Subramaniya Suresh (*1950 in Indien)
 Subramaniya Suresh mit Tochter
 Wohngemeinschaft in Stuttgart 1972
 Subramaniya Suresh 4. v.l. 1973 in Ost Berlin
 Urlaub in Österreich 1973
 Subramaniya Suresh 1974
 Systemtechniker in Frankfurt 1979
 Subramaniya Suresh 1980 mit Außendiensttechnikern




Übersicht Erzählwerkstatt
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Pendelndes Leben zwischen Morgen- und Abendland
„Wie soll ich ihn ansprechen?“ Die Deutschen wissen oft nicht, wie sie mich ansprechen sollen, wenn ich
mich mit Suresh Subramaniya SURESH vorstelle, wie es in meinem Ausweis steht.
Mein vollständiger Name ist: Suresh Subramaniya Raghava SURESH Suresh – Rufname Subramaniya – Name meines Großvaters Raghava – Name meines Vaters SURESH – Familienname Ich reagiere auf beide Vornamen, Suresh und Subramaniya. In Indien wird
der Rufname, in diesem Fall Suresh, als Familienname geführt. Einige Freunde
nennen mich liebevoll Subra. Da in Indien viele Menschen ähnliche Namen tragen, hat man die Namen der
Eltern und Großeltern mit in der Liste aufgenommen, um eine Person genauer zu
bestimmen. Bei Frauen werden die Namen der Mutter und Großmutter zum Namen der Frau
hinzugefügt und bei Männern der des Vaters und des Großvaters. Früher pflegte man auch den Beruf der Familie hinten anzuhängen. Mein Großvater, väterlicherseits, hieß Subiah Subramaniyan Asan (der
Medizinmann), seine Frau wurde Bhavathy Maruthuwa Ammal (die Kräuterfrau)
genannt. Meine Mutter trug den Namen Nellarusi Thayammal Leelavathy (weil meine
Großmutter, mütterlicherseits, Reishandel betrieb). Meine Urgroßmutter besaß große Reisfelder. Die Engländer, als
Besatzungsmacht, wollten von den Erträgen einen großen Anteil als Steuer eintreiben.
Als Protest gab meine Urgroßmutter den Wellakaran (weißen Leuten) kein Geld und
nahm nur Reis als Zahlung von den Pächtern an. Manchmal „bezahlten“ die Pächter
und Bauern sie auch mit Fisch, Gewürzen und Kräutern. Aus den Kräutern
erzeugten die Frauen Siddha-Naturheil-Medizin. Während der Kolonialzeit wurde die Berufsbezeichnung nicht mehr
verwendet, weil sie mit der ³Kastenzugehörigkeit verwechselt wurde. Obwohl
unsere Familie Hindutraditionen befolgte, unterlagen wir nicht der
Kastenordnung, wurden jedoch aufgrund der Berufe, die meine Vorfahren ausgeübt
hatten, respektiert, und von manchen auch gefürchtet. Respektiert wurde die Familie, weil
viele Mitglieder Waithiyar-Heiler waren und Heilmedizin herstellten.
Gefürchtet wurde sie, weil sie sich der Obrigkeit, dem Raja (= dem Fürsten /
Regierenden), nicht unterordneten und sich mit ihrer Kampfkunst (Kalaripayattu)
zu wehren wussten. Sie waren nicht sonderlich zimperlich dabei. Auch dem
Kastensystem beugten sie sich nicht. Es wird erzählt, dass die Hofärzte die Fürstin vom Freistaat Trivancore
nicht wiederbeleben konnten, als diese von der Schaukel gefallen und in tiefe
Ohnmacht gesunken sei. Daraufhin sei Subramonian Siddha-Vaidhyar (Siddha Medizinmann)
herbeigerufen worden. Mein Großvater habe mehrere Neembaum-Zweige mit jungen
Blättern genommen und diese in Tulsiwasser (Basilikumwasser) getaucht. Nun habe
er die Mägde beauftragt, die Füße, die Hände und das Gesicht der Fürstin mit den Zweigen zu schlagen und fest
zu reiben. Er selbst soll kräftig die Zehen der Fürstin massiert und gezogen
und dabei mit lauter Stimme und in befehlendem Ton die Fürstin aufgefordert
haben: „‚Ezhu, Mozhae, Ezhu, Urakkam theernu!“ („Steh auf, Tochter, steh auf,
genug geschlafen!“). Die Fürstin sei ganz verwundert aus ihrer Ohnmacht
erwacht. Als Dank habe der Fürst meinem Großvater den Titel
Vaidhyar-Aasaan (Meisterheiler)
verliehen und einen Stock aus Silber geschenkt. Mein Großvater behielt den
Titel, aber den Stock habe er in die Ecke gestellt, weil er der Meinung gewesen
sei, starke Hände zu haben und alle Marma-Punkte² zu kennen, die notwendig
waren, um den Gegner in Schach zu halten. Es gibt insgesamt 108 Marma-Punkte
(Vitalpunkte) – sie sind das Zentrum des Lebens. Zum Vergleich: Die heute sehr bekannte Ayurveda-Behandlung ist im
Gegensatz zur Siddha-Behandlung eine sehr sanfte Therapie und eine angenehme
Heilmethode. Bei Siddha Behandlungen werden die Faszien besonders kräftig
massiert, was Schmerz verursachen kann.
