Karzan Chindari, geboren 1984, im Irak

Im Flüchtlingslager in Mardin (1988 bis 1990).

Das Bild mit den vier Kindern vor dem Zaun sind von links: Karzan, daneben ist sein Bruder Karduh, die anderen beiden weiß ich (Karzan) leider nicht.

In der Mitte Karzan, links sein Bruder Karduh und daneben sein
Adoptivbruder Karmand.

Karzans Vater als Peschmerga abgebildet. Es war kurz vor der Al-Anfal Kampagne an einem Ort, an dem sich die Grenzen von Irak, Iran und der Türkei berühren
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Das zweite Leben
Das erste Mal wurde ich am 18. März 1984
in Duhok geboren, einer kurdischen Stadt im Norden des Irak. Doch um meine
Geschichte zu verstehen, muss ich vorab die Geschichte meines Vaters erzählen: Er wurde in Hiror geboren, einem
kleinen Dorf, umgeben von Bergen, nahe der türkischen Grenze. Die meiste Zeit
seiner ersten Lebensjahre verbrachte er in Höhlen, um sich vor den Flugzeugen
und Bomben der irakischen Armee zu verstecken. Seine Mutter und noch andere
Mütter mit ihren Kindern flüchteten schon recht früh in den Morgenstunden, um
eine Höhle aufzusuchen. Sie blieben im Schutz der Höhle, bis die Sonne
unterging. Die Männer blieben in den Dörfern. Mein Vater, Abdulla Mehmud, war
damals sechs Jahre alt, als sie Hiror verlassen mussten. Er wuchs in Mossul auf
und war in der Schule sehr fleißig. Nachdem mein Großvater eine feste
Anstellung bekommen hatte, zogen die Familie um, in eine Gegend, die
mehrheitlich von Christen bewohnt war. Damals war Mossul noch eine multikulturelle
Gemeinschaft. In der neuen Gegend war er umgeben von Büchern und Filmen.
Bücherläden und Kinos lagen dicht nebeneinander. Er las manchmal bis zu 16
Stunden am Tag. Er liebte die klassische Literatur, Theater, die Philosophie,
Geschichte und Politik. Andere Tage schaute er sich einen Film nach dem anderen
an. Er liebte die alten Italo-Western, politische und vor allem die bunten
Bollywood Filme. 1976, mein Vater war 16 Jahre alt und begann gerade, sich in Mosul einzuleben,
mussten er und seine Familie die Stadt schon wieder verlassen. Im Zuge der Arabisierungspolitik
von Saddam Husseins Baath- Partei wurden die Kurden aus ihrer nordirakischen
Heimat vertrieben. Sie mussten ihren Platz für Araber aus dem Südirak räumen,
die nun an ihrer Stelle hier angesiedelt wurden. Nach Hiror konnte mein Vater nicht
mehr zurück. Er hatte sich zu sehr an die Stadtluft gewöhnt. Außerdem wurden
auch die Dörfer geräumt. Da die Peschmerga in den Bergen kämpften und gute Kontakte
zu den Dörfern pflegten, die, wie gesagt umgeben von Bergen waren, siedelte man
die Menschen in ein von der irakischen Armee kontrolliertes Siedlungsgebiet um.
Es war aber nicht der einzige Umsiedlungsgrund. Schon in Syrien hatte man versucht,
die Kurden aus den Dörfern zu verjagen, um dort stattdessen Araber anzusiedeln.
Diese Politik wurde auch der „Arabische Gürtel“ genannt. In Irak waren es ca.
4.500 Dörfer. Je mehr Macht Saddam Hussein bekam, umso mehr änderte sich die
politische und gesellschaftliche Lage im Irak. Entweder war man ein Baathist,
senkte den Kopf und ließ alles über sich ergehen ─ das verschaffte einem einige
kleine Vorteile und man konnte ruhiger leben. Oder man war ein Gegner der
Diktatur, kämpfte dagegen an, lebte stets in Unruhe, riskierte Kopf und Kragen.
