Ich, der Andere in Deutschland
Ich heiße Emad. Ich bin 35 Jahre alt, Innenarchitekt von Beruf. Zur
Zeit versuche ich als freiberuflicher Künstler zu überleben. Perspektivlos. Hoffnungsvoll.
Aufgewachsen bin ich in Syrien, in einer kleinen Großstadt. Die Stadt sieht ganz anders aus als die Städte in Deutschland. Es gibt keinen
Vergleich.
Die Häuser sind flach. Fenster und Türen sind meist offen.
Du kannst den Horizont immer sehen, die
Landschaft ist klar und weit. Keine Berge. Die Sonne scheint immer. Es gibt nur
wenig Grün. Die Farben sind karg. Braun und beige überwiegen, und immer ist da diese deutliche Trennung zwischen Himmel und
Erde. Es ist heiß und hell, aber angenehm. Wir
vermissen jedoch den Geruch der Vereinigung von Himmel und Erde. Wir vermissen
den Regen.
Das Zusammenleben der Menschen und die Eigenschaften der Menschen sind
ähnlich wie hier. In Syrien gibt es nicht viele Regeln. Hier in Deutschland
gibt es zu viele Regeln. Trotzdem gibt es eine gemeinsame Eigenschaft: sowohl
die Syrer als auch die Deutschen sind überfordert. Die Deutschen durch zu viel
Regulierung, die Syrer durch zu viel Freiheit, die Abwesenheit von Regeln.
Die Gesichter der Menschen in Syrien sehen anders aus als in
Deutschland, aber die Menschen selber sind gleich. Liebe und Hass, Freundschaft
und Korruption sind überall auf der Welt gleich.
Bedingt durch das Wetter spielt sich das Leben in Syrien viel mehr im
Freien ab. Die Menschen sind leichter zugänglich. Nicht wie im grauen
Deutschland, wo man hinter verschlossenen Türen lebt.
Ich bin der einzige Sohn meiner Eltern. Aber ich habe vier Schwestern.
Der größte Teil meiner Familie ist noch in Syrien. Wenn es die
Situation in Syrien erlaubt, telefoniere ich mit meiner Familie.
Kindheit und Jugend Die Schule war sehr anstrengend, weil wir sehr viele
Materialien hatten. In der dritten Klasse wollte ich nach Europa. Ich wollte
die Leute am Strand in Europa malen. Meine Mama, mein Papa, die Lehrerinnen und
die Verwandten, alle haben mich immer wieder gefragt, willst du nicht Arzt
werden oder Ingenieur?
Ich habe nie geantwortet. Doch in meiner Fantasie habe ich
den Strand und die Gesichter der Leute an dem Strand gesehen, den ich malen
wollte.
In der neunten Klasse, mit 14, wollte ich eine Ausstellung
machen in Belgien, weil ich van Gogh bewunderte. Ich hatte meinen Koffer schon
gepackt. Aber ich hatte keinen Pass. Meine Eltern haben nur über mich gelacht.
Ich hatte jedoch gemeint, ich habe Bilder gemalt, ich verkaufe sie, und dann
fliege ich nach Europa...
Bis zur 6. Klasse waren wir mit den Mädchen zusammen. Ab
der siebten waren wir getrennt.
Es war hart für mich. Ich
hatte vier Freundinnen.
Die Trennung in Realschule und Gymnasium kam erst nach der
9.Klasse. Die Fächer waren gleich wie in allen Ländern, Mathe, Physik,
Englisch...Aber es war viel Stoff.
Ich habe mich in meine Lehrerin verliebt und habe ihr Liebesbriefe
geschrieben.
Eines Tages habe ich bei ihr geklingelt. Ihr Mann kam zu Tür. Ich bat
ihn, meinen Liebesbrief seiner Frau zu geben. Er sollte ihr sagen, dass ich sie
liebe. Er sagte, ich solle verschwinden.
In der Schule gab es große Aufregung. Die Schulleitung hat meine Eltern
angerufen. Sie fanden es gar nicht gut, dass ich so mutig war.
Sowohl in der Schule als auch in der Nachbarschaft wurde das Thema
diskutiert. Ich habe weiter Liebesbriefe geschrieben, aber nur für mich selber.
Alle Männer in der Nachbarschaft haben plötzlich auf ihre Frauen aufgepasst.
