Rosa Speidel (* 1943) in der
Batschka im heutigen Serbien geboren
 Frau
Speidel während einer Lesung im Kurzentrum von Bad-Birnbach/Bayern (2010)
 Frau
Speidel: "Tag der Heimat", Liederhalle Stuttgart(2012)
 Frau
Speidel: Kurzlesung "Lyrik" in privatem Kreis(2015)
Lesung ihrer Lebensgeschichte
im Palais Epstein in Wien
 Rosa Speidel im Rahmen einer Veranstaltung am 22.
Mai 2012 im Palais Epstein in Wien, bei der die Biographien vier deutscher
Frauen der Kriegsgeneration vorgestellt wurden, die exemplarisch für Millionen
Vertriebene aus den Ost- und Südostgebieten Europas stehen.
 Der zum
Vortragssaal umfunktionierte Innenhof des Palais Epstein war zum Bersten voll.
Viele Menschen standen in den Gängen oder verfolgten das Geschehen aus den
Fenstern der oberen Stockwerke.
 Ziel der Veranstaltung und des gleichnamigen Buches
„Schicksalswege vertriebener Frauen“ ist, die Geschichte von Flucht und
Vertreibung aus der Perspektive der Frauen zu betrachten und aufzuschreiben.
 Rosa
Speidel erzählt von ihrer frühesten Kindheit in einem Internierungslager für
arbeitsunfähige Deutsche im ehemaligen Jugoslawien und von ihren Erfahrungen
als Schulkind mit deutschem Namen in einer serbischen Schule.
Lyrische
Collagen von Rosa Speidel
Erbsünden
1 Wieso
geht es uns heute so schlecht?
Jeder sagt ... Keiner hört zu Der Weg zur
Selbstverwirklichung Überfordert Die Richtung geht
verloren Wahlfreiheit und
Selbstbestimmung Die Qual der Wahl wird
zur Tortur
Ich bin verwirrt Meine Freunde kenne ich
nicht mehr Auch ich bin unkenntlich
geworden Ich lebe satt Nicht alle sind es Wenn ich mein Essen verschenkte Fräßen es die Hunde der
Korruption auf Bevor die Hungrigen den
Tisch erreichen
Wären aber alle satt Lebten wir dann in einer
besseren Welt?
Ich bin da, wo ich bin,
ohne mein Zutun Wieso bin ich satt? Es schmeckt mir, ich
kann es nicht leugnen Ginge es anderen gut, wenn
ich verhungerte? Wer überlebte statt
meiner?
Ich habe Glück und teilte
es gerne Jedoch die Hände, die am
lautesten betteln, sind gefälscht Bedürftige schreien
nicht mehr nach Almosen Oder doch? Woran erkenne ich
Bedürftige?
Zufällig hier angespült
im schützenden Hafen Sorge ich mich um jene
auf hoher See Hilft es ihnen Wenn ich hinaus schwimme
in den Orkan Bereit, unterzugehen? Solidarität?
Wer lacht, ist
schadenfroh Hat seinen Freund übers
Ohr gehauen Und prahlt Die ihm nach dem Munde
reden Schleimen Schon morgen werden sie
ihr Ohr hinhalten müssen Degradiert zum
schlagenden Argument Sie werden es nicht
einmal bemerken
Ich darf sprechen oder
schweigen Wofür soll ich mich
entscheiden? Ich fürchte, es ist egal
Sich damit abfinden, was
unveränderbar Ist das weise? In sich ruhen und
abgeklärt irgendwo stehen Ist das Weisheit?
Furcht habe ich keine
mehr Soll ich Alles wagen? Mich aus allem
heraushalten?
Meine Wünsche sind
gegenwärtig Wenn ich sie begrabe,
tauchen ihre Geister auf Böses mit Gutem
vergelten, kann ich nicht Gewalt verabscheue ich Ich erwürgte sie mit
bloßen Händen
Ich habe schon blutigere
Zeiten erlebt Vergessen kann ich nicht Vergeben?
2 Wieso
war damals alles so blutig?
Als ich kam, war Krieg Mann nannte ihn, den
Zweiten Weltkrieg Ich trug den falschen
Namen - einen deutschen
Sie schlugen auf uns
ein: Zuerst die Nazis, weil
wir uns versteckten Dann die Russen, weil
wir für sie Nazis waren Die Partisanen
schließlich Nahmen unser Land und
unser Recht
Nach jeder Invasion schrumpfte
unsere Zahl Wir waren aber da
Hitler-Deutschland hatte
den Krieg verloren Titos Rache trieb uns
aus den Häusern
Viehwaggons verschluckten
unsere Jugend Und spuckten sie im
Tiefschnee wieder aus Vor Sowjet-Kohlegruben
Folterkammern Vernichtungslager Für den wehrlosen Rest
Wanzen, Läuse, Flöhe vermehrten
sich dort Wir nicht Ruhr, Typhus, Malaria
für uns Unsere Kleider für die
Mörder
Wir waren aber immer
noch da
Todesmühlen klapperten
im Partisanentakt Aus Massengräbern ragten
Knochen Ausgegraben und
verbrannt Verwischte Spuren Menschenasche,
Menschenstaub
„Auf dem Schinderplatz
liegt nur Kadaver“ Sagten sie „Erschießen werden wir
euch Wenn ihr sagt, was ihr
gesehen Ihr habt ja nichts
gesehen, oder?“
Die Meisten, die gesehen
hatten Waren tot Ich war noch ein Kind Wir bettelten um Brot Es gab Barmherzigkeit
hinter vorgehaltenen Händen
Die Herrschenden
erklärten uns für vogelfrei Wir hatten keine Flügel Ihre Kugeln trafen uns
am Boden Wir gruben Gräber Unsere eigenen
Nach drei Jahren Genozid Waren wir so gut wie
frei Als
Bergwergslager-Sklaven Zwölf Stunden
Schwerstarbeit Sechs Tage in der Woche
Arbeitskinder-Stimmen Erstickten in den Tiefen Unter Kommandanten Die keine Buchstaben
kannten
Blut klebte an Mörderuniformen Sie wechselten die Farbe Kaschierten die
Geschichte Schrieben rote Bücher Voller Helden
Und die Welt glaubte
ihnen
Ich war noch ein Kind Wir bettelten um Brot Es gab Barmherzigkeit
hinter vorgehaltenen Händen Ich habe überlebt
3 Kann
der Mensch sich ändern?
