„Hier auch Lieb und Leben ist.“
Wie aus Dersim
Tunceli wurde
Bevor ich meine eigene Geschichte erzähle, muss ich etwas
weiter ausholen:
Im Jahr 1938, als mein Vater 14 und meine Mutter 7 Jahre alt
war, fand im August in der ostanatolischen Provinz Dersim ein Massaker an der alevitischen Minderheit statt.
Atatürk hatte 1936 Dersim wegen der widerspenstigen Aleviten
zum wichtigsten innenpolitischen Problem erklärt, weil sie nicht
zum Einheitssystem
sunnitischer Prägung passten. Deshalb sollte Dersim zwangstürkisiert werden. Die Provinz wurde nach dem Codewort
der Vernichtungsoperation in Tunceli (eiserne Faust) umbenannt.
Alle Städte Dörfer und selbst Menschen bekamen türkische Namen.
Meine Eltern lebten damals in großer Angst. Viele Kurden
litten Hunger, viele versteckten sich in Höhlen. Unsere Eltern erzählten uns
schreckliche Geschichten. Ich selbst sah noch Menschen, deren Arme
oder Beine fehlten, weil die Soldaten sie so verstümmelt hatten. 2011 entschuldigte sich Erdogan vor dem Parlament bei den Aleviten
für das Massaker in Tunceli.
Meine Familie
Wir sind acht Geschwister. Mein Vater war Lehrer in einem
Dorf bei Tunceli. Seine Schule bestand aus einem kleinen Zimmer; keine
Straße führte dorthin und es gab keinen Strom. Unter diesen Umständen wollte er dort nicht länger
unterrichten. Deshalb zog er ins Zentrum von Tunceli, wo er 1974 Schulsekretär
wurde. Später fand er eine Anstellung auf dem Rathaus und wurde zuständig
für das Bildungswesen der Stadt. Als er noch
nicht verheiratet war, erwarb er zwei Grundstücke in
Tunceli.
Auf dem einen erbaute
er ein einfaches Haus aus Steinen und
Lehm. Auf dem anderen errichtete er ein stabileres Haus aus Beton. 1969 bezog es einSupermarkt. Die Miete aus diesem Haus und das Lehrergehalt ermöglichte uns ein einfaches, aber relativ
sorgloses Leben.
Unsere Kindheit war unbeschwert. Wir spielten viel im Freien
mit unseren selbstgebastelten Spielsachen. Alle 14 Tage mietete mein
Vater einen Bus, mit dem wir hinaus aufs Land fuhren, damit wir die
Natur und die frische Luft genießen konnten.
Unser Vater war zwar autoritär und legte großen Wert auf Sauberkeit und
Disziplin. Rücksichtslosigkeit und lautes Benehmen duldete er nicht.
Aber zugleich war er gütig und bevorzugte niemanden. Töchter
und Söhne behandelte er gleich. Das kleinste Kind, auch wenn es erst zwei Jahre alt war, hatte das Recht,gehört zu werden. Wir übrigen
Geschwister mussten dann still
sein.
Meinem Vater als Lehrer war natürlich die Bildung sehr
wichtig. Da es in Tunceli nur ein einjähriges Gymnasium gab, zog er 1974 mit
uns nach Istanbul. Dort besuchte ich das Gymnasium für weitere zwei
Jahre und bestand dann die Prüfung zur Finanzamtsbeamtin. In dieser
Eigenschaft war ich dreieinhalb Jahre
tätig.
Weshalb wir die
Türkei verließen
Im Dezember 1978 gab es ein erneutes Massaker an den
Aleviten, dieses Mal in Maras. Als zwei als „Demokraten“ bekannte Lehrer
beerdigt werden sollten, wurden die Trauergäste von Rechtsradikalen
angegriffen. In der Folge wurden die alevitischen Stadtviertel Haus für Haus durchsucht. Die Häuser waren zuvor mit Kreuzen markiert
worden.
Ohne Rücksicht wurden die Bewohner umgebracht.
