Muhamet Idrizi (geb. 1983) im
Kosovo, lebt seit 1993 in Deutschland

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Ein Haus und seine Bewohner
Pfronstetten, Januar 2004
Heute ist der 22. März 2002, und ich bin irgendwo in einem 700- Seelendorf auf
der Schwäbischen Alb. Dieser wunderschöne Frühlingstag sollte ein wichtiger Tag
werden für die Bewohner eines Hauses. Dieses Haus, an der Straße auf der
rechten Seite, sieht aus wie nach dem Zweiten Weltkrieg erbaut. Die rosafarbene
Fassade, mit hässlichen Punkten, weil sie schon bröckelt und der Renovierung
bedürfte, sieht nicht gerade einladend aus. Ich frage mich: „Was verbirgt sich
dahinter?“ und beschließe einzutreten. Ich schreite in Richtung Haustür und
sehe zwei Briefkästen, die nicht sachgemäß angebracht sind und aussehen, als
seien sie ebenfalls seit dem Bau des Hauses nicht mehr gewechselt worden.
Der Versuch, Aufmerksamkeit zu erlangen in Gestalt von Klingeln, klappt auch
nicht – sie ist funktionsunfähig. Ich öffne die Tür und trete ein. Das erste,
was ich sehe, sind etliche Paar Schuhe auf dem Boden und ein Schuhschrank.
Daneben befinden sich einige Kästen Mineralwasser und ein Rollstuhl unter der
Treppe zum ersten Stock. Nachdem ich einen kurzen Moment gewartet habe, um
diesen Eindruck zu verarbeiten, höre ich oben Kinder und Erwachsene sich
angeregt und temperamentvoll unterhalten.
Ich gehe weiter und steige die Treppe hinauf. Das Geländer, an dem ich meine
rechte Hand führe. wackelt, das Knirschen der Treppe unter mir vermittelt ein
mulmiges Gefühl. Dieses Gefühl lässt mich nicht los, jeden Moment erwarte ich,
dass die Treppe zusammenkrachen und ich neben dem Mineralwasser auf dem Boden
landen könnte. Die knarzenden Stufen halten mich aus.
Oben öffnet sich eine braune Tür. Eine hinreißende junge Frau, ich schätze sie
nicht älter als 19 Jahre. Langes, lockiges, schwarzes Haar und wunderschöne
braune mandelförmige Augen, umrahmt von einer blauen Brille. Herzliche
Begrüßung. „Guten Tag, Sie werden schon erwartet!“ Im Flur des ersten Stockes
des Hauses höre ich erneut die Stimmen der Erwachsenen – direkt mir gegenüber.
Im ersten Moment sehe ich jedoch keine Tür. Erst nachdem die braune Tür
geschlossen ist, kommt eine andere, nicht sehr einladende graue Tür dahinter
zum Vorschein. Die Stimmen werden noch intensiver. Sie sind mit Freude und
Geselligkeit gefüllt. Ich beschließe, nicht einzutreten, da ich nicht weiß, was
mich dort erwartet und dieser Rollstuhl mich schon verunsichert hat.
Ich drehe mich einmal um mich selbst, um mir einen Überblick zu verschaffen. In
diesem Flur gibt es drei Türen mit dem gleichen grauen Farbton, wie jene mir
gegenüber, eine hinter mir und zwei rechts neben mir, sowie ein weißer Vorhang
zur Linken, der einen anderen Raum abtrennt. In einem kleinen Gang zwischen der
braunen Tür und diesem Vorhang fällt Licht durch ein Fenster in den Flur. Es
stehen außerdem Kleiderständer, Schuhe und ein weiterer Mineralwasserkasten
dort auf dem Boden. Ich frage die Frau: „Ist es möglich, dass Sie mir einen
Einblick in dieses Zimmer gewähren?“ Ich stelle diese Frage in der Hoffnung,
etwas zu sehen, was dazu beiträgt, die Bewohner diese Hauses zu verstehen. Meine
Unsicherheit wird größer, weil der Hausherr mich nicht begrüsst; und diese
Stimmen – , ich kann sie nicht genau unterscheiden und frage mich, ob es vier
sind oder sechs.