Ihr seid geboren in
einer besseren Zeit Ihr müsst nicht mehr
betteln um Brot, weil ihr Deutsche seid Ihr kennt keinen Hunger Ihr habt jedoch eine
Vergangenheit, weil ihr Deutsche seid Erbsünden Die Katholiken deren
zwei Die eine wird von Gott
vergeben Die andere zwingt ins
Büßerhemd Auf Ewigkeit
Die Qual knurrender
Eingeweide ist euch allen fremd Die Qual der Wahl, die
euch täglich plagt Könnt ihr kaum ertragen Sie ist zuweilen ätzender
als Hunger Ihr sitzt im prallen
Nest Schlagt übermütig mit
den Flügeln Und lasst euch hin und
wieder schlagen Weil ihr Deutsche seid
War doch alles, was war,
in euren Augen verwerflich Asche über unser Haupt Aber auch an
(schein)heiligen Händen klebt Blut Den ersten Stein wirft
immer die Unschuld Und die ist längst
begraben
Was sind schon ein paar
Hunderttausend Lebend zerstückelter
deutscher Kinder Auf dem Balkan Gegen Millionen anderswo? Sie spielen keine Rolle
Trotzdem erinnere ich an
sie Vielleicht gelingt es
euch Über uns, euch selbst zu
finden Unsere Fehler als
Zeichen zu deuten
Wenn ich erzähle Spreche ich vielleicht eine
fremde Sprache Ich werde euch schreiben Zwischen den Zeilen ist viel
Platz für eure Gedanken
4 Euer Internet kokst um
die Welt Ihr müsst damit umgehen Mit der Globalisierung
und mit eurem Krieg Und dem Rad Das ihr neu zu erfinden
versucht
Es ist euer Kampf um die
Macht an der Basis
Ihr müsst euch nicht überfahren
lassen Ihr dürft auch überleben Selbst wenn ihr Deutsche
seid
Vielleicht werdet ihr
Kinder haben Die wieder betteln
müssen um Brot Weil ihr Deutsche seid
Wenn euch Menschlichkeit
begegnet Neben der Qual der Wahl,
dem Rausch Und dem Schwindel im Rad Lasst eure Seele
entscheiden Egal wo und wer ihr seid
5 Für meinen Vater und die
unzähligen toten deutschstämmigen Zwangsarbeiter, die Ende 1944/45 aus Rumänien
und Jugoslawien in Viehwaggons in die sowjetischen Kohlereviere nördlich des
Schwarzen Meeres transportiert wurden. Ihre Grabstätten in Bombenkratern und
Schützengräben mussten 1949 eingeebnet werden. Das Gebiet gehört heute zur
Südukraine und es gibt dort neue Bombenkrater und Schützengräben.
tot im Donetsbecken
Wildgänse
kreischen über der Steppe Jahr für
Jahr Ankunft -
Aufbruch – Flucht – Gefahr. Geister
schlagen Nummern aus dem
Blech der Identität. Der
Refrain von Zwangsarbeit und Tod ist lange
schon verstummt, verschollen,
das Lager von einst. Der
Letzte, der noch wusste wo, ist
gestern auch gegangen. Die Steppe
hat ihn aufgefangen.
Es ist
noch Platz im Schützengraben.
Bei minus
dreißig Grad waren sie
gekommen neunzehnhundertfünfundvierzig zum Aufbau
der Sowjetunion. In
einundzwanzig Tagen Fahrt gepfercht
in Viehwaggons. Schnee an
den Wänden Schnee zu
essen Schnee zu
trinken tief
gefroren ihr spärlicher Kot.
Ihre
Gebeine stecken im Geröll und in den
Bombenkratern. Wildernde
Hunde graben mit
hungrigen Pfoten.
Ausgelaugt
von Eis und Regen und vom
Steppenwind schreitet
die Vergangenheit in
Fünfer-Reihen zum Schacht Roter Oktober, in dem das
Wasser sie täglich ertränkt. Der
Fünf-Jahresplan ist brüchig. Die Norm
wird wieder nicht erfüllt. Es gibt
kein Geld und nichts zu essen. Die Bohlen
knicken ein, der
Stollen bricht in sich zusammen. Mumien
versinken. Ertrinkende Larven in
wässriger Suppe.
Wanzen und
Läuse saugen ihre Reste auf, und die
Hyänen der Savanne verdauen
die letzte Erinnerung, währen
Wildgänse zum Aufbruch mahnen und zur
Flucht.
6 Auszug aus einer
vierteiligen lyrischen Collage mit dem Titel „Erbsünden“ Tele
2 und 4
Wieso war
damals alles so blutig?
Als ich
kam, war Krieg Mann
nannte ihn, den Zweiten Weltkrieg Ich trug
den falschen Namen - einen deutschen
Sie
schlugen auf uns ein: Zuerst die
Nazis, weil wir uns versteckten Dann die
Russen, weil wir für sie Nazis waren Die Partisanen
schließlich Nahmen
unser Land und unser Recht
Nach jeder
Invasion schrumpfte unsere Zahl Wir waren
aber da
Hitler-Deutschland
hatte den Krieg verloren Titos
Rache trieb uns aus den Häusern
Viehwaggons
verschluckten unsere Jugend Und
spuckten sie im Tiefschnee wieder aus Vor Sowjet-Kohlegruben
Folterkammern Vernichtungslager Für den
wehrlosen Rest
Wanzen,
Läuse, Flöhe vermehrten sich dort Wir nicht Ruhr,
Typhus, Malaria für uns Unsere
Kleider für die Mörder
Wir waren
aber immer noch da
Todesmühlen
klapperten im Partisanentakt Aus Massengräbern
ragten Knochen Ausgegraben
und verbrannt Verwischte
Spuren Menschenasche,
Menschenstaub
„Auf dem
Schinderplatz liegt nur Kadaver“ Sagten sie „Erschießen
werden wir euch Wenn ihr sagt,
was ihr gesehen Ihr habt ja
nichts gesehen, oder?“
Die
Meisten, die gesehen haben Waren tot Ich war
noch ein Kind Wir
bettelten um Brot Es gab
Barmherzigkeit hinter vorgehaltenen Händen
Die
Herrschenden erklärten uns für vogelfrei Wir hatten
keine Flügel Ihre
Kugeln trafen uns am Boden Wir gruben
Gräber Unsere
eigenen
Nach drei
Jahren Genozid Waren wir
so gut wie frei Als
Bergwergslager-Sklaven Zwölf
Stunden Schwerstarbeit Sechs Tage
in der Woche
Arbeitskinder-Stimmen Erstickten
in den Tiefen Unter
Kommandanten Die keine
Buchstaben kannten
Blut
klebte an Mörderuniformen Sie
wechselten die Farbe Kaschierten
die Geschichte Schrieben
rote Bücher Voller
Helden
Und die
Welt glaubte ihnen
Ich war
noch ein Kind Wir
bettelten um Brot Es gab
Barmherzigkeit hinter vorgehaltenen Händen Ich habe
überlebt
7 Euer
Internet kokst um die Welt Ihr müsst
damit umgehen Mit der
Globalisierung und mit eurem Krieg Und dem
Rad Das ihr
neu zu erfinden versucht
Es ist
euer Kampf um die Macht an der Basis Ihr müsst
euch nicht überfahren lassen Ihr dürft auch
überleben Selbst
wenn ihr Deutsche seid
Vielleicht
werdet ihr Kinder haben Die wieder
betteln müssen um Brot Weil ihr
Deutsche seid
Wenn euch
Menschlichkeit begegnet Neben der
Qual der Wahl, dem Rausch Und dem
Schwindel im Rad Lasst eure
Seele entscheiden Egal wo
und wer ihr seid
8 Muttersprache
Mit
Verachtung straften sie mich Weil ich
den falschen Namen trug Und Dass ich
mich zum Teufel scheren solle Riefen sie
mir nach
Ich war
ein Kind Verstand
kein Wort Obwohl ich
ihrer Sprache mächtiger Als sie
selbst
Später
jagten mich andere davon Mit
Gespött Weil ich
die falsche Sprache sprach Ich solle
erst mal reden lernen so wie sie Bevor ich
mich hier nieder lasse Aber – das
ist doch meine Muttersprache Versuchte
ich, mich freizusprechen Sie
lachten über mich
Ich
begriff Lernte
reden so wie sie
Und
erschrak
Denn mir
wurde klar Es ist ein
Fehler, so wie sie zu reden
Übersicht Erzählwerkstatt
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Eine Kindheit als Geächtete
Vertreibung, Internierung, Verlust der Heimat Schicksalswege vertriebener Frauen
Beitrag von Rosa Speidel
Menschliche Brutalität ist gnadenlos, vor allem, wenn sie
durch Rachefeldzüge geistig irregeleiteter Staatsmänner legalisiert worden ist.