Ich war damals 9 Jahre alt.
Wir spielten im Schulhof viel Fußball und andere Spiele, die man hier
nicht kennt. Weil ich vier Schwestern hatte, habe in meiner Freizeit immer die
Gesellschaft von Jungen gesucht.
Wir durften während der Unterrichtszeit das Schulgelände nicht
verlassen. Tat es doch jemand, wurden die Eltern benachrichtigt.
Ich habe die Schule gehasst. Ich hasste den Zwang zu lernen und ich
hasste die vielen Bücher. Es war für mich eine graue Zeit.
Mit 19 habe ich die Schule abgeschlossen. Danach ging ich nach
Damaskus.
Damaskus Ich bekam einen Studienplatz an der Akademie der Schönen Künste. Ich
habe dort fünf Jahre studiert.
An der Uni habe ich freiwillig und mit Freude gelernt.
Jetzt kam die Zeit der Entdeckungen in der großen Stadt
Damaskus. Der Unterschied zu meiner Heimatstadt war groß, größer als zwischen
Damaskus und Deutschland.
Ich habe meinen Freund 'verkauft'
Eine
Erinnerung werde ich nie vergessen.
Ich
war damals ungefähr 22 Jahre alt. Mein Freund und ich hatten am Anfang des
Monats kein Geld mehr. Aber wir wollten uns amüsieren oder wir wollten reisen
und ein halbes Jahr lang einfach Spaß haben. Was tun?
Unsere
Nachbarin, eine 47-jährige Frau machte meinem Freund immer wieder ganz offen
schöne Augen. Ich wusste, dass auch er sie mochte. Da hatte ich die Idee,
meinen Freund und diese reiche Nachbarin zusammenzubringen. Ich übernahm die
Aufgabe, Details dieser Treffen auszuhandeln, um uns zu etwas Geld zu
verhelfen. Der ausgehandelte Vertrag sah eine Dauer von sechs Monaten vor. Mein
Freund war einverstanden und mit Eifer bei der Sache. Wir haben alles gehabt,
was wir sonst nie hätten haben können, allen Luxus, den man sich als Student
wünschen kann. Am Ende hatten alle, mein Freund, die schöne Nachbarin und ich
unseren Spass dabei.
In Damaskus gab es viele alte Gassen, und jede Ecke erzählte eine
Geschichte. Ich tauchte ein in all diese Geschichten.
Das Leben der Großstadt war voller Möglichkeiten. Man sah die Lebenfreude in
den Gesichtern. Die Menschen kannten keine Hektik und keinen Stress.
Die Themen an der Hochschule waren sehr interessant. Ich
lernte viel über andere Länder. Die Fächerauswahl war sehr umfangreich. Von
Mythologie bis zu Licht- und Tontechnik.
Jeden Mittwoch mussten wir die Gassen des alten Damaskus
mit den Cafés und den alten Häusern zeichnen. Das war für mich der schönste Tag
der Uni-Woche.
In den Cafés saßen viele Touristen, auch Deutsche. Die
meisten Touristen kamen wegen des reichen kulturellen Erbes der Stadt, dessen
Spuren bis weit ins Altertum zurück vefolgt werden konnten.
In meiner Freizeit habe ich Museen und Ausstellungen in der
alten Stadt besucht. Manchmal bin ich ins Theater gegangen.
Viele verschiedene Völker haben im Laufe der Jahrhunderte
Damaskus geprägt, und alle haben Spuren ihrer Kultur hinterlassen.
Immer wieder fragte ich mich, wieso mein Nachname
grieschich ist? Woher kommt dieser Name? Mein Urgroßvater hieß Azri. Der eine
Name ist grieschich und der andere jüdisch.
Zurück in die Heimat Nach dem Studium bin ich zurück in meine Heimatstadt. Ich
brauchte die Hitze und die Sonne.
Dort habe ich mein eigenes Büro für Innenarchitektur
aufgemacht. Ich hatte immer viele Kunden. Sie haben mich beauftragt, die
Innenräume ihrer Wohnungen zu modernisieren und ich hatte dabei alle Freiheit.
