erste Transport verließ Deutsch-Brodek. Erst
mit dem Lastauto in das Lager Lutein, wo nochmal kontrolliert und manches
liebe Erinnerungsstück weggenommen wurde. Dann, 30 Personen mit je 70 kg Gepäck
in Güterwaggons gepfercht, ging es nach langer Fahrt über die Grenze Richtung
Württemberg. Vier weitere Transporte folgten. Nach Hessen, Ober- und
Unterfranken. Lehrer Kuba erreichte bei den Behörden, dass Familien, Freunde
und Nachbarn auf Wunsch zusammen ausgesiedelt wurden. Am schmerzlichsten war
die Vertreibung für die alten Leute. Manche hofften bis an ihr Lebensende auf
die Heimkehr.
Der
Anfang in der neuen Heimat war schwer. Hunger und Wohnungsnot entmutigten die
Menschen. Doch nach ein paar schwierigen Jahren wurden die neuen Mitbürger,
auch unsere tüchtigen, fleißigen Sprachinsler in ihrer Leistung anerkannt. Sie
hatten die erlernten Fähigkeiten gleich wieder eingesetzt, sich eine neue
Existenz geschaffen und Häuser gebaut. Ihre Kinder besuchten zum Teil die
höhere Schule und studierten. So konnten sich viele ein erfolgreiches Leben
sichern.
Dass
die Landsleute sich nicht ganz aus den Augen verloren, dafür sorgte wiederum
Familie Kuba. Schon 1947 wurden Adressen gesammelt und mit Bleistift auf Postkarten
die Einladungen zu einem Treffen der „Sprachinsler“ nach Limburg/ Lahn geschrieben und
verschickt. Allmählich wurden alle Aufenthaltsorte bekannt und aus aller Welt
strömten die Landsleute zusammen, um alljährlich während unserer „Foahrt“ an
Peter und Paul (um den 29.Juni) ein fröhliches Wiedersehen zu feiern. Pfarrer
Madea, der alle ehemaligen Pfarrkinder noch mit Namen kannte, hielt mit
Pfarrer Pollak den Gottesdienst in der Stadtkirche. Gesungen wurde die
vertraute Schubert-Messe.
In diesem Jahr 2014 trafen wir uns nun
zum 68. Mal, das 70.
ist fest im Blick. Die Liebe zur alten Heimat und die Freude am Treffen sind
ungebrochen, wenn auch die Teilnehmerzahl schon sehr bescheiden geworden
ist.
Anna Tomaschko
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