Rafid Al Mamoori (* 1991) im Irak
 Vor dem Freiheitsmonument in der irakischen Hauptstadt Bagdad
 im Schlauchboot auf dem Weg von der Türkei nach Griechenland
 Mein neues Leben: Frühlingstag vor dem Karlsruher Schloss
Übersicht Erzählwerkstatt
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Sehnsucht nach einem
Leben in Sicherheit
Auf offener Straße
entführt Mitten auf der Straße lauerten
sie mit ihren Gewehren – bewaffnete Kriminelle. Als ich mit meinem Auto
vorbeifahren wollte, stoppten sie mich und fragten nach meinem Ausweis. An
meinem Namen erkannten sie, dass ich Sunnit bin. Sie waren Schiiten und wollten
sich für einen Terroranschlag rächen, den ein Sunnit kurz zuvor ausgeübt hatte.
Es ging ihnen gar nicht um mich, ich hatte nur das Pech, zur falschen Zeit am
falschen Ort zu sein. Sie verschleppten mich an einen abgelegenen Ort und
hielten mich dort gefangen. Sie quälten mich. Traten mich. Tunkten meinen Kopf
in eiskaltes Wasser. Tagelang. Ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre, wenn
mich nicht Mitarbeiter einer Hilfsorganisation befreit hätten. Vorerst war ich
gerettet. Doch ich ahnte, dass mir das Schlimmste noch bevorstand. Mein Name ist Rafid Al Mamoori.
Ich stamme aus dem Irak, einem Land, das immer mehr im Chaos versinkt. Geboren
und aufgewachsen bin ich in Diyala, einer Großstadt mit mehr als einer Million
Einwohnern. Ich bin Araber und gehörte zur sunnitischen Religionsgemeinschaft
des Islam. Ich erzähle das alles, weil man meine tragische Lebensgeschichte nur
so verstehen kann.
Unruhige Zeiten Meine Kindheit und Jugend
verliefen nicht sehr glücklich. Dauernd hatten meine Eltern Streit. Mal ging es
um mich und meine sieben Geschwister, mal hatten sie Schwierigkeiten auf der
Arbeit. Oder es gab Probleme, weil wir Sunniten waren. Die politische Situation
in unserem Land war schon immer fragil. Bis 2003 war die Situation jedoch
unter Kontrolle, und die verschiedenen Volksgruppen und Religionsgemeinschaften
lebten weitgehend friedlich miteinander. Niemand fragte nach deiner Religion,
wir alle fühlten uns als Iraker. Dann kam der furchtbare Krieg gegen die
Amerikaner, und nichts war mehr wie vorher. Unser Land begann zu zerfallen. Ich
war damals noch zu jung, um zu verstehen, was passierte. Erst viel später wurde
mir klar, wie schwierig die Situation für mich war. Es war vor acht oder neun Jahren,
da kehrte der Terror in mein Leben zurück. Eines Tages war ich auf der Straße
unterwegs, als mich plötzlich ein Auto verfolgte. „Bist du Rafid?“, fragte mich
der Fahrer. Als ich seine bewaffneten Mitfahrer sah, wurde mir klar, in welcher
Gefahr ich war. Ich lief weg. Ich wusste: Es ging um mein Leben. In Panik
rannte ich durch die Straßen, verfolgt von einer Gruppe bewaffneter Männer.
Erst als ich zu Hause ankam, fühlte ich mich sicher. Doch in diesem Moment war
mir klar, dass ich nicht bleiben konnte.
Meine erste Flucht Noch in der Nacht entschied ich
mich zur Flucht. Ich mietete ein Auto und fuhr gen Norden. Mein Ziel: Kirkuk,
die Metropole im Norden des Landes. Am folgenden Morgen kam ich an. Ich hatte
dort aber keine Verwandten oder Bekannten, und so verbrachte ich die erste
Woche im Hotel. Außerdem verbieten es die strengen Traditionen in meinem Land,
dass ein junger Mann alleine lebt. Doch ich wusste nicht, was zu
Hause inzwischen passiert war: Die Männer hatten herausgefunden, wo ich wohnte.
Sie kamen zu uns nach Hause, fragten nach mir, bedrohten meine Eltern mit ihren
Waffen. Auch meine Eltern bekamen es mit der Angst zu tun und so floh meine
Familie ebenfalls. Sie folgten mir nach Kirkuk, wo wir uns wiedertrafen.
Zusammen konnten wir uns eine Wohnung suchen. Ich ging wieder zur Schule,
machte mein Abitur und schloss ein Marketing-Studium ab. Doch in dieser Zeit
wurde die Lage schlimmer und schlimmer.