Die anvisierten Opfer haben keine Chance. Wer Massaker und Gewalt überlebt hat,
wird nie wieder zu seinem ursprünglichen Leben zurückfinden. Bei Kindern
hinterlassen derlei Erfahrungen bleibende Irritationen, da sie nur schwer ein
normales Verhältnis zu ihrem Dasein aufbauen können. Ich war so ein Lager- und
Kriegskind, das mit sich und der Welt auf Kriegsfuß stehen musste, kaum dass es
stehen konnte. Im Laufe meines Lebens habe ich versucht, mir alles Leid von der
Seele zu schreiben. Das war und ist meine Therapie, um weiter-leben zu können. Ich heiße Rosa Speidel und bin 1943 in der Batschka im
heutigen Nordwestserbien geboren. Für diejenigen, die sich dort auskennen: mein
Geburtsort hieß Batsch-Sentivan oder Prigrevica Sveti Ivan - heute heißt er nur
noch Prigrevica. Als ich Anfang 1945 mit meinen beiden Großmüttern in das
Vernichtungslager Gakovo kam, war ich knapp zwei Jahre alt. Meine Mutter wurde
bereits Ende Dezember 1944 in die Sowjetunion zur Zwangsarbeit deportiert. Mein
Vater entschied sich für die ungarische Armee, da die Batschka von 1941 bis
1945 vollständig zu Ungarn gehörte und unsere Familie sich ohnehin von
Hitler-Deutschland distanziert hatte. Wie wir später erfuhren, befand sich mein
Vater ab Ende Okt. 1944 in sowjetischer Gefangenschaft. Er hat nicht überlebt. In Gakovo wurden damals alle deutschen Waisenkinder
eingesammelt, mit falscher Identität ausgestattet und in verschiedene
Kinderheime Jugoslawiens verteilt. Um mir dieses Schicksal zu ersparen,
erklärte meine Oma Eva (Großmutter mütterlicherseits) mich kurzerhand zu ihrer
Tochter. Ich trug ihren Familiennamen bis zu meinem neunten Lebensjahr. Meine frühen Erinnerungen aus den Jahren 1945/46 sind
punktuell, nicht kontinuierlich, jedoch so präzise, dass gravierende Ereignisse
als scharfe Bilder und kurze Szenen fest in meinem Gedächtnis, vor allem
aber auf der Gefühlsebene haften. Unsere erste Behausung in Gakovo war ein dunkler, schmaler
Raum ohne Möbel mit vereisten Wänden. Auf dem Fußboden lag eine dünne Schicht
Stroh, die sich immer feucht und kalt anfühlte. Die Eingangstüre, ursprünglich
mit Glasfüllung, und das Fenster waren mit Latten und Brettern zugenagelt. An
Türe und Rahmen steckten anstelle des ausgeschlagenen Schlosses zwei krumme
Nägel; die Türe wurde mit einer Schnur notdürftig verschlossen. Wenn die
Partisanen hereinstürmten, trat immer einer mit dem Stiefel dagegen. Dieses
Geräusch vergesse ich nicht. Eine Stimme schrie „Stoj!“, und wir beeilten uns,
so aufrecht wie möglich zu stehen. Ich zitterte. Oma Eva raffte mich in die
Falten ihres Rockes und hielt mir den Mund zu, weil ich mit den Frauen mit
schrie, die von den dunklen Gestalten herausgeholt wurden. Ich sehe noch heute
die Öffnung des Gewehrlaufes – das Loch war stets auf meiner Augenhöhe. Dieses
Loch verfolgte mich jahrzehntelang. Im Traum wurde es größer und größer – meine
Angst schwoll zur Panik, bis ich im Sog dieses dunklen Loches verschwand und
aufwachte. Manchmal bildete ich mir ein, getroffen worden zu sein, und glaubte
für Sekundenbruchteile, mein Kopf sei nicht mehr da. Ich sah meinen eigenen
kopflosen Hals. Ich sah so aus, wie die Männer, denen die Partisanen mit dem
Gewehrkolben den Schädel zertrümmerten. Mit weiteren Details werde ich Sie
verschonen, es wäre zu makaber. Bereits damals hat mein Instinkt einen „Gegenpol“ zu den
Alpträumen entwickelt. Wenn ich große Schmerzen ertragen musste, wurde ich
ohnmächtig und ich begann im Traum zu fliegen. Ich sah die Erde aus der
Vogelperspektive. Auch hier kann ich mich an viele Details erinnern, obwohl ich
mein Umfeld noch nie zuvor in der Vogelperspektive gesehen hatte. Das Gefühl,
fliegen zu können, wurde so realistisch, dass ich bei Tag meine Arme ausbreitete
und hochsprang wie ich es im Traum tat. Ich hob aber nicht ab und sehnte mich
danach, wieder einzuschlafen, um wegfliegen zu können. Das große Sterben setzte im Winter 1945/46 ein. Typhus,
Ruhr, Malaria, Unterernährung, Ungezieferplage – die Verantwortlichen hatten
den Tod aller eingesperrten Donauschwaben bewusst herbeigeführt. Man kann es
sich heute nicht vorstellen, dass Menschen so etwas überhaupt überleben. Wir
bekamen kein frisches Stroh, hausten wie verwahrloste Tiere in stinkenden Räumen, da viele es nicht mehr rechtzeitig nach draußen
schafften. Hinter jedem Haus befand sich ein Misthaufen mit Donnerbalken, der
für uns Kinder viel zu hoch war. Eine Beschreibung dieser Örtlichkeit erspare
ich Ihnen. Wir lagen immer dicht nebeneinander, um uns gegenseitig zu
wärmen. In der oberen Reihe fünf/sechs Gestalten und unterhalb ebenfalls
fünf/sechs. Wir Kinder krochen irgendwo dazwischen unter. Wer morgens tot war,
wurde hinaus in den Gang gezerrt. Dafür kamen spätestens am nächsten Tag andere
Leute dazu. Für mich waren alle fremd. Socken, Strümpfe oder gar Schuhe besaß niemand. Unsere Füße
steckten zwischen Fußlappen und Stroh in derben selbstgeschnitzten Holzschuhen
(sogenannten Klumpen). Das Stroh wurde steif, wenn man die Klumpen aus-zog. Wer
keine Klumpen besaß, konnte im Winter nicht vor die Türe. Tags-über war ich die
meiste Zeit alleine, oder ich schlich durch den Hinterhof in ein anderes Haus,
in dem andere Kinder auch alleine waren. Die Erwachsenen mussten arbeiten oder
sie gingen zum Betteln. Es kam oft vor, dass Mütter und Großmütter mehrere Tage
außerhalb des Lagers verbrachten. Manche kehrten gar nicht mehr zurück, weil
sie erschossen oder erschlagen worden waren. Die Lagerverpflegung bestand aus einigen Löffeln Wassersuppe
ohne Salz mit kleinen dunklen Punkten. Wir nannten diese Suppe „Popelsuppe“,
vermutlich waren es winzige Käfer. Hin und wieder bekamen wir einen undefinierbaren
Brei und oder ein Stückchen „Steinbrot“, das nach nichts schmeckte und erst
hinuntergeschluckt werden konnte, wenn man es eine Weile im Mund aufweichen
ließ. Es gab auch tagelang gar nichts. Wir Kinder suchten in allen Ecken,
selbst auf Misthäufen, nach Essbaren.