Vom Reisenden zum Rentner Heute bin ich Großvater, Vater, Partner, Freund, Berater, Freidenker,
Parteiloser und Reisender. Über 42 Jahre berufliche Tätigkeit berechtigen mich,
Rente zu beziehen. Eigentlich lebe ich erst richtig, nachdem ich Rentner
geworden bin. Ich war Elektromechaniker, Computertechniker, Programmierer,
Trainer, Manager, technischer Leiter, Berater. Aufgrund meiner beruflichen
Leistungen konnte unsere Familie gut leben. Meine indische Familie Indien ist ein großes Land mit vielen Kulturen und Bräuchen. Wie in
vielen Ländern gibt es ein Nord-Süd-Gefälle. Die Menschen im Norden haben
üblicherweise eine hellere Hautfarbe und sprechen Sprachen, die wir im Süden
nicht verstehen. Ich gehöre der drawidischen Volksgruppe an, die einen
dunkleren Teint hat. Meine Familie stammt aus dem Kanyakumari-Distrikt an der
Südspitze Indiens, umgeben von drei großen Meeren, dem Golf von Bengalen, dem
Arabischen Meer und dem Indischen Ozean. Es ist ein wunderbarer, mystischer
Ort. Im Laufe der Zeit wanderte meine Familie bis in die südindischen Städte Chennai,
Bengaluru und Thiruvananthapuram. Ich wuchs in einer Großfamilie auf und habe
ein riesiges Netzwerk von Verwandten. Wir sprechen meist Tamil, die älteste
Sprache der Welt, und Malayalam. Diese Sprachen sind ähnlich, allerdings hat
die Sprache Malayalam mehr Sanskritwörter und einen nasaleren Klang. Es ist
interessant zuzuhören, wenn meine Verwandten aus den Bundesstaaten Tamil Nadu
und Kerala miteinander kommunizieren. Mal spricht der eine Malayalam und der
andere antwortet in Tamil, aber beide verstehen sich gut. Die Frauen haben bei
uns in unserer Familie mehr zu sagen und sie verwalten auch das Erbe. Die
Männer gehen in der Regel leer aus. Auch heute, im Zeitalter der
Gleichberechtigung, hat sich nicht viel an dieser Struktur geändert. Die Frauen
bestimmen, wer wen heiratet – die Männer sind lediglich das ausführende Organ.
In unserer Siddha-Gesellschaft dürfen die Frauen ein eigenes Geschäft oder eine
Schule gründen. Die Einnahmen gehören ihnen allein. Auch die Mitgift, die sie
in die Ehe mitbringen, ist ihr Eigentum. Das indische Rechtsystem erkennt
dieses System unter dem Hindu-Marriage-Law offiziell seit der indischen
Unabhängigkeit (1947) an. Während der Kolonialzeit verachteten die indischen
Frauen die Engländer, weil diese die bestehende matriarchalische Gesellschaft
nicht anerkannten. Bei Konflikten bildeten die Frauen blitzschnell ein Team und
es wurde unendlich viel diskutiert, politisiert und manipuliert. Heute wird nicht mehr von Siddha als Familientradition gesprochen, weil
sie nicht mehr in der alten Form praktiziert wird. Mit Massageöl und Medizin
aus Kräutern verdient man mehr als früher. Viele junge Frauen studieren und
verfügen über eine bessere Ausbildung als die Männer. Es ist inzwischen ganz
normal, dass die Frauen Abschlüsse wie BSC, BA, MA haben oder als
Siddha-Ärztinnen (BAMS, Bachelor of Ayurveda Medical Science) arbeiten. Die
Männer sind entweder Lehrer oder Computerfachmänner (so wie ich). Ich
persönlich bedauere diese Entwicklung, weil die jahrtausendalten Kenntnisse der
Siddha-Heilmedizin verloren gehen. Meine Familie hat mir das handgeschriebene
Rezeptbuch meines Großvaters anvertraut. Aber wer soll die Geheimnisse der
Aufzeichnungen dekodieren und der Welt zur Verfügung stellen? An einer Stelle
schrieb mein Großvater poetisch und mehrdeutig: „Verabreiche diese Rezeptur
einem Mädchen, das dreimal sechs Jahre alt ist!“ Gemeint ist eine junge Frau
mit mindestens 18 Jahren. In unserem Siddha-Stamm herrschen immer noch strenge Normen und eine
strenge Ordnung. Zum Beispiel wird kritisiert oder gerügt, wer körperliche oder
seelische Schmerzen in der Öffentlichkeit zeigt. Tadelloses Benehmen und
stolzes Verhalten wird erwartet. Falls man sich in der Öffentlichkeit
unangemessen verhält, wird dies als Schande für den ganzen Familienklan
betrachtet und im schlimmsten Fall wird die entsprechende Person aus der
Familie ausgeschlossen. Ein Onkel, der Ehefrau und Kind hatte, nahm einmal eine
außereheliche Beziehung auf. Als dies herauskam, forderte die Familie ihn auf,
die Liaison mit sofortiger Wirkung zu beenden. Da er sich nicht beugen wollte,
wurden Frau und Kind in die Heimatstadt geholt und es folgte der Ausschluss des
Mannes aus dem Familienverband. Er durfte nicht mehr zurück in den Stadtteil,
aus dem seine Frau stammte und verlor alle seine Rechte.