Mein Vater entschied sich, den Kopf nicht sinken zu lassen, und kämpfte.
Allerdings vorerst auf anderem Weg als dem des militärischen Widerstands. Er
schrieb in seinen Jugendjahren Gedichte, Theaterstücke und andere kritische
Texte gegen das Regime. In Duhok gründeten er und seine Freunde die
Theatergruppe "Lawine". Sie führten mehrere Theaterstücke auf, in denen
auch mein Vater mitwirkte. Gerade ein Theaterstück, welches damals sogar in
kurdischer Sprache gespielt wurde, wurde vom Publikum begeistert aufgenommen.
"Euer Elefant, unser König" hieß das Stück, verfasst hatte es ein
syrischer Schriftsteller, mein Vater hat es aus dem Arabischen ins Kurdische übersetzt
und überarbeitet. Im Stück geht es um einen König, der einen Elefanten besitzt.
Der Elefant zerstört mal hier, mal da einen Laden, ein Haus, trampelt auf
Menschen herum. Irgendwann steht der Held des Stücks,
ein einfacher Bürger namens Sakaria, auf und überredet das Volk,
sich das nicht mehr gefallen zu lassen. Er will mit ihnen zum König und sich
über den Elefanten beschweren. Beim König will er rufen "Euer Elefant,
unser König!", und jene Opfer aus dem Volk sollen antworten: "Hat
mein Haus zerstört, hat mein Kind getötet ..." Sie machen sich also auf den
Weg. Beim König angekommen, bekommt das Volk es mit der Angst zu tun. Sakaria
steht vor dem König. Der König ist erfreut über den Besuch. Sakaria holt tief Luft
und schreit "Euer Elefant unser König!" Aus dem Volk kommt kein Ton.
Dreimal ruft er es aus, ohne dass das Volk antwortet, dann gibt er es auf. Der
König wundert sich und fragt, was denn mit seinem Elefanten sein soll. Sakaria
dreht sich um, schaut auf das Volk, spuckt auf den Boden und antwortet dem
König. "Euer Elefant, unser König, ist alleine, wollt ihr ihm nicht ein
Weibchen schenken? Das Volk hier hat nichts als Elefanten verdient."
Mehrmals konnte die Theatergruppe meines Vaters das Stück nicht aufführen, entweder
weil man ihnen den Strom abdrehte, weil man ihnen keine Genehmigung erteilte
oder weil sie kurz vor der Aufführung verhaftet wurden. Mein Vater wollte
eigentlich auf der Theater- und Kunstakademie in Bagdad studieren. Da er aber
kein Mitglied der Baath-Partei war, wurde er nicht angenommen. Die Zeit wurde
immer härter. Die Kämpfe immer brutaler. Freunde wurden festgenommen, andere,
die gekämpft haben, erhängt. Das geschriebene Wort alleine änderte die Menschen
nicht. Alles wurde schlimmer. Ab 1980 herrschte im Irak Krieg gegen den Iran.
Saddam Hussein brauchte alle Männer für den Krieg, auch die Kurden. Mein Vater
sollte in die Armee. Die dreimonatige Grundausbildung führte er auch aus, dann desertierte
er. Wenn sie ihn erwischten, drohte ihm die Todesstrafe. Sie erwischten ihn
aber nicht. Er wurde politisch aktiv bei der Patriotischen Union Kurdistans (PUK),
einer kurdischen Partei unter der Führung Jalal Talabanis. 1984 ging er in die
Berge und kämpfte als Peschmerga (frei übersetzt: „Die dem Tod ins Auge Sehenden") gegen Saddams
Diktatur. 1984 wurde ich geboren. Mein Name hat auch eine Geschichte. Damals
gab es drei sehr junge kurdische Musiker, die aus dem Norden des Irak stammten:
Fraidun, Rebuar und Karzan. Karzan war der jüngste von ihnen. Er spielte Geige.