Hierzu ein Auszug aus meinem ersten Büchlein, das den Titel
„Prügelmädchen“ trägt. Der Text heißt
Lagerkinder Sie sind wie streunende Hunde, immer unterwegs auf der Suche
nach Essbarem, die Kinder im Internierungslager des zweiten Weltkrieges. Wenn sie müde sind, kauern sie in einer Ecke, in der sie
sich notfalls ein-igeln, wenigstens hinterrücks geschützt. Sie keifen, knurren und sie beißen und prügeln sich um jeden
Bissen. Der Bissen ist viel zu mager für alle und deshalb wird er
den Stärkeren unter ihnen gehören. Deren Stärke wird wachsen, weil sie etwas zu
beißen haben. Dafür werden die kleinen Schwachen kleiner und schwächer. Wen
wundert’s, wenn sie hässlich und krank sind, wenn sie eingehen? So lange sie können, ziehen sie mit den Großen durch die
Gassen, wühlen in Misthaufen, buddeln immer nach etwas und finden meistens
nichts. Ihre Haut gleicht einem erloschenen Vulkan, dunkel und leblos. Der
Staub von Monaten bröckelt von ihr ab. Es gibt kaum sauberes Wasser. Und wenn
sie welches finden, ist es viel zu kostbar zum Waschen. Sauberes Trinkwasser! Sie lachen nicht, sie weinen nicht. Sie schreien höchstens.
Sie haben keine Mimik mehr. Ihre Gesichter hängen versteinert an den Köpfen.
Ihre Seelen liegen irgendwo. Kinder, die zufällig auf die Welt gekommen sind
und die im Krieg niemand brauchen kann. Sie stören, sind lästig, über-flüssig,
zu nichts nütze. Sie wollen essen. Was? Es gibt nichts! Vertrieben, weggescheucht, vor die Tür gesetzt werden sie.
Das Fell der Kleinen sträubt sich, die Augen triefen, die Kräfte schwinden.
Irgend-wann klappt ihr Kartenhäuschen zusammen. Was übrig bleibt, sind Knochenruinen. Niemanden kümmert es, wenn sie (ein)gehen, wenn sie gegangen
sind. Ein hungriges Maul weniger!
Im Winter war der Schnee unser Trink- und Waschwasser.
Niemand besaß Heizmaterial. Nachts trippelten Ratten auf der Suche nach Nahrung
über unsere Körper. Wer sich länger nicht bewegte, wurde angeknabbert. Läuse,
Flöhe, Wanzen bissen sich an uns fest. Ich kann mich an Pusteln am ganzen
Körper erinnern, die schrecklich juckten und bluteten, weil ich ständig
kratzte. Mein Haar war grau und verfilzt. Oma schnitt mit einer stumpfen Schere
alles von meinem Kopf, was nach Haaren aussah. Es muss die Zeit der
Typhus-Epidemie gewesen sein, denn im offenen Gang vor den Zimmern stapelten
sich Leichen. Manche waren nackt, manche in zerlumpte Decken gewickelt. Es war
eine Selbstverständlichkeit, dass ein Toter keine Kleidung mehr brauchte. Im Hinterhof unseres Hauses befand sich eine Scheune, in die
man die Leute hineinlegte, die sterben mussten. Sie lagen dort auf gefrorener
Erde. Niemand kümmerte sich um sie. Ab und zu gingen Männer zwischen den Reihen
hindurch und sammelten Gestorbene ein. Dass Tote mehrere Tage zwischen den noch
Lebenden lagen, war keine Seltenheit. So lernte ich in meiner frühesten
Kindheit Tod und Verwesung als einen natürlichen Prozess kennen. Eines Tages schleppten zwei Männer meine Resibase in diese
Scheune. Jemand hatte ihr die Jacke gestohlen. Resibase war nur noch in eine gestreifte
Lumpendecke eingerollt, so habe ich sie in Erinnerung. Sie war meistens krank
und lag schlafend in unserer Stube. Wie man mir später erzählte, war sie eine
Nachbarin von zu Hause, die mich bereits als Baby beaufsichtigte. Ich wollte
Resibase nicht verlieren. Obwohl niemand in diese Scheune durfte, saß ich
stundenlang neben ihr auf der eisigen Erde und wartete, bis sie die Augen
öffnete. Wenn sie mich erkannte, sagte sie jedes Mal: „Geh weg! Du darfst nicht
hier sein, hörst du, geh jetzt!“ Ich konnte nicht verstehen, warum sie mich
wegschickte und ging erst, nachdem es draußen dunkel geworden war und ich
zurück in unser kaltes, dunkles Gemäuer musste. Ich war dabei, als zwei Männer meine Resibase aus dem
Schuppen zerrten und auf eine Karre warfen. Den Schmerz spüre ich noch heute.
Ich ging oft zu jenem Schuppen, setzte mich an die Hauswand und sah zur
Scheunentüre hinüber, obwohl ich wusste, dass Resibase nicht herauskommen
konnte, weil sie gar nicht mehr drin war. Diese Trauer um Resibase war die
schmerzlichste Zeit meiner Erinnerungen an das Vernichtungslager. Alle anderen
Grausamkeiten, wie zerschlagene Gesichter, blutende Wunden, verwesende Menschen,
das krabbelnde Kleingetier habe ich als „normalen Lageralltag“ abgespeichert,
aber diesen Verlust, das Gefühl des Alleine-gelassen-seins, konnte ich lange
nicht verarbeiten. Obwohl meine beiden Großmütter, Eva und Anna, immer wieder
da waren, bedeutete mir Resibase am meisten. Sie war eine der wenigen
Bezugspersonen meiner frühen Kindheit. So etwas wie Geborgenheit gab es in
Gakovo ohnehin nicht.