„Selbstverständlich, wo wollen Sie anfangen?“
Ich zeige mit der flachen Hand auf die Tür an der rechten Wand. Sie öffnet sie
und ich schaue hinein. Eine Küche kommt zum Vorschein, nicht sehr exklusiv,
aber sie erfüllt wohl ihren Zweck. Sie ist sehr sauber, denn kein einziger
Teller steht auf der Ablage. Eine Küche wie in jedem anderen Haushalt. „Das war
wohl nichts“, denke ich und drehe mich um. So kann ich in den kleineren Gang
sehen. Die Dame erhebt erneut ihre Stimme: „Am Ende des Ganges befindet sich
die Treppe zum Dachboden. Dort werden nur Gegenstände gelagert, es dürfte Sie also
nicht weiter interessieren, oder?“ Ich winke ab und bewege mich zu einer
anderen Tür, der neben der Küchentür. Ich öffne sie und stelle fest, es ist das
Badezimmer. Der Fußboden aus Fliesen ist sehr reinlich. Eine Waschmaschine,
eine Badewanne mit einem Vorhang, gegenüber ein Fenster und eine Toilette,
durch eine Tür vom Raum getrennt. „Die Leute leben sehr sauber", denke
ich, "aber weiterhelfen kann mir das nicht.“
In diesem Moment höre ich Kinderstimmen aus dem Zimmer nebenan, trete ein und
stehe vor einem Tisch mit zwei Stühlen. Auf den einen setze ich mich in dem
Gefühl, es könne länger dauern. Auf dem Sofa gegenüber sitzen vier Kinder. Auf
den Stuhl neben mir setzt sich ein Mädchen von ungefähr 14 Jahren und fragt
nach, ob ich was trinken wolle. „Ein Glas Mineralwasser wäre nicht schlecht.“
Der Gedanke an die Kästen Mineralwasser macht mich sicher, nichts Falsches
gesagt zu haben. Nun schaue ich mich in dem Zimmer um. An den Wänden große
Bilder - keine Poster von Britney Spears oder Christina Aguilera oder Xavier
Naidoo, wie man es von vorpubertierenden Bravo- Leserinnen erwartet, sondern
vergrößerte Fotos von Kindern jeden Alters. Ich erkenne einige der anwesenden
Kinder wieder.
Die eintretende junge Frau unterbricht meine Gedanken und bringt das Glas
Wasser. Ich danke und sie lächelt. Auch sie finde ich auf einem dieser Bilder
wieder. Sie wird von einer etwa 25-Jährigen auf dem Arm gehalten, auch sie
wunderschön, auch sie mit braunen Locken und denselben mandelförmigen Augen.
Auf dem anderen Arm trägt sie eine Jungen. Ihn sehe ich nicht. Ich wende mich
erneut der Frau auf dem Bilde zu. Ihr Gesicht strahlt, als wäre sie sehr stolz
auf ihre Kinder. Sie steht vor einer blauweißen, kalten, surrealen Mauer. Unter
den Bildern steht ein schwarzgraues halboffenes Bücherregal. Die Bücher sind
nicht aufgestellt, sondern hineingelegt. Eine andere Tür macht mich neugierig.
Die junge Dame öffnet sie: ein weiß tapezierter Raum, vier Betten in einer
Reihe, die Heizung und ein Fenster. Leise sagte die junge Dame: „Das ist das
Schlafzimmer von mir und meinen drei Geschwistern. Ich habe einen kleinen
Bruder und zwei Schwestern. Die anderen zwei Kinder sind mit ihrem
Vater zu Besuch.“ Jetzt wird mir alles klar. Ich gehe zum Tisch und trinke mein
Glas Wasser, während die beiden Mädchen miteinander flüsteren und der Junge mir
einen selbstbewussten Blick zuwirft, aber dann verlegen lächelnd wegsieht. „Sie
sind sicherlich nur wenige Jahre auseinander“, denke ich, stelle das Glas auf
den Tisch, gehe auf den Flur zurück und ziehe den weißen Vorhang zur Seite.
Ich stehe im Esszimmer, vor mir ein Tisch mit drei Stühlen und einer Eckbank.