Fremd im eigenen Land Denn auch in Kirkuk bekam ich bald
Probleme. Diesmal nicht wegen meiner Religion, sondern wegen meiner arabischen
Identität. Die Region wird nämlich von einer kurdischen Mafia kontrolliert. Ich
arbeitete damals in verschiedenen Jobs, zum Beispiel bei einer
Konstruktionsfirma und als Buchhalter und Berichteschreiber eines Hotels. Aber
bald schon gab es Probleme, denn viele meiner Kollegen steckten mit der Mafia
unter einer Decke. Sie wollten mich als Araber loswerden, schikanierten mich
bei jeder Gelegenheit, forderten mich sogar auf, die Region zu verlassen. Doch
ich wollte nicht gehen. Ich wollte doch arbeiten, und wir brauchten das Geld
auch. Aber bald wurde die Lage
unerträglich: Eines Tages drohten meine Kollegen mich zu töten. Sie fielen über
mich her und traten auf mich ein. Da war das Maß für mich voll: Ich kündigte
den Job und ging zur Polizei. Die Überwachungskamera im Hotel hat den Vorfall
festgehalten. Die Polizisten versprachen mir zu helfen. Aber sie taten nichts.
Die Polizei ist machtlos gegen die Mafia. Damit stand meine Entscheidung
fest: Ich musste mein Land verlassen. Es waren unruhige Zeiten: Die Terroristen
des Islamischen Staats (IS) waren auf dem Vormarsch und eroberten viele
kurdische Gebiete. Die Kurden wiederum wollten sich an uns Arabern rächen.
Viele Araber flohen damals. Doch meine Eltern verstanden mich
nicht, als ich ihnen meinen Entschluss mitteilte. Sie versuchten mich
zurückzuhalten. So blieb mir nichts anderes übrig, als mich heimlich
davonzumachen. In einer Nacht verließ ich das Haus, fuhr zum Flughafen und flog
in die Türkei. Das ist jetzt sechs Monate her, und es sollte der leichteste
Teil meiner Flucht sein. Doch es ist so traurig, dass ich mich nicht von meiner
Familie verabschieden konnte. Erst aus der Türkei habe ich mich bei ihnen
gemeldet.
Höllenfahrt über das
Meer Am Ziel war ich jedoch noch lange
nicht: Ich wollte nach Europa. Dazu musste ich zuerst einen Weg über das Meer
nach Griechenland finden. Ein Mann bot mir schließlich an, mich für umgerechnet
10.000 Dollar in seinem motorisierten Schlauchboot mitzunehmen. Ich willigte
ein und zahlte ihm das Geld. Was sollte ich auch sonst tun? Doch in den
folgenden Stunden sollte ich durch die Hölle gehen, und es ist fast ein Wunder,
dass ich noch lebe. Wir waren 47 Personen, darunter
viele Kinder. Dichtgedrängt saßen wir in dem winzigen Boot. Jedes Mal, wenn uns
eine mächtige Welle durchschüttelte, beteten wir, dass wir die Küste unversehrt
erreichen würden. Dann stockte der Motor. Mitten auf hoher See, kilometerweit
vom Festland entfernt. Wir riefen die griechische und
die türkische Polizei um Hilfe, aber von Beiden kam die gleiche Antwort: „Ihr
seid nicht in unseren Gewässern, wir können euch nicht helfen.“ Eine Stunde
lang war unser Boot hilflos den Wellen ausgesetzt, die es von einer Seite auf
die andere warfen und drohten, es zu verschlucken. Oft ist mein Leben in Gefahr
gewesen, doch niemals bin ich dem Tod so nahe gewesen wie in jener Stunde, die
sich hinzog, als würde sie ewig dauern. Noch gaben wir nicht auf. Wir
warfen alle Taschen über Bord, um unnötigen Ballast loszuwerden. Und dann
endlich gelang es jemandem, den Motor zu reparieren. Wir setzten unseren Weg
fort. Wir sahen ein griechisches Polizeiboot vorbeifahren und schrien um Hilfe.
Doch die Polizisten schauten nur von ferne zu und taten nichts. Wir näherten uns der griechischen
Küste. Dort drohte die nächste Gefahr: Das küstennahe Gewässer ist mit
Felsbrocken übersät, die unser Boot aufgeschlitzt hätten. Wir konnten also
nicht weiterfahren. Da hatte jemand die rettende Idee und rief eine griechische
Hilfsorganisation an: „Wir werden sterben! Wir haben Kinder an Bord!“ Wenig
später schwammen drei Helfer heran. Sie zogen unser Boot an die Küste und
halfen uns allen beim Aussteigen. Sie gaben uns zu essen und zündeten ein Feuer
an, an dem wir uns wärmen konnten. Nach Stunden auf hoher See waren wir völlig
unterkühlt. Doch nun war alles vorbei. Die Helfer hatten uns das Leben
gerettet.