Ich fand es toll, dass aus meinen Kunden fast immer Freunde wurden, und am Ende
wollten alle ein von mir gemaltes Bild. Zwei Jahre lang habe ich so gearbeitet
und ein schönes Leben gehabt. Zwar wurde ich immer wieder von der Polizei zu
Befragungen abgeholt , aber ich hatte eine Aufgabe und mein Leben hatte einen
Sinn. Zur Zeit genieße ich die
'Freiheit' der Bürokratie - ohne Sinn.
Im Juni 2004 war ich im Haus meiner Eltern. Meine Eltern
waren jedoch nicht da. Sie waren auf Urlaub in Deutschland. Ich wurde zu einer
Befragung geladen. Ein Offizier unterhielt sich mit mir. Er bot mir Kaffee an
und erklärte mir, dass er mich leider an die politische Sicherheitsabteilung
übergeben müsse.
Ich wurde in eine Zelle gesteckt unter der Erde. Die Zelle
war nur 1qm groß, kein Fenster, eine schwere undurchsichtige Metalltür. Zwei
Tage lang erhielt ich nichts zu essen und nichts zu trinken. Absolute schwarze
Dunkelheit. Das Gefühl, als liege ich schon im Sarg. Mein Herz klopfte laut.
Ich konnte es hören. Ich fing an mit meinem Körper zu reden. "Wir müssen
kämpfen. Wir müssen überleben." Ich versuchte, mir etwas Schönes
vorzustellen. In meiner Fantasie ließ ich die Wände verschwinden und
wunderschöne Landschaften entstehen. So bekam ich wieder Luft und Licht, und
machte mir selbst wieder Hoffnung. Dass ich nichts zu essen bekam, machte mir
nichts aus. Aber ohne Hoffnung kann ein Mensch nicht leben.
Ich kann mich bis heute nicht erinnern, wie ich in diese
Zelle hineinkam und wieder heraus. Der Weg ist aus meinem Gedächtnis gelöscht.
Extreme Angst am Anfang und extreme Erleichterung am Schluss haben die Erinnerung
gelöscht.
Als ich aus dem Gefängnis ins Freie trat, standen da meine
Freunde, um mich abzuholen. Aber ich habe sie kaum wahrgenommen. Ich bin nur
gerannt, dem Licht entgegen gerannt. Ich wollte nur weg.
Wenn ich hier in Deutschland auf Schwierigkeiten treffe,
versuche anzuwenden, was ich damals in der dunklen Zelle gelernt habe. Ich
versuche mich wegzudenken in eine andere Welt. Die Zelle hat sich in meine
Seele eingebrannt. Sie ist in mir. Sie begleitet mich durchs Leben.
Der offizielle Grund für meine Verhaftung war eine CD mit
Liedern von Chris de Burgh. Seine Musik war verboten. Erst in den stundenlangen
Verhören durch die politische Polizei erfuhren die, dass ich Kontakt zur
Opposition hatte. Während der Verhöre wurde ich immer wieder mit einem dicken
Stromkabel geschlagen.
Flucht Für viel Geld wurde ich von meiner Familie freigekauft.
Aber auch danach wurde ich immer wieder zur Befragung geladen. Ich wurde in
einen Raum gesperrt und sie ließen mich sechs oder acht Stunden lang warten.
Die ganze Zeit hatte ich Angst. dass ich vielleicht nicht mehr herauskomme.
Nach ungefähr einer Stunde Verhör schickten sie mich nach
Hause. Jedesmal drohten sie mir, dass
ich das nächste Mal vielleicht nicht mehr herauskomme.
So ging das ungefähr drei Jahre lang. Eines Tages kamen sie
zu meinen Eltern und fragten nach mir. Sie wollten mich wieder verhaften. Zum
Glück war ich nicht da.
Ich ging nicht mehr nach Hause, sondern tauchte unter in
einem kleinen Dorf. Zwei Monate blieb ich da. In dieser Zeit hat mein Vater
meine Flucht organisiert und einen Schlepper besorgt.
Eines Tages tauchte dieser Schlepper bei mir auf. Er sagte:
"Heute abend um 11 Ur musst du bereit sein."
Mehr wollte er mir nicht sagen. Um 11 Uhr kam er mit einem dicken Auto
und
holte mich ab. Im Auto saßen bereits
ein "Beischlepper" und
ein jung vermähltes Paar.