Der Tisch aus dunklem Holz scheint mir elegant und stilvoll. Das Fenster auf
der anderen Seite füllt den Raum mit warmem Sonnenlicht und verleiht ihm eine
angenehme Atmosphäre. Neben der Heizung unter dem Fenster steht ein Schränkchen
mit Gewürzen. Hier, so sehe ich, kann man vieles von den Wänden lesen. An der
nächsten hängen Holzschnitzereien, Portraits verschiedener Personen. Ich kenne
sie nicht, wie so vieles in diesem Haus. Auch sie geben dem Raum Wärme, weil
sie im Einklang mit der Farbe der Essecke stehen. Ein eingerahmter
Zeitungsartikel neben dem Fenster zeigt den Jungen von dem Bild mit den beiden
jungen Frauen. Weiter rechts hängt eine große Fahne mit einem Adler in der
Mitte. Mein Kopf beginnt zu schmerzen.
Die Eindrücke verstreuen sich in meinem Kopf wie Puzzleteile. Sie scheinen in
keinem Zusammenhang zu stehen. Weder ist bis jetzt meine Frage beantwortet, wem
der Rollstuhl gehört, noch was das für Personen auf den Holzschnitzereien sind.
Wer ist dieser Junge auf dem Bild? Ich bin so schlau wie vorher, wenn nicht
konfuser. Da es nur noch ein Zimmer gibt, frage ich: „Was ist hinter dieser
Tür?" Und die junge Frau, die mich wie mein eigener Schatten begleitet,
antwortet: "Es ist das Wohnzimmer.“
Wenn ich das Puzzle zusammensetzen will, gibt es jetzt kein Zurück mehr. Ich
muss hinein. Vor der Tür wartend hole ich noch einmal tief Luft. Ich betrete
den Raum. Alle Anwesenden unterbrechen ihre Unterhaltung und erheben sich zu
meiner Begrüßung. Nur ein Mann fällt aus dem Rahmen. Er bleibt auf seiner
Matratze vor der Heizung sitzen – der Hausherr. "Guten Tag, herzlich
willkommen!“ reicht er mir die Hand zur Begrüßung. Ich begrüße die zwei Männer
und die drei Frauen, bevor ich auf dem schwarzen abgeschabten Ledersofa
zwischen den beiden Männern Platz nehme. Viele Eindrücke wirken auf mich, die
Atmosphäre in diesem Zimmer hebt sich vollständig ab von der in den vorigen
Räumen; Freundlichkeit, Geselligkeit und Gastfreundschaft dominieren.
Unauffällig sehe ich mich um. Mein Blick fällt auf eine elegante Vitrine aus
dem selben Holz wie der Esstisch; ein Möbel wie aus dem 19. Jahrhundert.
Daneben steht ein Fernsehtisch mit einem schwarzen Fernsehgerät, über dem fünf
Fotographien
von Kindern hängen. Das des jüngsten, des Jungen mit dem selbstsicheren Blick,
ist mit Medaillen bestückt; fünf Pokale auf dem Fernseher zeugen von seinem
Fußballtalent. An der linken Wand befindet sich das Foto eines mit einem
Maschinengewehr bewaffneten Mannes. Es irritiert mich, es passt nicht in die
familiäre Atmosphäre.
Niemand schenkt mir groß Aufmerksamkeit, so kann ich alle in Ruhe betrachten.
Der Hausherr ist ein Mann mittleren Alters, stabil gebaut, nicht größer als ein
Meter achtzig, schwarzgraues Haar. Tiefe Falten furchen sein Gesicht, mit der
dicken Brille und den stark ausgeprägten Augenbrauen wirkt er Furcht
einflößend. Wenn er lacht, verliert sich die Schärfe der Konturen und er wirkt
freundlich.
Auf dem Sessel neben ihm sitzt eine Frau. Ich erkenne sie sofort als die Frau
auf dem Foto mit den zwei Kindern. Sie hat sich verändert, ist molliger
geworden, die Haare schimmern gräulich. Ihre früher zarte Haut ist von vielen
Falten durchzogen; sie scheint nicht mehr glücklich, die strahlende Kraft ihrer
Augen ist gebrochen. Die beiden anderen Frauen sind schlicht gekleidete Mütter.
Ihre Hände sind von Rissen gezeichnet, Folgen eines harten, arbeitsreichen
Lebens. Schweigend betrachten die Frauen das Geschehen .