Religiöse Bräuche Es wird den „Andersgläubigen“ verwundern zu erfahren, dass vielen
Kindern im Hinduismus nicht die „religiösen“ Vorstellungen ihrer Erzieher
aufgezwungen werden, denn diese können sich ja irren. Jeder soll seinen eigenen
Weg erkunden, um seine Wahrheit zu erlangen bzw. zu erfahren. Es wurde uns beigebracht, dass man den anderen Menschen von seinen
religiösen Praktiken und von seiner Suche nach Wahrheit oder Gott nicht
ablenken soll. Denn alle Religionen haben das gleiche Ziel. Sie versuchen, dem
Leben einen Sinn zu geben. Ich selbst habe das Göttliche im Universum gefunden. Das Universum, das
man sich nicht vorstellen kann, ist für mich das Göttliche. Es wäre auch nicht falsch, wenn man sagen würde, der Hinduismus sei
keine Religion, sondern eine Weltanschauung. „Einheit in der Vielfalt“ ist ein wichtiges Merkmal des Hinduismus. Es gibt kein heiliges Buch wie die Bibel im Hinduismus, aber unzählige
heilige Schriften. Die Gita ist eine heilige Schrift der Hindus, verfasst in
Sanskrit als Gesang oder Gedicht. Es ist eine Anleitung zum Leben in Form eines
Frage- und Antwortgespräches zwischen einem Prinzen und dem Avatara, einer der
Gottheiten der Hindus. Somit ist sie quasi die erste FAQ-Liste der Welt! Das Leben in Indien ist Religion, denn alles, was man tut, hat irgendwie
mit Religion zu tun. Seit Jahrhunderten haben die Inder ihre Lebenseinstellung
und Lebensweise an die Natur angepasst, so dass die Religion fest verwurzelt
ist und ein wichtiger Teil der indischen Kultur ist. Dabei werden zum Teil auch
die Sitten und Bräuche anderer Religionen in den Hinduismus integriert. Trotz der Vielfalt der Götter und Göttinnen ist jedem erwachsenen Hindu
klar, dass es hier um Göttlichkeit geht und nicht um Figuren, Namen oder
heilige Schriften. Mit folgender Geschichte, die ich mir ausdachte, möchte ich den Begriff
„Göttlichkeit“ beschreiben: Ein Schüler fragte seinen Guru, wann er denn die
Göttlichkeit erkennen werde. Der Guru riet ihm, zunächst einmal alles
anzunehmen und die Rituale zu praktizieren. Der ungeduldige Schüler bohrte
weiter und wollte dennoch eine schnelle Erklärung haben. Daraufhin antwortete
der Meister: „Du fragst eine Ameise auch nicht, wie groß der Berg ist. Die
Ameise kann es sich nicht vorstellen. Genauso wissen wir Menschen nicht, wo
genau sich unsere Erde im Weltall befindet, weil wir uns dessen Größe nicht
vorstellen können.“ Meine Tante hat einen kleinen Altar in der Küche für die Göttin
Maariamma (Maria). Sie hat die christliche Mutter Gottes einfach in ihre Gebete
aufgenommen. Die hinduistischen Götter finden ihr Zuhause im Poojaraum (Gebetsraum).
Buddha steht im Wohnzimmer oder im Vorraum. Jeden Freitag marschierte unsere ganze Familie um den fünf Meilen entfernten
Ulsoor Lake zum Ganeshatempel. Ich bin sehr gerne mitgelaufen – nicht nur, weil
ich den elefantenköpfigen Gott Ganesha mochte, sondern weil es an diesem Tag
nach der Zeremonie leckere Süßigkeiten gab. Außerdem kamen lustige Musikanten
und Sänger und erzählten sehr spannende und interessante Geschichten aus der
Mythologie. Die Sänger rezitierten und sangen die Sanskritverse und
interpretierten diese in den drawidischen Sprachen. Ach, ich vermisse sie.
Viele dieser Geschichten über Götter, Dämonen, Fabelwesen und wie sie mit
weltlichen Problemen fertig wurden, imponierten mir sehr und halfen nicht nur
im privaten, sondern auch im beruflichen Leben, Erfolge zu erzielen. Die
meisten dieser Geschichten, Erzählungen, Gedichte und Gesänge berichten vom Mut
einzelner Menschen und davon, wie man mit Wut fertig wird, wie man sich
beherrscht und nicht beherrschen lässt, was man List und Tücke entgegensetzten
kann, welche Aufgabe jeder Mensch in der Familie, in der Gesellschaft oder im
Beruf hat, usw. Diese Lebensart und Spiritualität prägen mein Leben noch heute. Hier zum Beispiel eine Geschichte aus der Götterwelt: Der Gott Shiva und
seine Gemahlin Parvathi hatten einmal Ehestreitigkeiten. Shiva erkannte, dass
er nicht unschuldig war und wollte sich wieder mit Parvathi versöhnen. Parvathi
war jedoch noch verärgert und sprach nicht mehr mit ihm. Shiva begegnete
Narada, dem himmlischen Geschichtenerzähler, und nahm ihn mit nach Hause.