Mein Vater hörte ihn bei einem Musikfestival spielen. Er war begeistert von dem
neunjährigen Karzan. Als er mitbekam, dass die drei durch einen Unfall um Leben
gekommen waren, nachdem man ihnen die Bremsen gelöst hatte, beschloss er, seinen
nächsten Sohn "Karzan" zu nennen. Nun, ich bin der nächste gewesen, darum
heiße ich heute "Karzan". Wir blieben im Dorf, in dessen Nähe mein
Vater, nun mit der Waffe, kämpfte. 1988 war der Krieg mit Iran beendet, und der
Krieg gegen die Kurden begann. Saddam Hussein nannte seinen Feldzug
"Al-Anfal" ─ der Titel der 8. Sure aus dem Koran. Überall in den kurdischen
Gebieten waren schwere Waffen und Soldaten im Einsatz. Die Menschen flohen.
Auch wir. Mein Bruder und ich ritten auf einem Esel. Meine Mutter trug meine
Schwester, und wir machten uns mit anderen Menschen auf die Flucht in Richtung
türkische Grenze. Mein Vater blieb noch ein paar Tage in den Bergen, er wollte weiterkämpfen.
Im Flüchtlingslager angekommen, bereitete man eine Trauerfeier für ihn, weil
man annahm, er sei gefallen. Er kam aber später nach, lebend. Die erste Zeit im
Flüchtlingslager war katastrophal. Die Lebensbedingungen waren schrecklich. Das
Wasser schmutzig. Die Zelte teilweise noch nicht vollständig aufgebaut. Es
starben viele ältere und jüngere Menschen. Nur langsam verbesserte sich die
Situation. Zirka 16.000 Menschen lebten im Flüchtlingslager Merdin, im Osten
der Türkei. Mein Vater und vier weitere Personen wurden in ein Komitee gewählt,
das sich um die Probleme im Flüchtlingslager kümmern sollten. Und es gab etliche
Probleme. Denn es war, als wären wir von einem feindlichen Lager ins andere
gekommen. Die Türkei war selbst kein großer Freund der dort lebenden Kurden,
die seit Langem unterdrückt wurden. Sie durften zu dieser Zeit noch nicht
einmal ihre Sprache sprechen und erlernen, sie durften ihre Kultur nicht leben,
nicht ihre Musik hören oder gar ihren Kindern kurdische Namen geben. Es gab sie
gewissermaßen nicht.
Ich überlebte dort Malaria und Typhus.
Wir lebten zwei Jahre in den Feldzelten und flohen dann weiter von der Türkei
aus nach Europa. Ich sage bewusst Europa, denn eigentlich wollte mein Vater von
Anfang an nicht nach Deutschland. Er hatte die Opfer der Giftgasbomben gesehen
und wusste auch, dass das technische Know-how für das Giftgas aus Deutschland
kam. Schon tausend Jahre gab es Krieg in Kurdistan. Die Menschen versteckten
sich in Höhlen und kamen wieder heraus, wenn es Frieden gab. Aber vor dem
Giftgas war niemand mehr sicher, selbst in den Höhlen nicht. Das war auch ein
Grund, warum mein Vater Kurdistan verlassen wollte.
Und an Waffen verdiente ja nicht nur
Deutschland. Frankreich, Großbritannien, Italien, die USA, und wer weiß noch
welches Land, verdienten an dem Verkauf von Waffen sowohl an Saddam Hussein als
auch an die Gegenseite. Rund 182.000 Kurden kamen durch die Al-Anfal-Kampagne
ums Leben. Nicht zu vergessen sind auch die 5.000 Menschen, die am 16. März
1988 durch den Abwurf von Giftgasbomben in der kurdischen Stadt Halabja
gestorben sind. Ein irakischer Pilot flog einen französischen Jet und warf
deutsches Giftgas ab. Nun ja, wir leben in Zeiten der Globalisierung.