Nach einer halben Stunde waren wir an der Grenze. Mehrere Soldaten
kamen auf uns zu. Sie waren sehr freundlich. Offensichtlich kannten sie unseren
'Reiseleiter'. Wir stiegen aus. Der Mann fuhr mit dem Auto zurück.
Die Soldaten nahmen uns alles ab, Uhren, Schmuck, Brille, und sie gaben
uns Uniformen, braun wie die Erde. Sie
zeigten uns die Richtung, in die wir gehen sollten. Ein hoher Zaun mit
Stacheldraht markierte die Grenze. Entlang des Zauns war Erde hügelartig
aufgefüllt. Unser Begleiter zeigte uns ein Loch. Es war ein enger Tunnel, durch
den wir kriechen mussten. Auf der anderen Seite des Tunnnels war Niemandsland.
Es war vermint. Dort wartete auf uns ein Esel. Der Schlepper meinte, wir
sollten dem Esel folgen, aber 20 Meter
Abstand halten. Der Esel führte uns sicher zu einem anderen Zaun, der
genauso aussah. Nocheinmal ein Tunnel und wir waren in der Türkei.
In der Türkei trafen wir wieder auf Soldaten. Ein neuer 'Reiseleiter'
stand bei ihnen. Er hatte auf uns gewartet. Die Soldaten sind mit uns ungefähr
10 Minuten bis zu einem dicken Auto gegangen. Der Typ, der im Wagen saß, fuhr
uns bis nach Istanbul, eine Fahrt von 8 Stunden. Für eine Woche wurden wir bei
einer alten Frau untergebracht. Wir durften nicht aus dem Haus, nicht einmal
ans Fenster.
Nach ein paar Tagen kam der Mann, der uns in Syrien an die Grenze
gebracht hatte. Er führte uns in den Keller. Wir hatten Angst, er bringt uns
um. Aber er brachte uns in ein Fotostudio. Dort wurden wir für unsere neuen
Pässe fotografiert. Eine Woche später kam derselbe Mann mit den Pässen. Er
sagte:
"Ihr habt noch vier Stunden Zeit. Dann fliegen wir."
Meinen 'türkischen' Pass habe ich nie in der Hand gehabt. Er blieb
immer beim Schlepper. Er brachte uns Anzüge und ein Kleid für die Frau. Wir
trafen uns mit einer anderen Gruppe. Wir waren jetzt sechs oder sieben Leute.
Als Touristen flogen wir nach Deutschland.
Meine Initiation in die deutsche Gesellschaft Ich bin kein Kriegsflüchtling. Als Kriegsflüchtling sucht man ein Leben
in Sicherheit, ohne Angst und mit genug zu essen.
Ich kam hierher aus politischen Gründen, meine Sicht
war anders. Ich musste mein Land verlassen. Aber ich suchte auch neue
Lebenswelten und - unbewußt - 'die westliche Welt'. Es war ein Schritt ins
Ungewisse. Manche Menschen haben das Bedürfnis, ins Ungewisse zu gehen. Manchmal frage ich mich, wieso bin ich hier
an diesem Ort, in diesem Zipfel der
Welt? War der Grund für mein Weggehen meine Situation oder war ich es selber?
Vielleicht bauen wir unser Leben selber
mit unseren Gedanken.
Am Anfang war ich enttäuscht über die Verschlossenheit der Deutschen.
Ich habe Misstrauen gespürt, weil ich fremd war.
Ich fand keinen Zugang zu den Menschen. und fühlte mich ausgeschlossen.
Alles hier ist grau und viel zu perfekt. Viel große imposante
Architektur. Aber die Menschen sind irgendwie fern. Ich habe mich gefragt, wo
ist hier das Leben?
Dann kam ich in das Asylbewerberwohnheim in Heilbronn. Das war immer
noch nicht das richtige Deutschland. Wir kamen aus vielen verschiedenen
Ländern, und obwohl alle kaum Deutsch sprachen, waren wir eine Gemeinschaft.
Wir haben mit Händen und Füßen geredet, wie in einem modernen Theater. Aber wir
haben miteinander und nicht aneinander vorbei gesprochen.
Ich hatte den Mut und den Willen, die fremde Kultur für mich zu
erobern.
Ich wollte raus aus dem Wohnheim und das richtige Leben finden.
