Türkei


Halide Durgun, geb. 02.08.1956 in Tunceli, Osttürkei

 

Übersicht Erzählwerkstatt

„Hier auch Lieb und Leben ist.“


Wie aus Dersim Tunceli wurde

Bevor ich meine eigene Geschichte erzähle, muss ich etwas weiter ausholen:

Im Jahr 1938, als mein Vater 14 und meine Mutter 7 Jahre alt war, fand im August in der ostanatolischen Provinz Dersim ein Massaker an der alevitischen Minderheit statt.

Atatürk hatte 1936 Dersim wegen der widerspenstigen Aleviten zum wichtigsten innenpolitischen Problem erklärt, weil sie nicht zum Einheitssystem  sunnitischer Prägung passten. Deshalb sollte Dersim zwangstürkisiert werden. Die Provinz wurde nach dem Codewort der Vernichtungsoperation in Tunceli (eiserne Faust) umbenannt. Alle Städte Dörfer und selbst Menschen bekamen türkische Namen.

Meine Eltern lebten damals in großer Angst. Viele Kurden litten Hunger, viele versteckten sich in Höhlen. Unsere Eltern erzählten uns schreckliche Geschichten. Ich selbst sah noch Menschen, deren Arme oder Beine fehlten, weil die Soldaten sie so verstümmelt hatten. 2011 entschuldigte sich Erdogan vor dem Parlament bei den Aleviten für das Massaker in Tunceli.

Meine Familie

Wir sind acht Geschwister. Mein Vater war Lehrer in einem Dorf bei Tunceli. Seine Schule bestand aus einem kleinen Zimmer; keine Straße führte dorthin und es gab keinen Strom. Unter diesen Umständen wollte er dort nicht länger unterrichten. Deshalb zog er ins Zentrum von Tunceli, wo er 1974 Schulsekretär wurde. Später fand er eine Anstellung auf dem Rathaus und wurde zuständig für das Bildungswesen der Stadt. Als er noch nicht verheiratet war, erwarb er zwei Grundstücke in Tunceli.

 Auf dem einen erbaute er ein einfaches Haus aus Steinen und  Lehm. Auf dem anderen errichtete er ein stabileres Haus aus Beton. 1969 bezog es einSupermarkt. Die Miete aus diesem Haus und das Lehrergehalt ermöglichte uns ein einfaches, aber relativ sorgloses Leben.

Unsere Kindheit war unbeschwert. Wir spielten viel im Freien mit unseren selbstgebastelten Spielsachen. Alle 14 Tage mietete mein Vater einen Bus, mit dem wir hinaus aufs Land fuhren, damit wir die Natur und die frische Luft genießen konnten.

Unser Vater war zwar autoritär  und legte großen Wert auf Sauberkeit und Disziplin. Rücksichtslosigkeit und lautes Benehmen duldete er nicht.

Aber zugleich war er gütig und bevorzugte niemanden. Töchter und Söhne behandelte er gleich. Das kleinste Kind, auch wenn es erst zwei Jahre alt war, hatte das Recht,gehört zu werden. Wir übrigen Geschwister  mussten dann still sein.

Meinem Vater als Lehrer war natürlich die Bildung sehr wichtig. Da es in Tunceli nur ein einjähriges Gymnasium gab, zog er 1974 mit uns nach Istanbul. Dort besuchte ich das Gymnasium für weitere zwei Jahre und bestand dann die Prüfung zur Finanzamtsbeamtin. In dieser Eigenschaft  war ich dreieinhalb Jahre tätig.

Weshalb wir die Türkei verließen

Im Dezember 1978 gab es ein erneutes Massaker an den Aleviten, dieses Mal in Maras. Als zwei als „Demokraten“ bekannte Lehrer beerdigt werden sollten, wurden die Trauergäste von Rechtsradikalen angegriffen. In der Folge wurden die alevitischen Stadtviertel Haus für Haus durchsucht. Die Häuser waren zuvor mit Kreuzen markiert worden.

