Ammar Karzon (*1991 in Syrien)

 

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Mit gebügeltem Hemd


Das Pfeifen einer Bombe, rasender Herzschlag, angespannte Muskeln und vor Schreck geweitete Augen. Was wie die reißerische Beschreibung eines neuen Thrillers klingt, sind die Erinnerungen eines Menschen. Die Erinnerungen von Ammar Karzon. Ein junger Mann aus Syrien, 25 Jahre alt, mit einem lebendigen und fröhlichen Gesicht. Doch wenn Ammar von diesen Erinnerungen berichtet, dann wird sein Blick schwerfällig, fast schon abwesend. Und dann treffen seine Augen auf meine, ein ernster Blick. Ernst und doch ohne eine Spur von Angst.
Ammar will das. Er will erzählen und berichten und schildern und mich an seinen Erinnerungen teilhaben lassen. Ich fühle mich auf eine eigentümliche Art und Weise beschenkt. Und ich bin mir sicher: Das hier ist keine nette, kleine Anekdote. Das hier sind Geschichten, die gehört werden sollten.
Als ich Ammar begegne, treffe ich einen Typ Mensch, der Frauen mit Vergnügen die Tür offen hält. Er würde beim Essen immer auf die anderen warten, bevor er beginnt. Er wirkt sehr galant und reif, ist immer ein wenig seriös gekleidet, wie für einen Business-Termin. Und doch um weht ihn eine ungezwungene Aura. Ammar reißt gerne Witze, selbst über die makabersten Dinge. Aber auch wenn er erst Mitte Zwanzig ist und noch so viel vor sich hat, wirkt er, besonders, wenn er spricht, wie ein alter Mann: entschieden, gelassen und erfahren. Doch wer weiß, was er erlebt hat, der versteht seine Art und Weise, sich auszudrücken.
Ammar wird am 4. Januar 1991 in Aleppo geboren. Die Ehe seiner Eltern war arrangiert und dies blieb auch nicht ohne Folgen. Sein Vater, Muhieldinn Karzon, daran gewöhnt, für nichts in seinem Leben kämpfen zu müssen, übt massiven Druck auf seinen Sohn aus. Er ist Lehrer, und Ammar als Sohn eines Lehrers steht unter dauerndem Leistungsdruck. Die Gesellschaft erwartet von ihm exzellente Noten. Und Ammars Vater erwartet selbiges von seinem Sohn. Immer mehr buhlt Ammar um die Aufmerksamkeit seines Vaters, sucht nach Unterstützung und Verständnis.
Was beim Vater ausbleibt, kann seine Mutter Helal ihm geben. Wie eine Löwin kämpft diese Frau für ihre Kinder und unterstützt sie, wo sie kann.
Mit 16 Jahren zieht Ammar aus. Lässt seine Familie hinter sich, bleibt jedoch immer noch in seiner Heimatstadt Aleppo. Der Vater, der nie ein Vater war, bekommt mit Ammars Mutter ein zweites Kind und schließlich ein drittes, beide ebenfalls Jungen. Ammar hofft, dass sein Vater es bei seinen Brüdern besser machen wird. Und wieder erwarte ich bei diesen Worten einen schwerfälligen Unterton, einen verbitterten Blick, ein melancholisches Wimpernzucken. Doch es bleibt aus. Ammar kann sehr gut reflektieren, woher der Leistungsdruck durch seinem Vater kam. Er kann sehr gut differenzieren, sieht die Zusammenhänge und nicht nur seine eigenen persönliche Sicht. Ja, er kam sicher schon mit gebügeltem Hemd, erwachsenen Augen und gefestigten Prinzipien auf die Welt. Ich bin mir sicher.