Ich habe jemandem ein Bild angeboten für die Nutzung eines Raumes in
einem Keller in der Stadt. Er überließ mir den Raum für 6 Monate. Das war mein
erstes - heimliches - Atelier in
Deutschland, eine erste Andeutung von Freiheit. Denn im Wohnheim durfte ich
nicht malen.
Ich durfte nicht malen.
Meine Bilder und Farben wurden eingesammelt und weggeschlossen.
Ich durfte die Sprache nicht lernen.
Ich durfte nicht arbeiten.
Ich durfte HN nicht verlassen, obwohl ich über den Künstlerbund
Heilbronn die Möglichkeit hatte, in anderen Städten auszustellen.
Die Residenzpflicht zwang mich, diese Einladungen abzulehnen.
Damals habe ich das alles akzeptiert.
Heute würde ich das nicht mehr ertragen. Es ist demütigend und
verletzend.
Kommunikationsstörung Nach dem Wohnheim fing mein Leben als Einzelwesen an. Dabei geht es in
die Isolation, an die wir uns unbewusst, langsam, gegen unseren Willen
gewöhnen. Ich spüre, die deutsche Gesellschaft bewegt sich in dem Raum zwischen
Individualismus und Kapitalismus. Das führt zu Vereinzelung und Einsamkeit.
In Deutschland hört man oft den Ausdruck 'Vitamin B' und wie wichtig es
ist. 'Vitamin B' bedeutet Beziehungen. Beziehungen, die man braucht, um etwas
zu erreichen. Auch im Beruf braucht man
sie, wenn man vorwärts kommen will.
Wichtig ist doch eigntlich was jemand macht, wie er es macht,
unabhängig von 'Vitamin B' und Werbung, meine ich zumindest.
In Deutschland fehlt die echte Kommunikation. Menschlichkeit und die
Beziehungen zwischen den Menschen brauchen Kommunikation als Bindemittel.
Internet und Zeitungen sind zwar manchmal aufregend aber nicht
kommunikationsfähig. Ich merke wohl, die Menschen reden, aber sie reden mehr
mit ihren Hunden, als miteinander.
Wenn ich durch die Stadt gehe, beobachte ich die Menschen. Sie nehmen
die Welt um sich herum kaum wahr. Sie haben es eilig und immer das Handy am Ohr
oder sie tippen drauf herum. Sie sehen mich nicht. Manchmal frage ich mich: wer
bin ich? - wie bin ich? - Wo ist das Ich der Anderen?
Heute habe ich ein dauerhaftes Bleiberecht. Ich habe mein Studium
anerkennen lassen, spreche gut Deutsch und habe ein Netzwerk von Freunden.
Trotzdem spüre ich hier keine Sicherheit. Bin ich heimatlos? Ich hänge zwischen
diesen beiden Begriffen: Sicherheit und Heimatlosigkeit.
Ich bin wie die Palme, die aus der Wüste irgendwie hierher gekommen ist
und drinnen in der Wärme weiterwächst. Aber ich werde draußen vermutlich nie
stehen wie eine Eiche und den Winter überleben. Ob die Palme drinnen in der
Wärme Früchte trägt, bleibt eine offene Frage.
Ich - der Andere Ich weiß nicht worin das Problem des Zusammenlebens von Ausländern und
Deutschen besteht. Liegt es an den Deutschen? Liegt es an den Ausländern? Aber
es ist, wie wenn man Wasser und Öl zusammengießt. Da weiß man auch nicht, liegt
es am Wasser oder am Öl.
Wenn du in einer Gruppe lebst, definierst du dich über die Gruppe. Als
Fremder In Deutschland ist es nicht einfach, in eine Gruppe hineinzukommen. Du
musst darum kämpfen, und es dauert oft lang. Für lange Zeit bist du allein der,
der dich definiert, und du bleibst immer der Andere.
Die Menschen in Deutschland haben ein großes Sicherheitsbedürfnis. Das
Fremde verunsichert und macht Angst. Deshalb ist alles genau geregelt.
Ich habe den Eindruck, den Menschen hier kommt vor lauter Regeln das
Leben abhanden. Viele Leute verwenden das Wort spontan. Aber was ist eigentlich
spontan in einem Land im dem alles geregelt ist?
Deutschland ist ein freies Land, in dem ich in einem Gestrüpp von
Vorschriften die Freiheit suche, Freiheit die ich nur auf der Flucht, auf dem
Weg von einem Land in das andere wirklich fühlte.