Von Griechenland nach
Heilbronn In Griechenland blieb ich nur
zwei Tage. Die Situation für Flüchtlinge ist dort sehr schlimm, deshalb wollen
sie alle weiter nach Westeuropa oder Skandinavien. Auch ich stieg in einen Zug,
um nach Deutschland zu fahren. Doch schon in Griechenland wurde ich krank, weil
mein Körper die Strapazen der Flucht nicht länger verkraftete. Ich bekam
Medikamente, aber sie halfen nicht. Sieben Tage dauerte meine Reise von
Griechenland nach Deutschland. Sieben Tage, in denen ich weder essen noch
schlafen oder auch nur einen klaren Gedanken fassen konnte. Schließlich erreichte ich
Österreich. Ich kam dort in einem Militärlager an. Ich sagte den Soldaten, dass
ich weiter nach Deutschland wollte. Und so brachten die Soldaten mich zu einem
Militärflughafen kurz hinter der Grenze. Ich war also endlich in Deutschland
angekommen. Doch ein Soldat sagte zu mir, ich solle besser in eine andere Stadt
weiterfahren, da es vor Ort zu voll und die Situation für Flüchtlinge sehr
schlecht sei. Bis heute weiß ich nicht, wo das Militärlager war, an dem ich zum
ersten Mal deutschen Boden betreten hatte. Die Soldaten brachten mich zum
Bahnhof. Ich sagte ihnen, dass ich nach Gießen weiterfahren wollte, weil ich
dort über zwei Ecken jemanden kenne. Die Soldaten kauften mir ein Ticket, ich
stieg in den Zug und fuhr nach Gießen weiter. Die Männer waren sehr hilfsbereit
und ohne sie wäre ich sicher total hilflos in dem für mich fremden Land
gewesen, dessen Sprache ich damals noch überhaupt nicht sprach. Doch hatte ich
auf dem Bahnhof auch meine erste schlechte Erfahrung in Deutschland: Ein Mann
schrie mich an: „Geh weg von hier!“ Ich glaube nicht, dass er betrunken war. Er
war ein Nazi. In Gießen wurde ich einer
Aufnahmestelle für Asylbewerber zugeteilt, in der ich mich registrierte. Nach
zwei Tagen wurde ich in die Landeserstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge in
Baden-Württemberg nach Karlsruhe weitergeschickt. Dort blieb ich für 13 Tage.
Die Situation war sehr schlimm: Es gab dort so viele Leute, und das Gebäude war
total überfüllt. Außerdem bekam ich Ärger mit einem anderen Flüchtling aus
meinem Land. Einmal schrie er mich an: „Sprich nicht über Politik, halt den
Mund!“ Er machte mir Angst. Zum Glück ging es für mich bald weiter nach
Heilbronn. Hier lebe ich bis heute im Asylbewerberheim.
Endlich in Sicherheit Die Situation im Heim ist
schwierig, aber erträglich. Manchmal gibt es Streit, wenn jemand im Zimmer
raucht, betrunken ist oder nicht saubermachen will. Das ist normal, und solche
Konflikte gibt es überall, wo Menschen auf engem Raum zusammenleben. Nach
meiner Herkunft oder meiner Religion aber fragt niemand mehr. Endlich bin ich
in Sicherheit. Natürlich ist nicht alles einfach
für mich in Deutschland. Das Leben läuft hier so anders ab als im Irak. Viele
ganz alltägliche Dinge musste ich erst lernen. Zum Beispiel, dass man sich beim
Aussteigen aus dem Bus oder beim Anstehen an der Kasse nicht vordrängelt, weil
das in Deutschland als sehr unhöflich gilt. Aber ich habe inzwischen viele
deutsche Freunde, die mir solche Dinge erklären. Ich lebe gerne hier, und ich
würde gern für immer bleiben.
Eine folgenschwere
Entscheidung Eine einschneidende Veränderung
gibt es in meinem Leben: Ich habe die Religion gewechselt. Ich habe mir die
Entscheidung nicht leichtgemacht, aber nachdem es so viele Probleme wegen
meines Glaubens gab und ich beinahe mein Leben verloren hätte, bin ich zum Christentum
konvertiert. Seitdem gehe ich jeden Sonntag ich in die Kirche und versuche so
viel wie möglich über meine neue Religion zu lernen. Meine Familie weiß nichts
davon. Wie sollte ich es ihnen auch erklären? Sie wären so enttäuscht und so
wütend auf mich. Bis heute leben meine Eltern und
meine Geschwister in Kirkuk. Wenn ich mit ihnen spreche, beklagen sie sich oft,
dass sie weiterhin diskriminiert werden. Nach Deutschland kommen wollen sie
aber nicht. Sie haben viel zu verlieren: ihr vertrautes Umfeld, ihre Freunde,
ihre Arbeit. Sie lieben ihr Land. Ich respektiere das, aber nachempfinden kann
ich es nicht. Ich habe mich in meinem Heimatland niemals zu Hause gefühlt. Ich
werde mich immer daran erinnern, aber vermissen werde ich es nie.
Diese Lebensgeschichte wurde von Frank Lutz weitererzählt (2016)
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