1979 besuchte mein späterer Mann, solange er noch Lehrer in
Tunceli war, eine seiner Tanten in Istanbul, wo wir uns
kennenlernten. Obwohl wir aus derselben Stadt stammten, hatten wir uns zuvor noch
nie geseen.
Ein kurzer Rückblick: Bevor wir heirateten, war mein Mann einige Zeit Lehrer in
einem Bergdorf bei Tunceli. Monatlich musste er sein Gehalt in Tunceli
abholen. Da es aber keine Verkehrsmittel von seinem Dorf nach Tunceli gab, musste er einen Fußmarsch von drei Stunden auf sich nehmen. Am nächsten Morgen trat er den langen Rückweg an. Wenn es
regnete, versank er bis zu den Knien in der aufgeweichten Erde. Einmal
begegnete ihm sogar ein Bär, der bis auf zwei Meter an ihn herankam.
Zum Glück hatte der Bär keinen Hunger und trottete friedlich davon.
1979 heirateten wir. 1979 war politisch eine schlimme Zeit in
der Türkei. Linke und rechte
Gruppen standen sich unversöhnlich gegenüber. Es gab viele Großdemonstrationen. Manche Teilnehmer
wurden ins Gefängnis geworfen oder erschossen. An einer dieser Protestaktionen, dievon einem Lehrerverein organisiert worden war, nahmen
auch mein Mann und ich teil. Weil mein Mann an diesem Tag nicht zur Arbeit gegangen war, musste er hinterher schriftlich begründen,
warum er an der Demonstration teilgenommen hatte. In seiner Begründung
klagte er die Willkür des Staates in Maras an. Bis zur
Gerichtsverhandlung bekam er nur noch dreiviertel seines Gehalts ausbezahlt.
Anschließend wurde er aus dem Staatsdienst entlassen.
Wir hatten Angst, dass wir vielleicht in der Folge ins
Gefängnis geworfen werden würden, wo es zu Folterungen und Tötungen kam. Es
wurden damals nämlich 17 000 Menschen umgebracht. Ich war im 4.Monat schwanger und wusste nicht, was noch passieren würde. Um
weiteren Repressalien zu entgehen, entschlossen wir uns, in
Deutschland einen Asylantrag zu stellen. Um unsere Fahrt nach Deutschland
finanzieren zu können, mussten wir die brandneuen Möbel, mit denen wir als
Frischverheiratete unsere Wohnung eingerichtet hatten, verkaufen.
Das tat natürlich sehr weh.
Ohne die Hilfe eines befreundeten türkischen Polizisten, der
für uns Pässe organisiert hatte, hätten wir die Türkei nicht verlassen können. Während der Zugfahrt lebten wir in ständiger Angst, man würde
uns aus dem Zug holen, wie es vielen Familien erging. Aber in unserem
Abteil saßen Musiker, die eingeladen worden waren, in Deutschland ein Gitarrenkonzert zu geben. Sie rieten uns, wir sollten uns als
Mitglieder ihrer Gitarrengruppe ausgeben. So geschah es dann auch und so
überstanden wird glücklich die gefährliche Fahrt durch Bulgarien.
Leben in Deutschland
Wir wurden von meiner Schwester in Stuttgart abgeholt, die
schon seit 1977 in Böckingen lebte. Bei ihr konnten wir sieben Monate
wohnen. Meinem Mann, der vorübergehend bei der Fa. Schmalbach, die
nicht mehr besteht, eine Arbeit gefunden hatte, wurde wegen mangelnder Sprachkenntnisse gekündigt. Auf dem Arbeitsamt erfuhren wir,
dass wir nach einem neuen Gesetz als Asylbewerber nicht arbeiten dürften, um
den Deutschen nicht die Arbeit wegzunehmen. So lebten wir von Sozialhilfe.
Wir durften uns auch nur im Raum von 30 km bewegen. Diese
Reisebeschränkung war sehr bitter für uns, denn mein Vater hatte 1982
eine lebensgefährliche Operation vor sich und wir wussten nicht, ob wir ihn je wiedersehen würden. Zuerst wurde uns die Ausreise verweigert.