Wir waren noch in Griechenland, als
mein Vater alleine nach Schweden reisen wollte. Er hatte dort einen ehemaligen
Theaterfreund. Er kam aber zuerst in Deutschland an und kaufte sich ein Zugticket
nach Schweden. In Schweden, kurz hinter der dänischen Grenze, wurde er
allerdings aufgehalten. Man schickte ihn wieder zurück nach Deutschland, denn
von dort war er gekommen. Er beantragte Asyl. In Norddeutschland fragte er
einen deutschen Beamten, welche Stadt reich an Kultur sei.
Das zweite Mal wurde ich am 22.
September 1990 in Lübeck, einer wunderschönen Stadt in Norddeutschland,
wiedergeboren. Ich kann mich an die ersten Lebensjahre davor nicht mehr
erinnern. Was geschah da? Krieg, Tod, Elend, Flucht. Die Jahre existieren nicht mehr in meiner Gedankenwelt.
Ich habe sie in den Wirren des Krieges und auf der Flucht verloren. Vielleicht
ist es besser so. Als wir in Lübeck ankamen, war ich sechs Jahre alt. Die erste
Zeit in Lübeck war schwer. Wir kamen in ein Asylbewerberheim. Viele
verschiedene Nationalitäten wohnten Tür an Tür. Es war laut und hektisch. Nach
einem Jahr zogen wir um. Im Januar 1996 wurde ein anderes Lübecker Asylbewerberheim
in Brand gesteckt. Drei Erwachsene und sieben
Kinder und Jugendliche starben. Bis heute hat man die Täter nicht
fassen können. Aber das ist ein anderes Thema. Ich besuchte die
Kinderschauspielschule in der Rosengartenstr. 12. Es war immer wieder eine
Freude für mich, jeden Dienstag die Treppen hochzulaufen und den Duft der
Theaterbühne zu atmen. Wir spielten auch jedes Jahr verschiedene Stücke unter
der Leitung von Roger und Ute Georg. Später war ich im Theater Jugendclub in
Lübeck aktiv und arbeitete eine Zeitlang als Schauspieler im Theater am Tremser
Teich ─ ein einzigartiges Kindertheater in Lübeck. Mittlerweile leben wir seit rund
24 Jahren in Deutschland, und ich seit zirka fünf Jahren in Heilbronn. Es hat
sehr lange gebraucht, bis wir hier ankamen, bis wir verstanden haben, was in
Kurdistan geschehen ist. Und bis jetzt verarbeiten wir das Ganze. Denn es ist ja
mit einer Ankunft in einem fremden, friedlicheren Land nicht vorbei. Nach dem
Krieg begann ein anderer Krieg: Mein Vater litt jahrelang unter Alpträumen,
Verfolgungsängsten bis hin zu leichter Paranoia. Wir Kinder waren teilweise bis
zum achten Lebensjahr Bettnässer. Meine Mutter hat immer noch körperliche
Beschwerden infolge der Flucht. Unsere Geschichte ist eine Geschichte wie die von
Tausenden anderen, die das gleiche oder ein ähnliches Schicksal erlitten haben.
Krieg besteht nicht nur aus Bomben und Toten. Die Auswirkungen sind enorm. Vor allem
das Nichtverarbeiten der Geschehnisse kann die Menschen verwirren und
schädigen. Deswegen ist es wichtig, über seine Geschichte zu schreiben.
Deswegen schreibe ich meine Geschichte hier nieder. Und wenn man mich fragt, wo
meine Heimat ist, dann sage ich: Hier in Deutschland. Auch mein Vater fühlt sich
hier heimisch. Man könnte uns als die deutsche Eiche mit den kurdischen Wurzeln
bezeichnen. Ob die stabil ist, wage ich hin und wieder zu bezweifeln. Aber noch stehen wir.
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