Ganz normal: Zivilcourage
Bei unserem ersten Treffen erzählte mir Ammar von seiner Mutter. Viel später kamen die Geschichten von seiner Flucht in die Türkei und schließlich nach Deutschland. Viel später kamen dann die Geschichten über seine Pläne in Deutschland. Lange sparte er sich auf, sich über seine jetzigen Situation auszulassen. All das erzählt er mir viel, viel später. In seiner Geschichte beginnt er mit seiner Mutter.
Helal Karzon, geboren 1970 in Homs City, ist die Mutter von Ammar und seinen zwei Brüdern Rabea und Malek. Bevor ich Ammar kennenlernte, wusste ich schon, dass seine Mutter im Gefängnis in Aleppo sitzt. Heute, am 25.Oktober, ist der Tag der ersten Gerichtsverhandlung. Es wird entschieden, ob sie nach zwei Jahren Haft das Gefängnis verlassen darf, oder weitere 23 Jahre dort verbringen muss. Für ihr „Verbrechen“ müsste Helal normalerweise mit 25 Jahren Gefängnishaft betraft werden. Natürlich kommen wir bei unserem ersten Treffen sofort auf seine Mutter zu sprechen. Er erzählt mir, wie seine Mutter als Journalistin kritische Sachen veröffentlichte und sich weigerte, wählen zu gehen. Er erzählt auch, dass seine Mutter, die für das Wohl der Familie kämpft, sich nicht stoppen ließ auch für ihr eigenes Land zu kämpfen.
Ein rebellischer Geist kann von nichts und niemanden gebändigt werden, nicht mal von einem repressiven Staat. Wahrscheinlich erst recht nicht von einem repressiven Staat. Ammars Mutter will die Ungerechtigkeiten im eigenen Land nicht erdulden und wehrt sich. Doch das ist nicht einfach in Syrien. Wer sich wehrt, wird bestraft. Ich muss zugeben, als ich hörte, weswegen Ammars Mutter im Gefängnis landete, war ich etwas enttäuscht. Ich hatte mit einer aufregenden Story gerechnet, mit versuchten Attentaten oder James-Bond-ähnlichen Fluchten. Doch je mehr ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir, wie wichtig ihr leiser aber entschiedener Widerstand war. Und inzwischen schäme ich mich fast, dass mein von Hollywood-Stories voll gestopfter Kopf die mutige Tat diese Frau nicht von Anfang an wert geschätzt hat.
Im Jahr 2013 stehen die Wahlen in Syrien an, unter einem Deckmantel scheinheiliger Demokratie natürlich. Ammars Familie geht nicht wählen. Sie tun es einfach nicht, wissen dass sie manipuliert werden und nur die Wahl zwischen Assad und einem verkleideten Assad haben. Und natürlich reagieren die Behörden darauf. Ihnen entgeht nicht, dass Menschen im Staat sich der Manipulation entziehen. Also wird die Familie in der Nacht abgeholt. Ammar, schon aus seinem Elternhaus ausgezogen, kriegt im nach hinein alles mit.
Was dann geschieht, passiert schnell und ist kaum zu rekonstruieren. Seine Mutter wird festgenommen, nachdem ihre Personalien gecheckt wurden. Schnell war klar: Das ist Helal Karzon, die verantwortlich für eine Menge kritischer Inhalte auf verschiedenen Plattformen ist. Helal Karzon ist eine Journalistin, die der Staat nicht dulden will. Diese Nacht muss die Mutter von Ammar bei den Polizisten verbringen. Sein Vater und seiner kleiner Bruder Malek, der zu diesem Zeitpunkt erst 3 Jahre alt war, dürfen nach Hause gehen.
In Syrien gibt es grausame Arten die Gefangenen zu bestrafen. In den ersten paar Tagen ihrer Haft sitzt Helal mit 20 anderen Häftlingen in einer 3 mal 3 Meter großen Zelle. Es gab keine Möglichkeit auf dem Boden zu liegen um zu schlafen, deshalb wurde immer abgewechselt. Zwei Häftlinge sitzen auf dem Boden, Rücken an Rücken, und können so etwas Schlaf nachholen.
Dann wird Helal abgeholt und mit anderen Insassen auf die Gefängnisse in der Umgebung verteilt. Dort hat sie zwar ihre eigene Zelle, doch das Essen ist verdorben, das Gefängnis unhygienisch und sie wird schlecht behandelt, denn sie ist als Journalistin für den Staat gefährlicher, als jemand der mit einem Stein auf einer Demo geworfen hat.
Helal Karzon nimmt im Gefängnis ab. Sie sieht ihre Familie alle zwei Wochen, dann mal einen Monat nicht, dann wieder jede Woche. Ammar erzählt mir, dass die Regeln in den Gefängnissen sehr willkürlich sind. Es ist für ihn sehr schlimm zu sehen, wie seine Mutter buchstäblich von diesem System zerfressen wird. Doch noch tragischer steht es um Malek, dem Kleinsten in der Familie. Mit gerade mal 5 Jahren wollen ihm sein Vater und seine Brüder nicht erzählen, dass seine Mutter im Gefängnis ist. Stattdessen erzählen sie von einer langen Reise und dass sie bald wieder kommen wird, mit vielen Süßigkeiten für ihn. Malek wird verbittert und denkt, seine Mutter habe ihn absichtlich verlassen. Er macht ihr Vorwürfe, beginnt sie zu hassen. Ich frage Ammar, weshalb sie Malek nicht einfach die Wahrheit sagen. Das sei doch wichtig. Doch Ammar verneint. Er glaubt, für Malek wäre es noch schlimmer, wenn er wüsste, wie seine eigene Mutter im syrischen Gefängnis leiden muss.