Die Kultur, in der ich aufgewachsen bin, hat mich geformt. In dem neuen
Land, in der neuen Kultur, werde ich neu geformt von Grund auf. Meine
Sozialisation in Syrien und meine Muttersprache nützen mir hier nicht viel.
Als ich nach Deutschland kam, habe ich mich gefragt, warum die Farbe
Weiß, weiß genannt wird. Eigentlich müsste man wieder ein Kind werden, wenn man
einen Weg in eine andere Kultur finden will. Dann würde man nicht fragen, warum
weiß, weiß heißt, und warum das Verb nicht am Anfang des Satzes sondern am Ende
steht. Man muss bereit sein, die Signale der anderen Kultur aufzunehmen und
anzunehmen wie ein Kind.
Umgang mit Ämtern Um zu verstehen, wie man am besten mit Ämtern und Behörden in diesem
Land umgeht, muss man als Ausländer immer Beweise in der Hand haben, schwarz
auf weiß, z.B. dass der Mond kleiner ist als die Sonne, nur so kann man eine
Genehmigung bekommen für den Umzug in eine andere Stadt zum Beispiel.
Man sollte die Nerven behalten, schnell einen Drucker und ein Paket
DINA-4 Papier besorgen, googeln und ausdrucken, was immer die wissen wollen,
z.B dass der Neckar zum Rhein fließt und nicht umgekehrt, oder dass das
Rhein-Main-Gebiet größer ist als Widdern, wo ich zur Zeit wohne.
Widdern hat 1000 Einwohner, keinen Bahnhof, einen sehr kleinen
Edekaladen und einen Bäcker zur Versorgung. Wenn ich zu Aldi oder Lidl möchte,
muss ich
8 km mit dem Fahrrad fahren.
Nach meiner Erfahrung in Heilbronn und Widdern als arbeitsloser
Innenarchitekt wollte ich aus beruflichen Gründen nach Wiesbaden umziehen. Die
Chancen in Heilbronn eine Stelle zu finden sind gering. Im Jobcenter verlangten
sie von mir den Beweis, dass es in Widdern und Heilbronn weniger
Innenarchitekten gibt als im Rhein-Main-Gebiet. Der Angestellte im Jobcenter
fragte mich: "Gibt es in Widdern keine Innenarchitekten?"
Ich bin mit 28 Jahren nach Deutschland gekommen, mit einer guten
Ausbildung und voller Energie und kreativer Ideen. Heute bin ich 35. In Widdern
fühle ich mich einsam und sehe keine Arbeits- oder Entwicklungsmöglichkeiten.
Ich habe in Deutschland die Freiheit gesucht. Gefunden habe ich
Meinungsfreiheit und Freiheit des Denkens. Aber die Freiheit hinzugehen, wo ich
will, und dort zu leben, wo ich will, habe ich nicht. Ich fühle mich wie in
einem Käfig..
Ich vermisse die Wärme, die zwischen den Menschen schwebt, und das
Licht, das bei Sonnenschein immer präsent ist. Ich warte immer auf die Sonne.
Wenn sie da ist, merke ich, wie die Gesichter sich verwandeln, sich öffnen.
Aber die Wärme zwischen den Menschen hier bleibt nicht. Sie sagt ganz schnell
Auf Wiedersehn.
Integration - eine schwierige Aufgabe Ich frage mich, ist Integration nur meine Aufgabe oder ist es auch eine
Aufgabe für die Einheimischen? Viele
Deutsche denken, dass sie die Aufgabe haben,
Ausländer zur Integration zu bewegen. Ausländer denken, dass sie sich
integrieren müssen. Und keiner weiß, wie es geht.
Oft wird Integration verstanden als Einpassen des Fremden in das
vorhandene System. Aber das System mit seinen unzähligen Regeln erstickt jede
Eigenart und jede Spontaneität im Keim.
Ich will mich nicht anpassen bis zur Selbstaufgabe und deutscher werden
als die Deutschen. Ich möchte 'der Andere' bleiben und meine Wurzeln nicht
verleugnen.
Integration ist eine Aufgabe für alle, die Deutschen und die Fremden.
Sich einpassen in das System reicht nicht. Ohne die Bereitschaft der
Einheimischen sich zu öffnen für das Anders-Sein des Fremden geht es
nicht.