Waisenkinder waren lästig, und es war gefährlich, verwaiste
Kinder nicht in die Kinderhäuser zu bringen. Folgende Begebenheit scheint dies
zu unter-streichen: Als Oma Eva tagelang nicht vom Betteln zurückkam, dachten
alle im Haus, sie sei nicht mehr am Leben. Eine alte Frau schrie mich an, ich
solle verschwinden, packte mir etwas in meinen Wollumhang, band mir das Bündel
auf den Rücken und schickte mich auf die Straße hinaus. Ich ging. Es dämmerte,
wurde kühl aber nicht kalt, und ich wollte mir ein Nachtquartier in einer der
zur Ruinen am Ortsrand suchen. Unterwegs dorthin begegnete ich Oma Anna, die
gerade vom Arbeitseinsatz kam. Sie brachte mich zurück, obwohl ich nicht in das
Haus zurück wollte. In der Zwischenzeit war aber Oma Eva wieder da. Sie hatte
schrecklich geweint, damals konnte ich nicht verstehen, warum. Da alle Häuser und damit auch die Straßen durch die Gärten
miteinander verbunden waren, hatten wir trotz des Ausgangsverbotes einen recht
großen Aktionsradius. Wir Kinder schlichen durch die Gärten bis zu den Ruinen
am Ortsrand und von dort zum Friedhof, weil wir wussten, dass auf dem Friedhof
immer was los war. So makaber dies heute klingen mag, aber unsere Kinderstube
war nun mal das Vernichtungslager, Tote spielten in unserem Lagerleben eine
alltägliche Rolle. Wir versteckten uns im Gebüsch oberhalb der Massengräber und
sahen stundenlang zu, wie die Leichen in die Gruben verfrachtet wurden. Ich
kann mich auch noch an Männer erinnern, die nackt und völlig abgemagert ein
Loch graben mussten und dann hineingeschossen wurden. Einmal rutschte ein
Partisan in das Loch, weil er mit dem Stiefel einen Erschossenen hinein stoßen
wollte. Ich lachte.
Kinder unter zwei Jahren hatten so gut wie keine
Überlebenschancen. Hierzu ein Auszug aus meinem Buch „Überdosis“, in dem ich
Erzählungen vieler Zeitzeugen zu einem Roman zusammengefasst habe. Fünf
Familien durch-leben exemplarisch für viele Tausend die Torturen der
Deutschstämmigen am Rande des zweiten Weltkrieges.
„…Während der nächsten Wochen rollen in Gaumarkt täglich
Kindertransporte aus anderen Lagern an. Die Kinder sind verdreckt, verlaust und
halb verhungert. Sie liegen wie wertloser Plunder übereinander auf Heuwagen.
Bei manchen baumeln die Köpfe über dem Bretterverschlag, bei anderen die Füße.
Die Kleinen hängen quer da-zwischen. Die Säuglinge unter ihnen sind fast alle
tot. Sobald sich Lagerinsassen um die Kinder kümmern wollen, schlägt die
bewaffnete Miliz zu. In den provisorischen Kinderhäusern sortieren vier
angebliche Ärzte die Todgeweihten eines jeden Transportes aus und lassen sie in
Scheunen bringen. Die anderen sollen in verschiedenen Kinderheimen des Landes
zu guten Staatsbürgern erzogen werden. Man beginnt damit bereits in Gaumarkt.
Noch bevor die Kinder ausreichend zu essen bekommen, lernen sie serbische
Lieder auf deutsche Melodien „Unsere Eltern waren feige und wertlose Menschen,
darum mussten sie sterben. Wir wollen leben. Unser Körper und unsere Seele
gehören Tito, nur Tito und dem Kameraden Stalin.“ Da bei den Kindern das
natürliche Wachstum gestört ist, schätzt man viele Dreizehn- bis
Fünfzehnjährige auf zehn oder zwölf, gibt ihnen und allen Kleineren passende
einheitliche Geburtsdaten und serbisch klingende Namen.
Die Gescheitesten werden auf die Offiziersschule geschickt,
heißt es, die Zweitbesten zu Facharbeitern ausgebildet, alle anderen sollen als
Bauern und Arbeiter der Gemeinschaft und dem Staat dienen. Wir füttern diese
Faschistenbrut nicht umsonst durch. Sie müssen uns alles zurückzahlen, was ihre
Eltern kaputt gemacht haben.
Die Kindertransporte von Gakovo zu den Heimen außerhalb
verlassen das Lager fast immer nachts, während tagsüber neue Ochsenkarren und
Heuwagen voller kleiner Menschenleben hereinpoltern. Die Größeren, die noch
gehen können, marschieren neben den Wagen her und singen „Wir sind junge
Partisanen …“
Auch Marie Schaller zieht mit einer Gruppe von etwa dreihundert
Kindern durch die Hauptstraße. Allesamt verkrustet und voller Ungeziefer, aber
sie singen aus vollem Hals „Die Vögel ziehen nach Süden, dort ist es schöner
als hier, dort erwartet uns Tito, dort erwartet uns Stalin.“ Zuerst warten aber
vor dem Bahnhof mächtige fensterlose Transportwagen. Bewaffnete Miliz stopft
die Kinder in die grauen Gefängnisse. Die Kinderstimmen verstummen. Blechtüren
krachen ins Schloss. Rostige Riegel schieben sich in die Verankerung. Motoren
lärmen los. Soldaten treiben Zuschauer von der Straße. …“
Unsere Haut war grau verkrustet. Ich erinnere mich, dass ich
über meine rosa Haut staunte, nachdem ich die graue Kruste an meinen Armen
weggekratzt hatte. In meiner Erinnerung ist alles aus jener Zeit grauschwarz.
Viel-leicht gab es damals wirklich keine Farben.
Farben bekamen meine Erinnerungen erst, nachdem Milizionäre
in dunkel-blauer Uniform für das Lager zuständig waren.
Es muss Sommer 1947 gewesen sein. Oma Eva nahm mich
mittlerweile immer öfter mit hinaus zum Betteln. Wir liefen barfuß, ich
stolperte, hatte blutende Zehen. Evas Schritte hörte man nicht, obwohl sie
selbst schwerhörig war. Sie steuerte zielsicher ganz bestimmte Bauernhöfe an.
Bitte Brot!, sagte sie, wenn eine Stimme hinter dem Tor fragte Wer ist da? Was
willst du?, und wenn wir etwas bekamen, bedankte sie sich mit Vergelt’s Gott
und bekreuzigte sich. Manchmal sagte sie auch Gott segne euer Haus und
zeichnete mit der Hand ein Kreuz in die Luft. Ich kann mich aber auch an
Bettelgänge erinnern, bei denen derbe Stimmen Hunde auf uns hetzten. Ich rannte
weg und versteckte mich im Graben. Eva blieb stehen, zog ihren „Bettelsack“ mit
bei-den Händen vor die Brust, dabei ging sie ganz langsam rückwärts, manch-mal
redete sie leise auf die knurrenden Hunde ein, bis diese entweder von selbst
umkehrten oder der Bauer sie zurückpfiff. Eva wurde nie von einem Hund
gebissen. Später habe ich mich dabei ertappt, dass ich mich in ähnlichen
Situationen instinktiv genauso verhielt wie Eva.