Parvathi wollte nicht, dass Narada von der Missstimmung in ihrem Hause erfahre
und anderen Personen davon erzähle. Sie zeigte sich deshalb von ihrer
freundlichsten Seite und sprach wieder mit Shiva! Einmal war ein trickreicher Lokalpolitiker bei einer solchen
Erzählveranstaltung mit Musik und Gesang anwesend. Der Sänger rezitierte gefühlvoll
und dramatisch die Geschichte eines Tyrannen aus der indischen Mythologie, der
zuletzt wegen seiner Gräueltaten von der Natur mit Krankheit bestraft wurde.
Die Botschaft zeigte Wirkung – der Gast besserte seine Politik zugunsten der
Einwohner. Meine Kinder kennen inzwischen sehr viele dieser Geschichten und meinen
Enkelkindern erzähle ich hin und wieder eine, wenn sie möchten. Es ist manchmal
interessant, wie Kinder solche Geschichten aufnehmen und welche Gedanken sie
dabei haben. Nachdem ich eine Geschichte vom vierköpfigen Gott Brahma erzählte,
dachte mein Enkelkind eine Weile nach und sagte: „Thatha (Opa), dann braucht ja
der Gott Brahma keinen Rückspiegel, weil er ja in alle Richtungen sehen kann.“
Ich musste schallend lachen, denn so etwas war mir in den letzten sechs
Jahrzehnten nie in den Sinn gekommen. Mein Enkel schaute mich nur fragend an.
Missionsschulen Ich besuchte während meiner Kindheit nur christliche Missionsschulen,
denn die Hinduschulen waren nicht systematisch organisiert. Zuerst ging ich in
die gleiche Schule, in der meine Mutter auch ihre Schuljahre verbracht hatte.
Diese CSI Schule (Church of South India) wurde von europäischen Nonnen
geleitet. Meine Mutter hatte als Kind dort Englisch gelernt und half mir, als
ich zur Schule ging, bei den Hausaufgaben. Jahrzehnte später, als ich meine
Mutter aus Deutschland besuchte, erzählte sie mir von den netten Nonnen. Ich
fragte sie, ob sie sich noch an die Namen der Nonnen erinnern könne. „Ja“,
sagte sie, „das waren Engländerinnen. Eine hieß Gertrude und meine
Lieblingsenglischlehrerin hieß Brigitte“, und nannte noch weitere Namen. Als
ich ihr erklärte, dass, wenn die Nonnen deutsche Namen hätten, sie auch aus
„Germany“ stammen könnten, war sie erstaunt und fügte hinzu: „Ja, ab und zu haben
sie untereinander komisch gesprochen.“ Meine Lehrer in der Methodist Mission School in Bangalore waren nicht
nett. Sie schlugen uns, wenn wir vergaßen, den Stirnpunkt oder die Stirnfarben
nach einem Tempelbesuch abzuwischen. Um solchen Schlägen mit den canes
(Bambusstöcken) zu entgehen, nahm ich an den Sonntagsschulen der Missionare
teil. Ich lernte viele Bibelverse auswendig und sagte sie laut auf, bevor ein
Lehrer zum Stock greifen konnte. Unterstützung bekam ich von der
Geschichtslehrerin (Chandra Teacher), sie war zwar eine Hindu, durfte aber
keinen Stirnpunkt tragen. Sie kleidete sich meist in weiße Saris, der Farbe der
Missionare. Diese Lehrerin legte für mich immer ein gutes Wort bei Headmaster
Wilfred ein. Wenn die Klasse ihm nicht folgte, wurde er wütend und schlug alle,
die ihm im Weg standen, mit einem dünnen Stock, aber stoppte, wenn ich an der
Reihe war, und ihn anstarrte. Die Zeit im St. Aloysius College in Cox Town (Bangalore) war sehr
angenehm. Wir hatten einen großen
Sportplatz und ein gut ausgestattetes Labor. Das College war erzkatholisch.