Für mich ist Integration das Miteinander von Menschen unterschiedlicher
Herkunft, nicht das Nebeneinander. Es bedeutet, offen aufeinander zuzugehen,
mit Respekt vor dem Anderssein des Anderen und mit Neugier auf die Kultur des
Anderen.
Viele Ausländer kommen hierher als Flüchtlinge, so wie ich. Wir kommen
mit leeren Händen und voller Energie. Aber unsere Energie wird aufgefressen im
Irrgarten des Systems.
Das einzige was uns bleibt, ist unsere Kultur. Sie ist unser
Gastgeschenk für das Land, das uns aufnimmt.
Wenn die Regierung eine Dame wäre, würde ich ihr gerne sagen: Sehr
geehrte Frau Regierung, können Sie nicht die Löcher im Sieb des Systems in
bisschen größer machen? Ich habe viele Ideen, wie das gemacht werden
könnte. Ich verrate sie hier nicht. Ich
warte, bis wir uns treffen.
Deutschland hat mir viel Neues gebracht. Manches war schlecht. Anderes
war gut. Ich habe eine andere Sicht der Welt und andere Lebensweisen kennen
gelernt. Mein Horizont hat sich erweitert, mein Blick für andere Menschen auch.
Neue Visionen tauchten auf.
So kann das Pech, das dir im Leben widerfährt, manchmal unerwartete und
interessante Früchte tragen.
Ich habe in Deutschland gute Freunde gefunden, die ich nie vergessen
werde, auch wenn ich vielleicht in andere Länder weiterwandern werde.
Oft habe ich das Gefühl, sie sind so vertraut wie meine Freunde von
zuhause, obwohl sie aus diesem rätselhaften Deutschland kommen.
Man braucht Freunde, mit denen man seine Interessen teilen kann, wenn
man in einer fremden Gesellschaft heimisch werden will. Nur so kann Integration gelingen.
Eine gute Möglichkeit für Ausländer, hier Kontakte zu knüpfen, sind Vereine.
In südlichen Ländern ist das Leben und die Menschen offener, mehr nach außen
orientiert, und viel leichter zugänglich.
In Deutschland, wo die Türen fast immer verschlossen sind, können Vereine
Türöffner sein. Im Verein ist es als Ausländer leichter, Zugang zu finden zu
den Menschen.
So erhielt ich in diesem Land die Möglichkeit mich an Ausstellungen und
Kunstprojekten zu beteiligen, und ich lernte dabei viele interessante Menschen
kennen. Das geht aber nur, wenn man von Anfang an die Möglichkeit erhält, die
Sprache zu lernen. Das ist das Erste und Wichtigste. Sprache baut Brücken,
Brücken, die man als Fremder braucht.
Deutschland - Welt voller Pünktlichkeit Die Deutschen sind neugierig. Sie interessieren sich für meine
Gedanken.
Auch sind sie sehr zuverlässig. Ich habe Pünktlichkeit gelernt in
Deutschland. In meiner Heimat ist Zeit eher flexibel, nicht so starr wie hier.
Dadurch sind die Menschen entspannter. Hier denke ich manchmal: Was ist wichtiger, die Pünktlichkeit oder der
Mensch.
Es gibt einen Ausdruck in Deutschland, über den freue ich mich
jedesmal. Wenn mir jemand sagt: 'Kommst du gegen 9 Uhr', ist das viel
entspannter als wenn er sagen würde, 'um neun'. Es gibt mir einen kleinen
Spielraum, eine kleine Freiheit. Nach einigen Jahren mit meinen Freunden hier
in Deutschland, sehen diese selbst die Sache etwas lockerer. Mein Vorteil ist,
ich kann heute beides, entspannt sein aber auch pünktlich, je nachdem.
In jeder Kultur gibt es Vor-
und Nachteile, und überall gibt es auch Zwänge, die das Leben beeinflussen.
In dem Land meiner Herkunft
hat mich stets geärgert, dass man sich auf allgemeine Regeln, Absprachen und
Zeitvorgaben so wenig verlassen kann.
Hier in Deutschland ärgere
ich mich eher darüber, dass vieles überorganisiert ist.
