Erika Müller (*1961 in
Makinsk) Kasachstan
Übersicht Erzählwerkstatt
|

|
Wo ist meine Heimat?
Geboren wurden meine Eltern in der
ehemaligen Sowjetunion am Schwarzen
Meer. Da sie deutschstämmig waren, wurden sie nach Hitlers Angriff auf die
Sowjetunion von Stalin nach Kasachstan zwangsumgesiedelt. Wegen angeblicher „Sabotage am Sowjetstaat“ wurde
Vater zu lebenslanger Haft im Gulag verurteilt, die aber nach dem Tode Stalins
auf 11 Jahre reduziert wurde. Nach der Verbüßung seiner Haftstrafe bekam er
einen Vermerk in seinen Personalausweis und war ständigen Repressalien
ausgesetzt, so musste sich Vater z.B. anfänglich monatlich bei der Polizei melden und wurde durch den KKB
überwacht. Das Ziel meiner Eltern war nach
Kriegsende der Weg nach Westen, in die Nähe von Deutschland zu kommen, da Westdeutschland
für Freiheit stand. Meine Eltern wünschten sich vor allem, dass ihre Kinder studieren konnten, was uns als
deutschstämmig „Vorbelastete“ in der UdSSR nicht ohne Weiteres möglich gewesen wäre. Bis nach Deutschland war es ein steiniger
Weg, ein Weg, der uns von Kasachstan über Usbekistan nach Lettland führte, wo ich
die ersten 6 Schuljahre auf einer russischen Schule abgeschlossen habe. Damals
habe ich als Kind vielfach wahrgenommen, wie wir vom Geheimdienst überwacht wurden.
Neben nächtlichen Kontrollbesuchen hatten wir öfters Begleitung während unserer Zugreisen in die Hauptstadt
Riga. Nach langjährigen Ausreiseanträgen
durften die Eltern endlich 1974 mit mir und meinem Bruder in die BRD ausreisen.
Den Beginn in Deutschland erlebte ich als 13-Jährige recht hart. Wir fühlten
uns nicht willkommen und fremd. Im August 1974 waren wir in Böblingen im
Übergangswohnheim die einzige Familie aus der Sowjetunion, es gab weder soziale
Betreuung noch Unterstützung/ Aufklärung, was die Behördengänge betraf. Das
System war fremd und man wurde allein gelassen. Wir Kinder sind in Internate
geschickt worden, meine Eltern waren nun erstmals ohne ihre Kinder, wir Kinder
getrennt und allein in einer fremden Umgebung. Ich bin in einem Internat eines
Franziskanerklosters gelandet. Hier habe ich die nötige Förderung in der
deutschen Sprache bekommen und bin auch in meinen Fähigkeiten wahrgenommen
worden. Ohne die Unterstützung der Schwestern wäre ich nie ins Gymnasium in die
8. Klasse gekommen (obwohl mir 3 Jahre Englisch und 1 Jahr Latein gefehlt
haben) und hätte vermutlich kein Abitur machen können. Heute arbeite ich als
Gymnasiallehrerin. Wo ist meine Heimat? Mit dem Wort
Heimat verbinde ich nichts, das wohlige Gefühl kenne ich nicht. Meine Eltern
haben von daheim - ihrem Geburtsort am Schwarzen Meer- gesprochen, aber zu
diesem durften sie während der Sowjetzeit nicht zurückkehren. Für mich und
meinen Bruder gibt es diesen Ort nicht, es waren immer Stationen in
unterschiedlichen Ländern. Vielleicht
ist es sogar die deutsche Sprache, die mir am ehesten das Gefühl von Heimat
gibt. Aber ich möchte in keinem anderen
Land leben als in Deutschland, hier fühle ich mich
frei.
|

|

Hier können Sie alle Themen
und Beiträge durchsuchen
Sie sind noch kein Mitglied und möchten trotzdem regelmässig über die Aktivitäten von Diaphania informiert werden?
Hier können Sie sich für die Newsletter unseres Vereins anmelden:
|