Einmal bekamen wir hohen Besuch. Die ganze Schule wurde herausgeputzt und
unsere khakifarbenen Uniformen mussten sauber und gebügelt sein. Dann kam der
Bischof, gekleidet in eine rote Robe. Ausgesuchte Schüler durften in einer Reihe stehen, sich vor ihm
verbeugen und seinen Ring küssen, denn er hatte eine Reliquie, ein kleines
Stück Knochen von Jesus, bei sich, wie uns die Lehrer sagten. Warum gerade ich
die Ehre hatte, verstand ich nicht, denn die Lehrer wussten, dass ich einer
Hindu Community angehörte, obwohl sich unsere Familie in Bangalore integriert
hatte. Wir nannten uns nicht mehr
Siddha, was man hier in der Großstadt auch bestimmt nicht verstanden hätte. Als
ich an die Reihe kam, sah ich seinen goldenen Ring mit rotem Stein, aber keine
Spur von Knochenstücken. Ich zögerte, da ich sowieso keine Knochen küssen
wollte. Daraufhin schnappte mich der Sportlehrer am Kragen und zog mich zur
Seite. Aus Schreck wurde meine Hose nass. Eine Segnung habe ich leider nicht
bekommen. Lernen gehörte nicht zu meinen Leidenschaften. Ich war in einer Clique,
den „Pandawas“, mit der ich immer großen Spaß hatte. Wir dachten uns wunderbare
Entschuldigungen für Eltern und Lehrer aus und schauten uns die Matinee-Vorstellungen
in den nahe gelegenen Kinos an, anstatt in die Schule zu gehen. Als Teenager
waren wir sorgenfrei und fühlten uns cool, aber die Prüfer hatten keine
Verständnis für unsere Einstellung. Diese Spießer haben einfach einige von uns
durchfallen lassen. Daran waren die Matineen Schuld – wir bestimmt nicht, niemals. Zwangsläufig
löste sich die Clique irgendwann auf und ich musste das College wechseln. Jedes Jahr bekamen im Joseph‘s College Studenten, die besonders fleißig
waren, Preise und Auszeichnungen. Nun half alles nichts. Ich musste büffeln,
täglich, oft spät bis in die Nacht. Mir wuchs langsam ein Schnurrbart und ich
lachte seit langem schon nicht mehr laut. Wenn ich das PUC (Pre-University
College) nicht schaffen würde, war ich verloren. Meine Eltern sagten nichts,
kümmerten sich um mich liebevoll. Ich schämte mich und schwor, die Prüfung mit
Bestnoten zu absolvieren. Mein Vater garantierte mir seine Unterstützung für
die Uni. „Wenn du es nicht schaffst“, warnte er mich aber, „dann musst du eine
Lehre anfangen, hart arbeiten, und zwar körperlich, und du wirst dir im
späteren Leben keinen Luxus leisten können.“ Das Schicksal wollte es aber anders. Mein Vater war Superintendent in
der Personalabteilung, hatte Einfluss und konnte mir eine Mechaniker-Lehrstelle
bei Hindustan Aeronautics Limited besorgen. Die Ausbildung war hart, sehr hart.
Ich beschloss nun, Elektromechaniker zu werden. Diese Ausbildung verlangte mehr
Kopfarbeit und das lag mir besser. Zufall oder Faulheit? Wie dem auch sei,
dieser Beruf eröffnete mir später die Welt der Informationstechnologie.
Lehrzeit Meine Lehre als Elektromechaniker absolvierte ich bei zwei Firmen. Eine
produzierte Fahrzeuge, mit denen man
Erdbewegungen durchführen konnte, und Zugwaggons, bei der anderen wurden Flugzeuge
gebaut. Ich genoss die Ausbildung, lernte jeden Tag was Neues dazu. Mr De
Souza, ein Angloinder (so nannte man damals die Nachkommen der indo-britischen
Ehen), war mein Mentor während der Ausbildung. Seine Muttersprache war
Englisch, obwohl sein Name Portugiesisch klingt. Als ich meine Zeugnisse mit
Auszeichnung bekam, suchte ich ihn auf, er sagte nur „Okay, very good, follow
me“ und brachte mich zur Planungsabteilung. Dort sollte ich unter der Anleitung
eines erfahrenen Mitarbeiters für die Planung der Materialversorgung eingesetzt
werden. Da fragte man nicht, da widersprach man nicht, da sagte man: „Thank
you, Sir, I will not disappoint you, Sir.“ Mr De Souza antwortete kurz: „Of
course not“, und ging weiter. Es war spannend, durch alle Hallen zu laufen und sich um die
Materialversorgung zu kümmern. Da alle Hallen mit Kränen ausgestattet waren,
wollte ich mich unbedingt ganz nach oben hochheben lassen, um einen besseren
Überblick über die Versorgungsinfrastruktur zu bekommen. Der Kranführer war beeindruckt:
„Endlich mal jemand, der sich Gedanken macht“, sagte er und zählte alle
Missstände auf, erklärte, wie man die Mehrfahrten reduzieren könne, warum die
Großteile draußen vorbereitet werden sollten, usw. Es waren Tipps eines
erfahrenen Kranfahrers, die Gold wert waren. Ich machte eine Luftskizze und
optimierte die Versorgung. Dafür bekamen ich und der Kranführer Lob. Allerdings
wurden wir beide auch getadelt. Denn mir war es verboten, den Kran zu
besteigen, und er durfte mich ohne Genehmigung nicht in die Höhe fahren. Es war
eine aufregende Zeit!