Studium & Revolution
Ammar beginnt mit 21 am Fine Arts College Innenarchitektur zu studieren. Nach einem holprigen Start, mit zwei Vorprüfungen und 8000 Mitbewerbern, darf er nun anfangen und geht seinen Weg in die Unabhängigkeit immer weiter. Bisher hatte er noch nichts im Leben erreicht, keine Fähigkeiten, kein Diplom, nur sein Abschlusszeugnis von der Schule hatte er in der Hand. Also versucht er sich etwas auf zu bauen, findet eine Wohnung, einen Job und schließlich seinen lang ersehnten Studienplatz. Endlich erreicht er etwas. Er ist glücklich und stolz auf sich.
Doch bleibt sein Heimatland nicht vom Assad-Regime verschont. Und auch Ammar beschließt an den Protesten gegen diese Diktatur teil zu nehmen. Syrien hatte einen hohen Lebensstandard, vor dem Krieg. Es gab für alle genug Essen, kostenlose Bildung und auch Sicherheit. Doch in der Politik werden die Wege der Diktatur eingeschlagen, es gibt keine freien Wahlen, keine Demokratie. Und so beginnen in Aleppo, dem damaligen Wohnort von Ammar, die Proteste. Die Studenten der Universität nennen sich selber „The White Face of the Revolution“ und setzen sich für ein westliches Demokratiemodell ein.
Assad-Anhänger, die zuvor verbreiteten, dass sich nur Menschen aus bildungsfernen Schichten an den Protesten beteiligen, werden somit Schach-Matt gesetzt. Der Unterricht, Vorlesungen, Prüfungen – all das ist nicht mehr wichtig. Anstatt in der Bibliothek zu büffeln, gehen die Studenten auf die Straße und demonstrieren.  Sie vereinigen sich, geben sich Hoffnung, wollen kämpfen. Doch man muss vorsichtig sein. Ammar legt sich einen neuen Namen zu. Er nennt sich „Mohammed“. Es ist zu gefährlich, seinen unzähligen Mitstreitern seinen echten Namen zu nennen. Zu groß das Risiko, dass einer festgenommen werden könnte, gefoltert wird und darauf hin Namen nennt. Was zunächst vielleicht paranoid klingt, ist nicht sonderlich weit von der Realität entfernt. Tatsächlich wird ein guter Freund von Ammar auf einer Demo festgenommen. Er wird gequält und dann passiert es – er nennt Ammars Namen, seinen richtigen.
Als Ammar mir dies erzählt, erwarte ich Wut. Ich erwarte Vorwürfe. Doch nein – Ammar lacht. Zunächst sei es zwar nicht gut, wenn die Behörden seinen echten Namen wüssten, allerdings sei dies noch kein Todesurteil. Nur aufgrund eines Namens könne Ammar noch nicht verhaftet werden. Und zudem ist er ganz einfach  froh, dass sein Freund wieder aus dem Gefängsnis gekommen  ist – das hätte auch ganz anders ausgehen können. Er erzählt mir, wie er seinen Freund empfängt, ihn „Arschloch“ nennt und dann umarmt. Das berührt mich irgendwie. Vielleicht weil es ein Beweis ist, dass es in einer Revolution nicht um den Einzelnen geht oder um das eigene Wohl. Es geht um die Gemeinschaft. Und um Himmels willen – was sollte der Freund von Ammar auch tun? Er wurde gequält. Ammar ist einfach froh, dass sein Freund  noch am Leben ist.
Irgendwann werden die Demonstrationen immer riskanter und Ammar verlässt sein bisheriges Leben. Es reicht ihm nicht, nur auf die Straße zu gehen. Auch weil er eingestehen muss, dass nur wenige Fortschritte erkennbar sind. Er bezieht eine Wohnung in einem Distrikt, der täglichen Bombenangriffen ausgesetzt ist. Zusammen mit Organisationen der UN hilft er nun vor Ort. Doch an diesem Punkt werden seine Erzählungen albtraumhaft. Ammar erzählt vom Aufwachen in seinem Bett. Wie man jeden Morgen checken musste, ob alles noch da war, ob man noch lebte, ob man einen weiteren Tag helfen kann. Jeder Tag ist voller Angst. Von 7 Uhr morgens bis 16 Uhr am Nachmittag prasseln Bomben auf den Distrikt, zerstören Häuser und Menschen, zerreißen Familien und Körper in tausend Stücke. Wenn eine Bombe am Himmel erscheint, bleibt den Anwohnern nichts anderes übrig, als in den Himmel zu schauen und zu hoffen, dass keine der tödlichen Raketen auf ihre Territorien treffen. Auch Ammars Eltern bekommen mit, in welch gefährlicher Situation er sich befindet. Sie bitten ihn, das Land zu verlassen.
Ammar entscheidet in die Türkei zu gehen. Die Entscheidung fällt ihm nicht schwer: seine Familie  ist weit weg, seine Freunde sind entweder tot oder im Gefängnis und die Situation wird immer schlimmer und schlimmer. Es ist zwar Ammars Revolution, eine Revolution für sein Land, doch das Überleben wird wichtiger. 