Der Mann rechts neben mir wirkt größer als der Hausherr und sehr stämmig, beide
sind etwa gleich alt, aber er hat ein längliches Gesicht, von Falten
durchzogen. Seine braunen Haare sind kurz und lockig. Er könnte in jedem Film
die Rolle des Bösewichts übernehmen.
Mein linker Nebensitzer ist kleiner, dicklich, mit einem Bauchansatz. Narben
verunstalten sein Gesicht. Das schwarzgraue Haar ist schütter.
Der achteckige Tisch passt zu Vitrine und Esstisch. Blickfang ist ein in seiner
Mitte eingelassenes achteckiges Glasstück. Dokumente liegen darauf. Ich erkenne
nur das Wort „Bescheid“. Daneben einige grüne Papiere, wie ich sie noch nie
gesehen habe. Die Anwesenden sind etwa gleichen Alters, möglicherweise aus
demselben Ort. Sie blicken hoffnungsvoll, ihre Anspannung ist zu spüren. „Es
ist soweit!" Der Hausherr schaltet den Fernseher an und regelt die
Lautstärke.
„Guten Tag, meine Damen und Herren. Herzlich willkommen zur Sondersendung
anlässlich der Abstimmung im Bundesrat über das Zuwanderungsgesetz am
22.03.2002.“ Alle blicken gebannt auf den Bildschirm, während der Sender live
in den Bundesrat schaltet.
Präsident Wowereit: „Damit stelle ich fest, dass das Land Brandenburg nicht
einheitlich abgestimmt hat. Ich verweise auf Artikel 51 Absatz 3 Satz 2 des
Grundgesetzes. Danach können Stimmen eines Landes nur einheitlich abgegeben
werden. Ich frage Herrn Ministerpräsident Stolpe, wie das Land Brandenburg
abstimmt?“
Dr. h. c. Stolpe: „Als Ministerpräsident des Landes Brandenburg erkläre ich
hiermit Ja.“
Der Innenminister des Landes Jörg Schönbohm: „Sie kennen meine Auffassung, Herr
Präsident.“
Präsident Wowereit: „Damit stelle ich fest, dass das Land Brandenburg mit Ja
abgestimmt hat.“
Im Bundesrat wird es lauter. Zurufe und Zwischenrufe sind kaum verständlich.
Herr Koch: „Herr Schönbohm hat widersprochen! Nein das geht nicht.“
Andere: „Verfassungsbruch!“1)
Plötzlich erlischt das Bild – der Hausherr hat den Fernseher ausgeschaltet.
Absolute Stille legt sich über den Raum. Kein Glänzen mehr in den Augen. „Ich
bin enttäuscht, sehr enttäuscht!“ Die anderen nicken, kein Wort fällt. „Sie
reden von Integration und Anpassung. Das meinen sie aber nicht. Sie
missbrauchen uns als Werkzeuge, ihre politischen Interessen durchzusetzen.“
Der Hausherr macht eine kurze Pause, sucht nach den richtigen Worten. „Seit
zehn Jahren lebe ich in Deutschland. Geboren bin ich im Kosovo, wie ihr meine
Freunde. Alle meine Kinder besuchen eine Schule, sprechen sehr gut deutsch und
haben sich integriert. Gut, sie sind zwischen zwei Kulturen hin- und
hergerissen. Aber sie wollen nicht wegen einer Sache benachteiligt werden, die
ihnen Gott gegeben hat. Nämlich, weil sie Kosovaren sind. Mein jüngstes Kind
ist in Deutschland geboren.“ Seine Stimme zittert vor Enttäuschung und Wut.
„Ich bin nicht aus wirtschaftlichen Gründen nach Deutschland gekommen. Keiner
tut das, wenn er seine Existenz und seine Familie aufs Spiel setzen muss. Ich
habe Schutz gesucht, weil mich die Serben verfolgten. Wie jeder Vater wollte
ich nur das Beste für meine Familie.“ Er zögert, holt tief Luft: „Als ich
politisches Asyl beantrage, fragte mich der Richter beim Oberlandesgericht, was
mir die Serben getan hätten bzw. was sie mir antun würden, wenn ich
abgeschoben würde. Ich erklärte ihnen all das, was sich später im Kosovo-Krieg
ereignete. Denn die Serben haben mich geschlagen und werden mich umbringen,
weil ich ein Kosovare bin.