Mein Fahrrad und ich Die Monsunzeit begann: Die Straßen waren in miserablem Zustand – überall
dreckiges Wasser, die Busse fuhren nicht regelmäßig und die Regenschirme gingen
ständig kaputt oder flogen weg. Da blieb nur eines, Regenmantel überziehen und
aufs Fahrrad. Mein Vater und ich waren ein Team, wir zerlegten Fahrräderin alle
Einzelteile und reparierten sie. Aus zwei defekten Rädern bauten wir ein gutes,
stabiles Rad, indem wir die Kugellager auseinanderschraubten und schmierten,
Kugeln einsetzten und alles zusammenschraubten. Mein Vater war ein Fan von „German Products“ aus der GDR (German
Democratic Republic). „Sie sind sehr stabil und man kann sie leicht
reparieren“, sagte er immer. Die „Fahrrad-Ausbildung“ bei meinem Vater half mir mein Leben lang bei
vielen technischen Arbeiten. Nach fünf Jahren Aufenthalt in Deutschland
besuchte ich meine Familie in Bangalore. Als ich meinem Vater erzählte, dass
ich nicht in der DDR, sondern in der Federal Republic of Germany wohnte, war er
überrascht. Ich hatte damals meine Freundin mit nach Indien genommen und wir
erzählten vom Leben in West Germany. Oft musste ich für meine Freundin aus dem
Tamilischen ins Deutsche dolmetschen. Mein Vater sprach Englisch mit meiner Freundin. Bei diesen Gesprächen merkte ich einmal
nicht, dass ich vergaß, die Sprache zu
wechseln, und erzählte ihm von irgendeiner Begebenheit auf Deutsch. Er grinste
nur und schaute mich freundlich an. Es waren angenehme, herzliche und schöne
Wochen mit meiner Familie. An einem dieser Monsunregentage war ich auf dem Weg zur Schule spät
dran. Ich fuhr schnell und waghalsig durch Bäche und nasse Abkürzungen. Es
musste ja passieren, mein Fahrrad warf mich aus der Bahn. Ja, das Fahrrad war
schuld, wer denn sonst?Ich musste es nach Hause schieben, ziehen, tragen und
schleppen. Ich saß zwei Stunden auf dem nassen Boden, reparierte es notdürftig
und mein Vater bekam nichts davon mit. Mutter versorgte liebevoll meine Wunden.
„Möge Ganesha mit dir sein!“, war alles, was sie sagte. Bei unserer Nachbarin fügte sie jedoch hinzu: „Es stimmt, junge Kälber
haben keine Angst. Aber Ganesha wird ihn beschützen.“ Seit dieser Zeit fuhr ich
vorsichtig und mit mäßiger Geschwindigkeit. Meine Mutter beauftragte mich, als Dank zu Ganesha in den Tempel zu gehen und als Opfergabe eine
Kokosnuss auf dem Boden aufzuschlagen.
Das tat ich auch, allerdings musste ich auf das köstliche Fischcurry meiner
Mutter verzichten, denn am Tempeltag durfte nur vegetarisch gegessen werden. Es
war einfach wunderbar, wie meine Mutter Fischcurry in Kokosmilch zubereiten
konnte. Dieses Aroma, dieser Geschmack von sanften Chemmeen (Süsswasserlachs),
gekocht in Kokos-Curry aus sieben Zutaten und angereichert mit der Paste aus
süß-sauren reifen Tamarinden-Früchten, ist
ein Gedicht.
Warum Deutschland? Nein, ich wollte nicht weg von Indien, es gab keine Notwendigkeit!
Anfang der siebziger Jahre war Indien ein vielversprechendes Land. Die Fünf-Jahres-Pläne der Kongresspartei
waren realistisch und Indien begann, selbstständig und selbstsicher zu werden. Ich hatte damals gerade meine Teenagerzeit hinter mir und glaubte,
erwachsen zu sein. An einem Sonntagabend rief mein Vater nach mir. Wenn er anstatt
„Suraeesh“ nur „Dah!“ („Komm her!“) sagte, wusste ich, dass es etwas Ernstes
war. Ich dachte bei mir: „Ich habe doch gar nichts getan: Das Fahrrad ist
wieder repariert, ich gehe regelmäßig in die Abendschule, an Sonntagen besuche
ich vormittags einen Kurs, in dem ich das Schreibmaschinenschreiben erlerne,
und nachmittags schleppe ich mich noch zur Fahrschule.“ Ich ging davon aus,
dass es die Nachbarin gewesen sei, die mich bei Vater angeschwärzt hätte. Ich hatte eine heftige Diskussion mit ihr
gehabt und ich glaubte, die Alte sei sauer auf mich. Stattdessen forderte Vater
unmissverständlich: „Füll dieses
Formular sauber aus, schön schreiben, besonders schön und alles deutlich
lesbar!“ Es ging um ein Auswahlverfahren für eine Praktikumsstelle in Germany.
Da fragte man nicht, da widersprach man nicht. Ich sollte ab sofort anfangen,
mich für die Prüfung vorzubereiten. Als meine Mutter Wind von der Sache bekam,
folgten heftige Diskussionen mit Vater mit vielen Vorwürfen und Fragen, da sie
mich bei sich behalten wollte. Oh je, dicke Luft. Ich nahm die Formulare und
ging auf die Veranda, wo mein Schreibtisch stand. Mehrere Fragen tauchten auf:
„Wo liegt Germany? Wo ist mein Atlas? Meine Schwester hat ihn bestimmt verlegt!