Es fällt mir schwer, mich an
überzogene oder sogar unsinnige Regeln und den rechtwinkligen Perfektionismus
in diesem Land zu gewöhnen. Ich finde es schrecklich, immer pünktlich sein zu müssen und ein schlechtes Gewissen
zu haben, wenn ich einmal zu spät komme.
In Syrien, wie vielleicht
auch in anderen Ländern, gibt es überall, insbesondere bei den
Verkehrsbetrieben und öffentlichen Einrichtungen Raum für Verspätungen, die von
allen als wohltuend empfunden werden. Verspätungen machen dort das Leben erst
richtig gemütlich. Obwohl Verspätungen nach außen hin negativ dargestellt
werden, freut man sich innerlich über die zusätzlich gewonnene Zeit.
Dort wo das Leben perfekt geregelt zu sein scheint, wo
die Betriebe hocheffizient organisiert sind und damit Pünktlichkeit ein Muss,
werden alle Abläufe im Leben immer noch weiter beschleunigt. Ständig wird
Zeitmangel beklagt, und alle machen sich auf die Suche nach der Zeit – die sie niemals finden.
Zeit hier in Deutschland ist
knapp wie der Regen in der Wüste.
Zeitmangel scheint ein Teil
der Lebensart hier zu sein. Kann es sein, dass es hier zur Tradition gehört,
dass man wenig Zeit hat? Stress und wenig Zeit zu haben, ist ansteckend. Je
mehr Stress einer hat, umso bedeutender fühlt er sich.
Ich vermisse die freie Zeit,
obwohl ich sie haben müsste.
Ein deutscher Freund, der
öfter von Stress und Zeitmangel geplagt wurde, obwohl er Rentner ist, erzählte
mir, was er von einem Afrikaner gelernt hat:
Der sagte einfach: - Setz
dich hin, dann kommt immer mehr Zeit.
Die Antwort des Deutschen:
Aber die Uhr läuft!
Darauf der Afrikaner lachend: You have the clock, we have the time.
Ich wusste, dass mir Jahre
des Wartens bevorstanden. Doch ich konnte mir den Stress nicht vorstellen, der
mich und jeden, der in diesem Land strandet und keine Ahnung hat, wie das Leben
hier läuft, einfängt.
Deutschland ist eine Welt
voller Pünktlichkeiten.
Ich bewundere die Deutschen
und habe Respekt davor, wie sie sich der immer fehlenden Zeit und dem Leben
hier anpassen und Schritt halten mit der ständigen Beschleunigung.
Die Maschinen in den
hochentwickelten Ländern steuern heute im wahrsten Sinne des Wortes den
Menschen. Und ich, der Syrer, versuche seit Jahren, mich an das Leben im
Steuerungssystem der Maschinen anzupassen.
Deswegen sage ich, es gibt keine Verbesserung der Lebensbedingungen,
wenn man hierher kommt, sondern nur eine Veränderung, solange bis du dich an
die neuen Bedingungen gewöhnt hast. Erst dann kann sich deine Situation langsam
verbessern.
Hier leben? Ob ich hier auf Dauer leben könnte? - Vielleicht, wenn ich eine
Perspektive hätte.
Leider habe ich die bisher nicht. Ich habe einen Hochschulabschluss aus
Syrien, der mir hier nichts nützt.
Ich kam auf die Idee, mich selbständig zu machen, um endlich von der
staatlichen Unterstützung wegzukommen,
Ich wollte ganz klein anfangen. Aber ich wurde ausgebremst von all den
gesetzlichen und steuerlichen Auflagen. Wie kann ich etwas Eigenes aufbauen,
wenn ich nicht ausprobieren kann, ob es funktioniert?
Ich möchte unabhängig sein, mein eigenes Geld verdienen. Ideen hätte
ich genug. Trotzdem bin ich ratlos in dem Dschungel aus Gesetzen und
Vorschriften.
Ich kann und will die Kultur meiner Heimat nicht verleugnen. Wenn ich
viele Jahre, vielleicht mein ganzes Leben hier verbringe und die Sprache
fehlerfrei beherrsche, werde ich auch lernen, 'den Deutschen' perfekt zu
spielen. Vielleicht werde ich mich sogar in der deutschen Gesellschaft zuhause
fühlen. Aber im Herzen bleibe ich immer Emad, der Syrer.
Emad der Syrer
aufgeschrieben von Lilo Klug
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