Doch der Richter glaubte mir nicht und berief sich darauf, dass in Europa die
Menschenrechte Geltung hätten. Vier Wochen später erhielten wir ein Schreiben,
dass unser Asylantrag abgelehnt worden sei.“
(Langsam finden sich die Puzzleteile zusammen. Das Bild im Kinderzimmer ist
eine Aufnahme aus dem Kosovo – die fremde und doch bekannte Landschaft. Die
Holzschnitzereien sind womöglich wichtige Personen oder sogar Führer der
Kosovo-Albaner. Die Fahne mit dem Adler ist die – damals verbotene – albanische
Fahne.)
„Wir sind den Deutschen sehr dankbar, dass sie uns das Leben gerettet haben,
und vor allem das unserer Kinder.“
Mein linker Nebensitzer wühlte unter den Papieren und zog ein grünes Dokument
heraus. „Dies ist eine Duldung, ein Ausweisersatz. Dieses Papier bekommt man
nur, wenn man als Asylantragsteller abgelehnt ist und dennoch nicht sofort
abgeschoben werden kann. Das Dokument, dieses Dokument ist die demokratische
Art einem Ausländer, der integriert ist, seine Grenzen zu zeigen.“ Er zeigt auf
die Innenseite dieses grünen Dokumentes und liest laut vor: „ ‚Verlassen des
Landkreises Reutlingen nicht erlaubt.’ – Das ist nicht menschlich. Muss ich meinem
Sohn eine Theaterfahrt mit der Klasse nach Stuttgart verbieten? – Aber nicht
genug. Jeder von uns hat eine abgeschlossene Ausbildung, aber sie wird von den
Behörden nicht anerkannt. Natürlich haben wir Alten Schwierigkeiten mit der
Sprache - bis heute. Viele arbeiten auf dem Bau, bei der Müllentsorgung, ich
selbst bin Busfahrer. Wir alle zahlen Steuern, Renten-, Arbeitslosen-,
Krankenversicherung. Dennoch werden wir nicht gleich behandelt.
Wegen der Landkreisklausel wissen sie, wo sie dich holen können, falls sie dich
abschieben wollen – bei Nacht und Nebel.“ Der Hausherr griff nach einem
weiteren Blatt aus dem Papierstapel. „ ‚Widerrufsverfahren ... wir bitten Sie
innerhalb eines Monats in deutscher Sprache eine Stellungnahme abzugeben, in
der Sie Ihre Abschiebehindernisse nennen, die gegen eine Ausreise aus der
Bundesrepublik sprechen.’ Passen Sie auf“, meinte er, und ich achtete auf seine
Hände. Er hob seine schwarze Hose hoch und zog seine Socken aus. Seine Füße
waren aufgebläht, unter dem weißen Druckverband waren noch einige Wunden zu
sehen. Deswegen konnte er nicht aufstehen, benötigte den Rollstuhl unten im
Hauseingang. „Seit acht Jahren leide ich an Diabetes, ich muss mich viermal am
Tag spritzen, aber es hilft nicht. Mein eigener Körper greift meine Knochen an
und verursacht ständig neue Wunden. Heute noch ist dies ein Abschiebehindernis,
weil das Gesundheitsamt Reutlingen mir die Arbeitsunfähigkeit bescheinigt hat.