Warum muss ich nach Germany?“ Einige Tage zuvor hatte ich einen weißen Jungen
am See gesehen. Ich dachte: „Solche Menschen, die so komisch sprechen, kommen
bestimmt aus Germany.“ Kein Wort hatte
ich verstanden. Als ich zur Assessment-Prüfung ging, verabschiedete meine Mutter mich
nicht, sie blieb in der Küche. Es waren genau 400 Prüflinge, die Fragen waren
gar nicht schwer, allerdings hatte ich zweimal die Hälfte von dem, was der
deutsche Ingenieur sagte, nicht verstanden. Sprach er Englisch oder Deutsch? Vier Wochen später, als ich von der Arbeit nach Hause kam, hörte ich,
dass meine Eltern wieder einmal in eine heftige Diskussion verwickelt waren.
Meine Schwester empfing mich mit einem breiten Grinsen und flüsterte: „Du
fliegst nach Germany mit einem Aeroplane.“ Offenbar hatte ich die Prüfung
bestanden. „Germany“, dachte ich. „Wieso eigentlich? Wo ist nochmal Germany? Wo
ist mein Atlas?“ Mr De Souza war nicht enttäuscht, als ich mich von ihm verabschiedete.
Er gratulierte mir, lachte und freute sich. „Don't forget us, my dear boy“,
sagte er zum Abschied. Er hatte mich noch nie vorher „my dear boy“ genannt. „Yes Sir, I will not
forget you, Mr De Sousa, Sir.” Nein, ihn, meinen Mentor, vergessen.. niemals! Meine Mutter hat meinem Vater nie verziehen, dass er mich nach
Deutschland schickte. Sieben Jahre später starb mein verehrter Vater. Ich erbte sein Tagebuch,
seine Armbanduhr und diverse Unterlagen. Darin fand ich mein Horoskop, erstellt
kurz nach meiner Geburt, und es stand darin: „Dieser Mensch wird in einem von
seinem Geburtsland weit entfernten Staat sein Leben verbringen.“ Bei uns gibt es ein Sprichwort: Maatha, Pitha, Guru, Dhaivam.Es ist ein
sehr alter, aber bekannter Spruch in Sanskrit aus der vedischen Zeit. Zuerst kommt die Mutter, denn sie hat dich geboren, sie kennt den Vater
und beide suchen einen Lehrer, der dir wiederum durch seine Lehre und sein
Wissen den Weg zu Gott zeigt. Ich hatte viele Lehrer, Berater, Mentoren und Gurus, aber mein Vater war
mein Freund, Berater, Trainer, Mentor, also auch mein Guru. Vor allem aber war
er mein Vater. Heute bin ich selbst Vater und Großvater, aber meinen Vater
verehre ich noch immer. Die Firma Trafo Union, eine Fusion zwischen AEG und Telefunken,
sponserte für uns 40 Praktikanten warme europäische Kleidung, Schuhe,
Deutsch-Unterricht, Kurse fürs Benehmen und
Informationen über Deutschland. Außerdem finanzierte sie bereits in
Indien ein sechsmonatiges Vorbereitungstraining und Deutschunterricht bei Max
Mueller Bhavan (Goethe-Institut).
Ankunft in Deutschland
in halbes Jahr später landeten 40 indische Praktikanten in Stuttgart.
Wir sollten eine zweijährige Ausbildung absolvieren und danach wieder zu Hause
in Indien eingesetzt werden. Es war ein warmer Tag im Juli 1972. Wir wurden von Mr. Kai am Flughafen
Stuttgart freundlich empfangen. Er war unser Dolmetscher, Manager, Landsmann,
Freund und Berater in einer Person. Schon die Fahrt in dem breiten, sich
geräuschlos bewegenden Flughafenbuswar ein Erlebnis. Die Straßen waren sauber
und leer. Alles war neu, während der Fahrt schauten wir von links nach rechts
und zurück, überall gab es Schilder mit merkwürdigen Bildern darauf.
Urplötzlich sahen wir, wie uns ein sehr breiter Bus entgegenkam und – Oh nein!
Er fährt direkt auf uns zu und der Fahrer weicht nicht aus! – Doch der
entgegenkommende Bus fuhr einfach links an uns vorbei. Ein erleichterndes
Seufzen und einer von uns sagte: „Die fahren ja auf der falschen Straßenseite!“ Kurz nach unserer Ankunft in der Burgstallstr. 75 in Stuttgart zeigte
Herr Kai uns unsere Zimmer. In jedem Apartment standen fünf Feldbetten, ein
Tisch mit sechs Stühlen und eine kleine Küche. Im Keller befand sich eine
Dusche, für 3 Minuten Warmwasser mussten wir 10 Pfennige einwerfen.