Was muss damals in meiner Großmutter vorgegangen sein.
Daheim war sie eine wohlhabende Bäuerin, die mit Gesinde und Erntehelfern Haus
und Hof führte, den Leuten Arbeit und Brot gab; diese Bäuerin musste nun in zerlumpter
Kleidung betteln gehen, um nicht zu verhungern. Eva hat die Tortur überlebt.
Zerbrochen an Leib und Seele starb sie mit 68 Jahren und sah aus wie 98.
Wir verdanken unser Überleben jenen Bauern auf den Höfen um
Gakovo.
Es muss ebenfalls im Sommer 1947 gewesen sein, als ich Eva
einige Male aus dem Gefängnis holte. Die blau Uniformierten schossen meist in
die Luft und verpassten uns Kindern nur ab und zu ein paar Ohrfeigen. Die
Wachen kamen nicht mehr in die Häuser, um uns etwas wegzunehmen. Und sie waren
nicht immer betrunken wie die Partisanen. Wenn die Blauen jemanden erwischten,
der vom Betteln in das Lager zurückkehrte, schlugen sie nicht gleich zu, und
sie nahmen den Leuten das Essen nicht weg. Man wusste immer, wer wo erwischt
und eingesperrt worden war. Evas Schwester schickte mich mehrere Male ins
Gefängnis, um nachzusehen, ob Oma wirklich dort war. Den Kindern tun sie
nichts, du brauchst keine Angst zu haben, hämmerte sie mir ein. Am Anfang hatte
ich große Angst. Ich hatte aber gelernt, mit der Angst zu leben, denn sie war
Hauptbestandteil meines Daseins. Die Männer in den dunkelblauen Uniformjacken
mit den goldenen Knöpfen trugen meisten Schirmmützen und beeindruckten mich
schon deshalb, weil die Uniformen immer sauber waren. Also schlich ich ins
Gefängnis und wurde prompt jedes Mal erwischt. Ich habe damals bereits recht
gut serbisch gesprochen, weiß aber nicht, wo ich es gelernt habe. Zu einem
dieser Wachposten „in blau“ soll ich gesagt haben, als er mich am Arm packte
und fragte, wo ich hin wolle, meine Oma holen, die du eingesperrt hast, nur
weil sie Essen für mich besorgen wollte.
Jener Mann in blauer Uniform nahm mich an der Hand, ging mit
mir den langen Gefängniskorridor entlang, blieb vor jeder Türe stehen, hob mich
hoch, damit ich durch das Oberlicht in den Raum schauen konnte und fragte ist
das deine Oma? In einer der letzten Kammern saß Oma Eva mit gesenktem Kopf auf
dem Fußboden neben ihrem Bündel. Auch dies sind Bilder, die ich nie vergessen
werde. Ich sehe die Sonnenstrahlen, die durch die Öffnung im oberen Teil der
Türe den dunklen leeren Raum in Licht und Schatten teilten. Der Milizionär
sperrte die Türe auf und ging. Ich schlich hinein. Oma hob den Kopf. Ich
stürmte auf sie zu. Das Gefühl, du bist wieder da, du lebst, du bringst etwas
mit, kann man nicht beschreiben. Denn über Jahre hinweg zu hungern, ist heute
bei uns schwer vorstellbar. Ein andermal war Eva mit vielen Lagerleuten in einem großen
Raum eingesperrt. Vom Korridor aus konnte man durch ein Schiebe-Fenster
schauen, das für mich nur einzusehen war, wenn ich mich am Fenstersims
festhielt und auf die Zehenspitzen stellte. Ich rief Evas Namen durch das
geschlossene Fenster. Die Leute sagten, sie sei nicht da, ich solle wieder
gehen, bevor mich die Miliz erwischt. Ich klammerte beharrlich am Sims und rief
immer wieder Eva Weißgerber. Plötzlich stand sie hinter dem Fenster mit Tränen
in den Augen. Die anderen Frauen weinten mit. Wie ich die Türe öffnete, weiß ich nicht mehr. Die Leute
strömten heraus. Eva kam auch, packte mich und zerrte mich in eine Ecke. Bei
dieser Begebenheit fielen Schüsse. Es gab Tote. Die Hintergründe weiß ich
nicht. Eva und ich entkamen durch Hinterhof und Gärten. Bei schönem Wetter streiften wir Kinder ständig in kleinen
Gruppen umher. Wenn wir Hunger hatten, lutschten wir Steine, knabberten Gras
und Blätter, kneteten aus Staub, Wasser und Fantasie kleine Brotlaibe,
trockneten sie in der Sonne und aßen unser selbstgebackenes Brot mit Genuss.
Nachdem wir aus dem Vernichtungslager entlassen worden waren und es mehr zu
essen gab, versuchte ich es wieder mit dem Brotbacken aus Staub und Wasser,
aber es schmeckte mir nicht mehr. Ich fand’s irgendwie schade. Im Herbst 1947 nahm Eva mich auch mal über Nacht mit auf
einen Bauernhof. Während sie arbeitete, durfte ich so viel Brot essen und
Milch trinken, wie ich wollte. Im Vernichtungslager habe ich gelernt, mich unsichtbar zu
machen, zu schweigen, auch wenn mir schreckliche Schmerzen zugefügt werden. Ich
habe gelernt, nichts wert zu sein, mich nicht zu beschweren, mir selbst zu
helfen, denn ich war überzeugt, dass Schwaben minderwertig sind und niemand
ihnen helfen darf. Gegen Ende 1947 Anfang 1948 wurde niemand mehr
totgeschlagen, aber wir lagen immer noch alle auf dem Fußboden. Und wir waren
definitiv weniger wert als alle anderen. Ein einziger Herd im Haus für 30 Leute und mehr. Wir haben
nie in einem Haus gewohnt, dessen Brunnen noch Wasser führte. Immer mussten wir
irgendwo bei Nachbarn unser Wasser holen. Erst ab 1947 gab es öfter warmes Essen aus eigener Küche,
aber nur, wenn man es sich selbst organisierte. Wir sammelten außerhalb des
Lagers Holz oder Reisig, trockenes Gras und trockenen Kuhdung und schleppten es
ins Lager. Die Miliz drückte allmählich beide Augen zu. Als wir aus dem Lager entlassen wurden, besaßen wir nichts –
gar nichts. Meine Großmutter versuchte mit primitivsten Mitteln ein
menschenwürdiges Dasein zu schaffen. Unsere erste Behausung war ein
zerschossener Sallasch in der Nähe der Provinzhauptstadt. Dort hatten wir zum
ersten Mal einen eigenen Brunnen vor der Türe. Ein einziger Raum war bewohnbar,
die Mäuse schauten durch die Löcher der Zimmerdecke, denn die war auch zerschossen.