Die Flucht
In der Türkei beginnt für Ammar ein vollkommen neues Kapital. Es ist der Beginn einer einjährigen Reise nach Deutschland, nach Heilbronn. Zunächst stellt es kein Problem dar von Syrien direkt in die Türkei zu reisen. Die Türken wussten, wie es um die Syrer steht und nehmen sie ganz selbstverständlich auf. Ammar, der zu diesem Zeitpunkt 23 Jahre alt ist, Studium, Familie und Freunde zurück gelassen hat, befindet sich in einem Land, dessen Sprache er nicht sprechen kann. mit nichts bei sich, außer seinem Überlebenswillen.
Er findet einen Job bei einem Immobilienmakler, fängt an Türkisch zu lernen und findet eine Unterkunft, sogar Freunde. Er will die Zeit totschlagen, bis sich die Situation in Syrien verbessert und er wieder zurück kann.
Doch das syrische Regime scheint ihn zu verfolgen. Viele andere Syrer befinden sich in der Türkei. Auch Assad-Anhänger. Einer von ihnen arbeitet zusammen mit Ammar in dem Büro des Immobilienmaklers. Schnell verhärten sich die politischen Fronten zwischen den beiden. Ammars Kollege beginnt Ammars Leben schwer zu machen. Er schwärzt ihn an, gibt ihm ein schlechtes Gefühl und bedroht ihn schließlich. Da begreift Ammar, dass er weiter weg muss um dem Assad-Regime zu entkommen und in Sicherheit zu leben. Um sich richtig verwirklichen zu können.
Also beschließt er nach 10 Monaten in der Türkei zu fliehen. Doch das ist kniffliger als die einfache Fahrt von Syrien in die Türkei. Durch einen Freund bekommt er einen Transport über die Grenze vermittelt. Alles muss im Geheimen stattfinden, versteht sich. Doch Treffpunkt sowie Uhrzeit sind bei solchen heiklen Angelegenheit sehr unzuverlässig. Es kann sein, dass man alles für die Abreise vorbereitet um fest zu stellen, dass die Reise doch erst in zwei Wochen beginnt. So auch für Ammar. Zweimal muss er sich für immer von seinen türkischen Freunden verabschieden, bevor es richtig los geht. Mit vielen anderen syrischen Flüchtlingen.
Auf einem Boot nach Griechenland und dann weiter. Ammar reist durch fünf Länder bis er Deutschland erreicht. Er erzählt mir nicht viele explizite Dinge über die Reise, das will er auch gar nicht, meint er: er komme aus dem Krieg, war an überfüllte Züge, dreckige Toiletten und schlechtes Essen gewöhnt. Die Reise ist für ihn nur ein Mittel zum Zweck. Nicht der Weg nach Deutschland hat Ammar zu dem Menschen gemacht, der er ist. Sondern sein Studium, seine Familie, die Monate in den zerbombten Distrikten, die Revolution. Nun ist er hier. Und will weitermachen mit dem, was er vor schon so vielen Jahren begonnen hat – seiner Unabhängigkeit. Er will Deutsch lernen und sein Innenarchitektur-Studium fortsetzen. Er will seine Mutter nach Europa holen oder zumindest aus Syrien. Ammar spricht nicht von Träumen oder Utopien. Er hat einen klaren Blick für Gegenwart und setzt sich kleine Ziele. Bei unserem letzten Interview erklärt er mir treffend, wie es zu all diesen Erfahrungen kam. „Weißt du, du kommst irgendwann an einem Punkt in deinem Leben, an dem du dich entscheiden musst. Ich musste mich zwischen Assad und meinen Leuten entscheiden. Und für mich war klar, welche Seite ich wählen würde. Das war meine Pflicht.“

 

Weitererzählt von Luise Hart (2016)





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