Ohne Rücksicht wurden die Bewohner umgebracht.

1979 besuchte mein späterer Mann, solange er noch Lehrer in Tunceli war, eine seiner Tanten in Istanbul, wo wir uns kennenlernten. Obwohl wir aus derselben Stadt stammten, hatten wir uns zuvor noch nie geseen.

Ein kurzer Rückblick:
Bevor wir heirateten, war mein Mann einige Zeit Lehrer in einem Bergdorf bei Tunceli. Monatlich musste er sein Gehalt in Tunceli abholen. Da es aber keine Verkehrsmittel von seinem Dorf nach  Tunceli gab, musste er einen Fußmarsch von drei Stunden auf sich nehmen. Am nächsten Morgen trat er den langen Rückweg an. Wenn es regnete, versank er bis zu den Knien in der aufgeweichten Erde. Einmal begegnete ihm sogar ein Bär, der bis auf zwei Meter an ihn herankam. Zum Glück hatte der Bär keinen Hunger und trottete friedlich davon.

1979 heirateten wir. 1979 war politisch eine schlimme Zeit in der Türkei.  Linke und rechte Gruppen standen sich unversöhnlich gegenüber. Es gab viele Großdemonstrationen. Manche Teilnehmer wurden ins Gefängnis geworfen oder erschossen. An einer dieser Protestaktionen, dievon einem Lehrerverein organisiert worden war, nahmen auch mein Mann und ich teil. Weil mein Mann an diesem Tag nicht zur Arbeit gegangen war, musste er hinterher schriftlich begründen, warum er an der Demonstration teilgenommen hatte. In seiner Begründung klagte er die Willkür des Staates in Maras an. Bis zur Gerichtsverhandlung bekam er nur noch dreiviertel seines Gehalts ausbezahlt. Anschließend wurde er aus dem Staatsdienst entlassen.

Wir hatten Angst, dass wir vielleicht in der Folge ins Gefängnis geworfen werden würden, wo es zu Folterungen und Tötungen kam. Es wurden damals nämlich 17 000 Menschen umgebracht. Ich war im 4.Monat schwanger und wusste nicht, was noch passieren würde. Um weiteren Repressalien zu entgehen, entschlossen wir uns, in Deutschland einen Asylantrag zu stellen. Um unsere Fahrt nach Deutschland finanzieren zu können, mussten wir die brandneuen Möbel, mit denen wir als Frischverheiratete unsere Wohnung eingerichtet hatten, verkaufen. Das tat natürlich sehr weh.

Ohne die Hilfe eines befreundeten türkischen Polizisten, der für uns Pässe organisiert hatte, hätten wir die Türkei nicht verlassen können. Während der Zugfahrt lebten wir in ständiger Angst, man würde uns aus dem Zug holen, wie es vielen Familien erging. Aber in unserem Abteil saßen Musiker, die eingeladen worden waren, in Deutschland ein Gitarrenkonzert zu geben. Sie rieten uns, wir sollten uns als Mitglieder ihrer Gitarrengruppe ausgeben. So geschah es dann auch und so überstanden wird glücklich die gefährliche Fahrt durch Bulgarien.

Leben in Deutschland

Wir wurden von meiner Schwester in Stuttgart abgeholt, die schon seit 1977 in Böckingen lebte. Bei ihr konnten wir sieben Monate wohnen. Meinem Mann, der vorübergehend bei der Fa. Schmalbach, die nicht mehr besteht, eine Arbeit gefunden hatte, wurde wegen mangelnder Sprachkenntnisse gekündigt. Auf dem Arbeitsamt erfuhren wir, dass wir nach einem neuen Gesetz als Asylbewerber nicht arbeiten dürften, um den Deutschen nicht die Arbeit wegzunehmen. So lebten wir von Sozialhilfe.