Im Herbst zogen wir in einen ehemaligen Schafstall direkt hinter dem Donaudamm.
Der Schafstall hatte ein Strohdach. Wenn es regnete, hingen Omas Henkeltöpfe
und Schüsseln an den Balken, um das Wasser aufzufangen. Der Vorteil hierbei
war, wir brauchten kein Trinkwasser aus dem einige Hundert Meter entfernten
Brunnen zu holen. Ich war nicht gewohnt, mit Besteck zu essen, einen eigenen
Teller zu haben, mich täglich zu waschen, mir regelmäßig den Po zu putzen. All das, was ein Kind normalerweise mit zwei oder drei
Jahren lernt, musste ich mit fünf Jahren lernen. Wir sind doch kein Gesindel,
betonte Oma immer wieder, als sie versuchte, mir die einfachsten Manieren
beizubringen. Worauf ich prompt fragte, ob wir denn im Vernichtungslager
Gesindel gewesen seien. Als wir in jenem Schafstall hausten, waren die Donau und die
Sümpfe zum Greifen nah. Schlangen krochen zu uns in den Stall, wenn wir nicht
aufpassten, und die Stechmücken saugten uns aus. Später als wir wieder in Prigrevica wohnen wollten, bot man
uns nur Ruinen an. Immer, wenn wir einen oder zwei Räume in einer Ruine
bewohnbar gemacht hatten, mussten wir wieder ausziehen. Man holte uns nachts das wenige Heizmaterial aus dem
Schuppen, die Hühner aus dem Stall und die Eier aus den Nestern. Wir durften
uns nicht beschweren. Nur ein bissiger Hund rettete unsere Habe, aber auch er
wurde vergiftet. Vorurteile sind Gift für menschenwürdiges Zusammenleben. Und
doch sind Vorurteile in jedem Land, in jedem Volk populär.
Hierzu ein Auszug aus einem meiner noch unveröffentlichten
Manuskripte.
„… Das Schuljahr hatte begonnen, ich kam in das
Klassenzimmer der ersten Klasse in Prigrevica. Vor mir saß ein Mädchen mit
langen blonden Zöpfen. Die Läuse krabbelten durch ihr dichtes Haar. Das Mädchen
kratzte sich ständig. Ich beobachtete die Läuse. Seit Gakovo hatte ich keine
Läuse mehr, denn Eva puderte mich fast täglich ein. Es war die Zeit, als Eva
mir zu erklären versuchte, dass wir besser seien als diese verlausten
Schafhirten aus den Bergen. Eines Tages besuchten wir ein Klassenzimmer, in dem ältere
Schüler saßen. An einer Wand hing eine breite schwarze Tafel, daneben ein
großes Papier mit Wörtern, darüber ein eingerahmtes Bild von einem
Partisanenführer, der auf uns her-unter schaute. Er muss mindestens ein
Kommandant sein, dachte ich, weil er statt des Schiffchens eine Schirmmütze
trägt mit einem blank polierten roten Fünfzack. „Das ist unser Präsident Kamerad Tito“, sagt Lehrerin Anka.
„Und das“, sie zeigt auf das Papier mit Wörtern neben der Tafel, „das heißt
wie?“ Die Lehrerin fixierte die Klasse. Alle strecken zwei Finger nach oben.
Ein Junge in der vorderen Bankreihe wurde aufgerufen. „Tod dem Faschismus - Freiheit dem Volke!“, schrie er. Ich erschrak, weil er so schrie. „Hast du das verstanden?“, fragt die Lehrerin ausgerechnet
mich. Ihr Gesicht war weit oben und drohte. Ich zog meinen Kopf ein, wusste nicht, was ich sagen sollte
und schaute auf den Boden. „Wiederhole!“ „Tod ...“ mehr fiel
mir nicht ein. Meine Stimme war sowieso weg, selbst wenn ich etwas gewusst
hätte, hätte ich es nicht sagen können. Der Tod erschreckte mich nicht, aber
die Lehrerin mit dem drohenden Gesicht flößte mir Angst ein. Wir bezogen regelmäßig Kollektiv-Schläge mit der Rute quer
über unsere Köpfe. Tatzen waren die häufigsten Einzel-Strafmaßnahmen, je nach
Strafmaß zehn oder zwanzig Rutenschläge entweder auf den Handrücken oder auf
die Handinnenflächen. Wer seine Hand zurückzog, erhielt die doppelte Ration.
Die ganze Klasse zählte mit. In der ersten Klasse stand ich häufig vorne in der Ecke
zwischen Tafel und Kachelofen, das war die Strafe für zu vieles Reden, nicht
aufrecht sitzen oder nicht wissen, was die Lehrerin gesagt hatte. In der Pause gab es oft Prügeleien, nicht nur unter den
Buben, auch die Mädchen hieben aufeinander ein, bissen, kratzten und spuckten. In der zweiten Klasse traute ich mich nicht, meinen
richtigen Namen zu sagen. Wenn mich Schüler aus anderen Klassen nach dem Namen
fragten, erfand ich einen serbischen. Ich sagte meinen deutschen Namen nur,
wenn es sich nicht vermeiden ließ. Wenn dann die Größeren erfuhren, dass ich
eine Schwabiza bin, zerrten sie mich während der Pause hinter die Kirchenmauer,
warfen mich zu Boden und spuckten mich an. Spuck sie an, das ist eine Schwabiza! diesen Satz werde ich
nie vergessen. Dass ich in Prigrevica geboren bin, glaubte mir damals kaum
jemand von den Mitschülern, denn man erzählte, hier hätten Faschisten gelebt,
die alle aus Angst vor den Partisanen geflohen seien, deshalb die leeren
Häuser. Ich wusste lange nicht, welches mein Geburtshaus war. Ich nehme an, Oma
Eva hat es mir ganz bewusst nicht gesagt, damit ich mir in meiner kindlichen
Naivität nicht mehr schade, als dies durch meinen Namen ohnehin schon der Fall
war. Als ich in der Klasse einmal von Gakovo erzählte und dass
die Partisanen dort Leute geschlagen und umgebracht hätten, verpasste mir die
Lehrerin so lange Tatzen auf den Handrücken bis meine Haut platzte. Wenn ich
noch ein einziges Mals solche Lügen verbreite, werde sie dafür sorgen, dass ich
von der Schule fliege. Ich solle froh sein, überhaupt auf eine serbische Schule
gehen zu dürfen. Damals habe ich all diese Dinge geglaubt, und ich war
überzeugt, dass wir Schwaben weniger wert sind als andere. In der dritten Klasse hatten wir eine Lehrerin, die Ungarin
war, sie half mir, wenn sie sah, dass ich von anderen verprügelt oder
angespuckt wurde. Danach wurde ich auf dem Nachhauseweg verhauen. Ich hatte in
den ersten Jahren meiner Schulzeit panische Angst vor anderen Kindern. Etwas besser wurde es erst in der vierten und fünften
Klasse. Der Hass auf Schwaben steckte jedoch tief. Am Ende der Vierten fand