Aber ich kann kein geregeltes Aufenthaltsrecht bekommen, weil ich meine Familie
nicht selbst ernähren kann. Im Kosovo war ich Obst- und Gemüsehändler, ich
hatte Geschäftsbeziehungen nach Mazedonien, nach Griechenland, Albanien und in
die Türkei. Wir lebten gut dort, aber während ich eine Existenz für uns und
meinen Sohn aufbaute, fing die Verfolgung an. Meine Qualifikation als Kaufmann
wurde in Deutschland nicht anerkannt. Ich suchte Arbeit, aber zuerst kamen die
Deutschen, dann EU-Bürger, dann Ausländer mit Aufenthaltsrecht und ganz unten
stand ICH.“
Gibt es Schlimmeres für einen Menschen, als unfähig zu sein, seine Familie
ernähren zu können? „In diesem Land wird man danach bewertet, was man dem Land
bringt. Vertrauen, Entgegenkommen, Gastfreundlichkeit, Initiative spielen kaum
eine Rolle. Behörden, Politiker, der größte Teil der Bevölkerung wissen nichts
von uns. Wir bekommen keine Chance, uns eine sichere Existenz und eine Zukunft
aufzubauen. Die Behörden sehen diese Füße“, er zeigt mit seinen Händen darauf,
„diese Woche sehen sie, und die nächsten Monate und die nächsten Jahre, meine
Kinder und ihre Anstrengungen sehen sie nicht.“ Der kleine, dickliche Mann
brach sein Schweigen. „Dieser Tag ist für uns sehr wichtig gewesen. Wir haben
uns von ihm eine Chance für die Zukunft, zumindest für die Zukunft unserer
Kinder erhofft. Ausländer werden in den Medien oft in ein falsches Licht
gerückt. Schaut man sich die Nachrichten an, bekommt man den Eindruck, alle
Albaner seien kriminell. Meine Freunde, meine Kinder und ich, wir
haben keine Straftaten begangen. Diese Entscheidung im Bundesrat war ein böses
Zeichen. Es gab keine klare Mehrheit. Ich fühle mich und bestimmt viele andere,
wir fühlen uns als nicht willkommen. Viele Flüchtlinge und Einwanderer werden
sich zurückziehen, zu ihren Leuten. Die Politik sollte nicht über Gruppen
entscheiden. Ein krimineller Albaner darf nicht mit einem anständigen Busfahrer
in einen Topf geworfen werden, genauso wenig wie ein Nazi mit einem anständigen
Menschen. Einige unserer Kinder sind hier geboren, viele hier aufgewachsen und
zur Schule gegangen. Die Bürokratie müsste anfangen, Individuen zu betrachten.
Menschen, die das Gastrecht für kriminelle Delikte missbrauchen, haben kein
Bleiberecht. Warum aber nicht Menschen, die all ihre Pflichten erfüllen, die
einen Beitrag zum Wohl der ganzen Gesellschaft leisten? Wenn die Bürger
erkennen, dass die Politik in diesem Geiste arbeitet, werden auch sie ihren
Beitrag zu mehr Toleranz leisten.“
“Wir sind alle Menschen“, ergänzte der Hausherr, „egal ob deutscher,
albanischer oder sonstiger Nationalität. Jeder, der sich schneidet, blutet,
egal, welches Blut in ihm fließt. Sie sind im Esszimmer gewesen?“
„Ja, dort war ich.“
„Und – der Zeitungsartikel?“
„Ich habe ihn nur flüchtig angesehen.“
„Das Foto zeigt meinen Sohn in der neunten Klasse. Nach zweimonatigem Unterricht
in einer vierten Klasse besuchte er die Hauptschule.“ Er rief „Ganimete“ und
bat die junge Frau, die mich empfangen hatte, eine Mappe zu holen. Zurück lege
sie vier Blätter daraus auf den Tisch. Jedes war eine Belobigung für gute
schulische Leistungen. „Diese vier Belobigungen hat mein Sohn bekommen. Je eine
in der 7., der 8. und der 9. Klasse. Die vierte erhielt er in der
Werkrealschule, die er mit einem Durchschnitt von 2.0 beendet hat. Das folgende
Jahr konnte er keine Schule besuchen, da es Probleme mit der
Aufenthaltsberechtigung gegeben hat. Heute besucht er das Wirtschaftsgymnasium.
Solche Albaner werden in den Medien nie gezeigt. Und wird er hier bleiben
können, wenn es kein Zuwanderungsgesetz gibt?
Werden seine Anstrengungen, Positives für diese Gesellschaft zu bewirken,
anerkannt werden?“
Nie hätte ich erwartet, dass sich hinter dieser rosafarbenen, verblichenen,
heruntergekommenen Fassade so viel Energie und Enttäuschung, Niederlage und
Zuversicht, so viel Verzweiflung und Hoffnung verbergen würden.
Ich fragte ihn nach seinem Namen. „Nazmi Idrizi.“ Und der Junge auf dem Foto,
der so selbstsicher blickt, der bin ich.
Der Text wurde 2004 beim 14.
Landeswettbewerb Deutsche Sprache und Literatur (Baden-Württemberg)
eingereicht. Der Autor war damals Abiturient eines Wirtschaftsgymnasiums.
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