Wir durften uns auch nur im Raum von 30 km bewegen. Diese Reisebeschränkung war sehr bitter für uns, denn mein Vater hatte 1982 eine lebensgefährliche Operation vor sich  und wir wussten nicht, ob wir ihn je wiedersehen würden. Zuerst wurde uns die Ausreise verweigert. Erst durch das Einschalten eines Rechtsanwalts erhielten wir die Genehmigung, Deutschland zu verlassen. Zum Glück überstand mein Vater die Operation.

Nach siebenmonatiger Wohnungssuche zogen wir im September 1980 in eine Einzimmerwohnung in Neckargartach. In dieser Zeit weinte ich viel, denn ich war ja sprachlos und folglich hilflos. Nicht anerkannte Asylsuchende  durften keinen Sprachkurs besuchen. Erst als meine Tochter in den Kindergarten kam, lernte ich andere Landsleute kennen Die Tochter einer Landsmännin, die in Heilbronn an einem Gymnasium Schülerin war, half mir, bei der Stadtsiedlung eine größere Wohnung zu finden, die wir bis 1984 im Haselter bewohnten. Als sich Schimmel an den Wänden zeigte, half uns das Gesundheitsamt, eine Vierzimmerwohnung in derZeppelinstraße zu finden. In der Zwischenzeit machte ich den Führerschein.

Werdegang unserer Familie in Deutschland

Solange die Kinder klein waren, wollten weder ich noch mein Mann, dass ich außer Haus eine Arbeit annahm. Lieber schränkten wir uns ein, hatten aber dafür behütete Kinder, die nicht auf die schiefe Bahn gerieten. Erst als unser Jüngster 10 Jahre alt war, nahm ich einen Minijob an.

Mein Mann arbeitet in einer Druckerei. Unsere älteste Tochter lebt als Fremdsprachenkorrespondentin in Marbach, die zweite Tochter arbeitet nach medizinischer Ausbildung als Logopädin, und unser jüngster Sohn hat vor, nach dem Abitur, das er zur Zeit ablegt, Wirtschaftsinformatik zu studieren.

Leben in Deutschland

Wir fühlen uns wohl in Deutschland. Ein dreimonatiger Sprachkurs an der VHS, meine Hilfe bei den Hausaufgaben unserer Kinder, mein guter Kontakt zu deutschen Nachbarn haben dazu beigetragen, dass ich Deutsch inzwischen gut verstehe. Überhaupt  gaben und geben mir die Nachbarn das Gefühl, willkommen zu sein. Wir geben uns gegenseitig die Wohnungsschlüssel, wenn ein Urlaub ansteht, und als ich drei Monate krank war, hat mir eine Nachbarin in dieser Zeit die Kehrwoche gemacht. Ich habe kein Problem mit Menschen. Nationalität ist mir gar nicht wichtig; viel wichtiger ist mir der Charakter eines Menschen. Allerdings bereuen  mein Mann und ich, dass wir keine Umschulung gemacht haben und bedauern, dass wir nicht so gut Deutsch sprechen können, wie wir es uns wünschen, denn dann könnten wir eine anspruchsvollere  Arbeit, als die, die wir zur Zeit ausüben, verrichten.

Ausblick

Inzwischen hat sich das politische Klima in der Türkei verbessert. Den Kurden werden mehr Rechte eingeräumt. Neben türkischen Straßennamen stehen nun z.B. auch kurdische Straßennamen. Auch Dörfer, denen türkische Namen aufgezwungen worden waren, haben wieder ihre ursprünglich kurdische Namen erhalten. Der Ausnahmezustand  im Osten wurde aufgehoben. Fernsehen und Unterricht in kurdischer Sprache sind erlaubt. Der Lehrerverein, den ich im Zusammenhang mit den Geschehnissen in Maras erwähnte, ist einzwischen zu einer  richtigen Gewerkschaft geworden.

Obwohl mein Herz an meiner alten Heimat hängt, werde ich im Alter in Deutschland bleiben, denn meine Kinder mit ihren Familien leben hier. Aber so oft ich kann, werde ich die Orte meiner Kindheit  in Tunceli und meines jungen Erwachsenenlebens in Istanbul  besuchen.





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