eine Art mündliche Prüfung in serbischer Grammatik bei der Direktorin der Schule
statt. Ich wusste auf alle Fragen die richtigen Antworten. Die Direktorin sagte
sehr gut, wie heißt du? Als ich meinen Namen nannte, zog sie die Augenbrauen
hoch, sah mich an und meinte Was, du bist eine Schwabiza? Dann bekommst du die
Note „gut“, es kann nicht sein, dass eine Schwabiza in Serbisch die Note „sehr
gut“ hat, weil Serbisch nicht deine Muttersprache ist. Dieselbe Lehrerin prophezeite mir ein Jahr später, als ich
immer noch „sehr gut“ in Serbisch war und die Note „gut“ bekam, dass ich mich
anstrengen könne so viel ich wolle, eine Schwabiza wird nie einen Platz in
einem serbischen Gymnasium bekommen, ich solle mir da gar keine Hoffnungen
machen. Gegen Ende des Schuljahres wurde von der fünften und
sechsten Klasse eine Ausstellung der besten Arbeiten in Handarbeit und Kunst
gemacht. Mein Beitrag dazu war ein weißes Deckchen, auf das ich mit roten
Kreuzstichen ein selbst entworfenes Muster gestickt hatte. Zwei Tage vor
Ausstellungsende war das Deckchen verschwunden. Eine Mitschülerin aus der Parallelklasse
hatte es mit nach Hause genommen, weil es ihr so gut gefiel. Ich ging zu ihr,
um mein Deckchen zu holen, sie wollte es mir nicht geben. Ihre Mutter war der
Meinung, dass Schwaben nichts besitzen dürften, und das Deckchen somit ihnen
gehöre. Ich behauptete, die Lehrerin habe mich geschickt, weil sie das Deckchen
unbedingt wieder an seinem Platz in der Ausstellung sehen wolle. Die Mutter gab
mir das gute Stück, ich musste aber versprechen, es vor den Ferien wieder zu
bringen. Damals litt ich sehr darunter, Deutsche zu sein, ich wollte
einfach zu den anderen gehören und tat alles, so zu sein wie sie. Als ich mein
erstes rotes Pioniertuch feierlich überreicht bekommen hatte, verpasste mir
meine Mutter eine Ohrfeige. Sie war aus Russland über Deutschland nach
Jugoslawien gekommen, als ich knapp neun Jahre alt war, sie fand keine Arbeit,
wurde immer mit dem gleichen Satz abgewiesen Was bist du, eine Schwabzia. Wir
haben keine Arbeit. Meine Mutter hasste alles, was mit den Kolonisten aus den
Bergen zu tun hatte. Ich sang inzwischen aus vollem Hals die jugoslawische
Nationalhymne und alle anderen Tito-Lieder, die die jugoslawische Jugend sang.
Ich strampelte mich bei Turnwettbewerben ab, redete den Dialekt der Leute aus
der Lika. Irgendwie schaffte ich es, dass ich zu Titos Geburtstag in die
Stafetten-Läufer-Elite aufgenommen wurde. Ich war so stolz. Meine Mutter bekam
ein rotes Gesicht vor Wut, aber sie wagte es nicht, mir die Teilnahme zu
verbieten. Ich wurde als Schlussläuferin eingeteilt und durfte die Stafette mit
all den guten Wünschen auf dem Schulhof an Titos Gesandten übergeben. Es war
der stolzeste Moment meiner Schwabiza-Karriere in Prigrevica. Damals hatte ich
das Gefühl, endlich dazu zu gehören. Als wir 1954 kurz vor Ferienbeginn mit dem
Zug nach Deutschland fuhren, kamen fast alle aus meiner Klasse zum Bahnhof.
Eine meiner Mitschülerinnen meinte, ich könne ja wieder zurückkommen, wenn ich
in Deutschland zu sehr hungern müsse, denn Deutschland sei doch so dicht
besiedeln, dass es für all die vielen Leute bestimmt nicht genug zu essen geben
wird. Jahrelang habe ich mir gewünscht, wieder zurückzukehren.
Denn in Deutschland waren wir Flüchtlingskinder und wieder die Gebrandmarkten.
Wir sprachen ein ganz anderes Deutsch, waren Fremde, obwohl wir Deutsche waren.
Anfangs lebten wir auch hier in Baracken-Lagern. Aber wir schliefen in sauberen
Betten, konnten uns waschen, bekamen regelmäßig zu essen. Ich hatte das Glück, aus dem Lager in ein Kinderheim zu
kommen. Die Zeit dort war hart, wir mussten in jeder freien Minute arbeiten, da
wir alles, was wir zum Leben brauchten, selbst anbauen mussten. Die deutsche
Sprache zu erlernen, hatte jedoch Priorität, so dass ich ein solides Fundament
zum Aufbau mitbekam. Später traf ich auf einen Klassenlehrer, der es gut mit
mir meinte. Ihm verdanke ich den Schlüssel zu meiner Integration. Seit meinem
18. Lebensjahr besitze ich die deutsche Staatsbürgerschaft. Ich weiß nicht, ob
eine richtige Deutsche aus mir geworden ist – irgendwie fühle ich mich immer noch
schuldig und manchmal minderwertig – dieses Brandmal aus meiner frühesten
Kindheit werde ich nicht los. Ich danke meinem Schicksal für die Milde, die es für mich
bereithielt, nachdem ich Vernichtungslager und Kommunismus überlebt hatte. Ich
danke aber auch all den Menschen, die damals auf den Höfen um Gakovo herum wohnten
und uns Kindern auch dann etwas zu essen gaben, wenn sie selbst nicht viel
besaßen. Ich danke den Männern in blauer Uniform, die uns wie Menschen
behandelt haben.
Als Abschluss ein Text ist aus meinem Buch „Nebelwild und
Wellenherzen“ mit dem Titel
SELBSTGEMACHTES
Ich ging hin (aus)schauend suchend Spät kehrte ich zurück brachte Freiheit mit und ein bisschen Selbstgemachtes: Gleichheit, Brüderlichkeit Gelegentlich hebe ich ab - immerhin - und ich ziehe davon mit Flügeln aus Wachs bis zum Mond Ich verbrenne nicht Den Sturz verkrafte ich den Bissen Freiheit schlucke ich hinunter und die Niederlagen und das bisschen Selbstgemachte unzerkaut assimiliert es sich im Verdauungsprozess Ich bin viele der Weg ist unser am Checkpoint gibt es Proviant und ein bisschen Selbstgemachtes Die Einfluss-Reichen laufen über und vorbei zum Meeting in die VIP Lounge feiern unter ihres gleichen während ich improvisiere mit dem bisschen Selbstgemachten Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit Die Zielgerade führt zum Richtungspunkt Bestandsaufnahmen sind nicht zu umgehe Gedopt wird überall Die Siegerehrung lässt sich Zeit Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit Doch ganz oben steht nur einer!
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