Erst durch das Einschalten eines Rechtsanwalts erhielten wir die Genehmigung, Deutschland zu verlassen. Zum Glück überstand mein
Vater die Operation.
Nach siebenmonatiger Wohnungssuche zogen wir im September
1980 in eine Einzimmerwohnung in Neckargartach. In dieser Zeit
weinte ich viel, denn ich war ja sprachlos und folglich hilflos. Nicht
anerkannte Asylsuchende durften
keinen Sprachkurs besuchen. Erst als meine Tochter in den Kindergarten kam, lernte ich andere Landsleute kennen
Die Tochter einer Landsmännin, die in Heilbronn an einem Gymnasium
Schülerin war, half mir, bei der Stadtsiedlung eine größere Wohnung zu
finden, die wir bis 1984 im Haselter bewohnten. Als sich Schimmel an den
Wänden zeigte, half uns das Gesundheitsamt, eine Vierzimmerwohnung
in derZeppelinstraße zu finden. In der Zwischenzeit machte ich den
Führerschein.
Werdegang unserer
Familie in Deutschland
Solange die Kinder klein waren, wollten weder ich noch mein
Mann, dass ich außer Haus eine Arbeit annahm. Lieber schränkten wir uns ein,
hatten aber dafür behütete Kinder, die nicht auf die schiefe Bahn gerieten. Erst als unser Jüngster 10 Jahre alt war, nahm ich einen
Minijob an.
Mein Mann arbeitet in einer Druckerei. Unsere älteste Tochter
lebt als Fremdsprachenkorrespondentin in Marbach, die zweite Tochter
arbeitet nach medizinischer Ausbildung als Logopädin, und unser
jüngster Sohn hat vor, nach dem Abitur, das er zur Zeit ablegt, Wirtschaftsinformatik
zu studieren.
Leben in Deutschland
Wir fühlen uns wohl in Deutschland. Ein dreimonatiger
Sprachkurs an der VHS, meine Hilfe bei den Hausaufgaben unserer Kinder, mein
guter Kontakt zu deutschen Nachbarn haben dazu beigetragen, dass
ich Deutsch inzwischen gut verstehe. Überhaupt
gaben und geben mir die Nachbarn das Gefühl, willkommen zu sein. Wir geben uns
gegenseitig die Wohnungsschlüssel, wenn ein Urlaub ansteht, und als ich drei
Monate krank war, hat mir eine Nachbarin in dieser Zeit die Kehrwoche
gemacht. Ich habe kein Problem mit Menschen. Nationalität ist
mir gar nicht wichtig; viel wichtiger ist mir der Charakter eines Menschen. Allerdings bereuen
mein Mann und ich, dass wir keine Umschulung gemacht haben und bedauern, dass wir nicht so gut Deutsch
sprechen können, wie wir es uns wünschen, denn dann könnten wir eine
anspruchsvollere Arbeit,
als die, die wir zur Zeit ausüben, verrichten.
Ausblick
Inzwischen hat sich das politische Klima in der Türkei
verbessert. Den Kurden werden mehr Rechte eingeräumt. Neben türkischen
Straßennamen stehen nun z.B. auch kurdische Straßennamen. Auch Dörfer,
denen türkische Namen aufgezwungen worden waren, haben wieder ihre ursprünglich kurdische Namen erhalten. Der
Ausnahmezustand im Osten wurde
aufgehoben. Fernsehen und Unterricht in kurdischer Sprache sind erlaubt. Der Lehrerverein, den ich im
Zusammenhang mit den Geschehnissen in Maras erwähnte, ist einzwischen zu einer richtigen
Gewerkschaft geworden.
Obwohl mein Herz an meiner alten Heimat hängt, werde ich im
Alter in Deutschland bleiben, denn meine Kinder mit ihren Familien
leben hier. Aber so oft ich kann, werde ich die Orte meiner
Kindheit in Tunceli und meines jungen Erwachsenenlebens in Istanbul besuchen.
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