Leben im Schwabenland Das Wetter war im Juli warm und die Tage lang, so konnten wir uns
schnell einleben. Der Tengelmann-Filialleiter wunderte sich, dass die
Reiskochbeutel auf einmal zu den Bestsellern gehörten. Keiner von uns konnte
kochen. Wir experimentierten herum und brachten bald einigermaßen Essbares
zustande. Nach einigen Wochen entdeckten wir einen Laden, in dem indische
Produkte verkauft wurden. Fortan kochten wir um die Wette, die Kochanleitungen
kamen per Aerogramm von besorgten Müttern, Tanten und Freunden. Wir dachten,
die Deutschen würden kein gescheites Rezept kennen, alles schmeckte für uns
gleich und nach gar nichts. Manches roch so komisch. Auch das Bier hatte einen
bitteren Geschmack. Nun improvisierten wir verschiedene Gerichte. Egg-Pilaw war ein Hit. Man schlägt ein paar Eier in den kochenden Reis,
dazu ein halber Teelöffel Salz, ein Esslöffel Curry, ein Löffel Butter. Fertig
in zehn Minuten. Dazu Limonen oder Mango Pickles. Lecker – na ja, wenn du
Hunger hast. Ist der Pilaw zu salzig oder ist dir das Curry ausgerutscht,
mische ihn mit drei Esslöffeln Joghurt und nenne das Ganze "Indo-German
Pilaw!" Wir wurden in der Firma in verschiedenen Abteilungen eingesetzt, um zu
lernen und um zu arbeiten. Obwohl wir die Prüfungen des Goethe-Instituts in
Bangalore mit Erfolg absolviert hatten, verstanden wir unsere Arbeitskollegen
nicht immer. Die deutschen Kollegen sprachen mit uns langsamer, aber
untereinander redeten sie manchmal in einer geheimen Sprache, die wir später
als Schwäbisch kennen lernten. Einmal sagte der Meister: „Gaangamaa!“ und lief
weiter. Wir rätselten, aber wir lernten schnell. Nach einigen Monaten
verstanden wir die Schwaben und riefen fröhlich „Heidanai“, „jetzetle“, „ha
noi“, „Des goht fai net“ und bei „Gaangammaa!“ gingen wir mit.
Der Auftrag der Familie Die Landesgirokasse brachte die erste Plastikkarte für den Geldautomaten
heraus. Diese hatte keine Magnetstreifen als Kennung, sondern Löcher! Bald schmeckte das Bier und die Diskos waren bunt. Wir konnten das
andere Geschlecht ohne Hemmungen ansprechen und am Ende des Monats waren wir
pleite. Eines Tages, es muss im Sommer 1973 gewesen sein, erinnerte ich mich an
die Worte der jüngeren Schwester meiner Oma, als ich sie zum Abschied in
Südindien besuchte. Sie saß auf der Veranda und unterhielt sich angeregt mit
ihrer Freundin. Obwohl ich bereits 21 Jahre alt war, strich sie mir liebevoll
über den Kopf und wünschte mir alles Gute für meine Ausbildung in Europa. Dann
wurde sie ernst und formulierte ihren
Auftrag als Mitglied des obersten Familienrates: „Du wirst sieben Meere und
sieben Berge überqueren. Nimm sieben unserer Künste mit zu den Menschen dort
und wenn du in die Heimat zurückkehrst, bring sieben Künste von dort hierher.“
Danach segnete sie mich für meinen weiten Weg. Ihre Freundin ergänzte: „Vergiss
es ja nicht, es ist ein Auftrag und wir erwarten dich zurück, wenn du diesen
Auftrag erfüllt hast.“ Die tamilische Sprache ist die älteste der Welt und hat Wörter mit hohem
Gehalt und tiefer Bedeutung. Ich hatte
die Worte der beiden Frauen bis zu diesem Tag nur als gute Wünsche zweier
älterer Damen und nicht als Auftrag betrachtet. Warum ich diese Worte auf
einmal so ernst nahm, weitere Kurse belegte und freiwillig aktiv an
Veranstaltungen des Deutsch-Indischen Vereins teilnahm, kann ich nicht
erklären, aber der Auftrag meiner Verwandten begleitete mich seit dieser
Zeit.
Weiterbildung zum Computer-Techniker Es sind, meiner Meinung nach, nicht die Politiker, die schnelle
Entscheidungen treffen oder sich über die kulturellen Schranken der
Gesellschaft hinwegsetzen und die Menschen zusammenbringen, sondern die
Geschäftsleute. Es waren die klugen voraussehenden Wirtschaftskapitäne, die Menschen aus
dem Ausland nach Deutschland holten, zum
Beispiel im Rahmen des Zusammenschlusses von AEG-Telefunken und NGEF
(New Government Electric Factory) in Bangalore. Nach dem zweijährigen Praktikum
sollten wir zurückkehren nach Bangalore, um die dortige Produktion nach
deutschem Standard zu steuern. Nach zwei Jahren stellten wir fest, dass die Wirtschaft andere Gesetze
hat. Die zusammengeschlossenen Firmen lösten ihre Verträge auf und wir standen
da, wie bestellt und nicht abgeholt. Allerdings erhielt ich Unterstützung von
der Firma, die uns nach Deutschland geholt hatte. Der Praktikumsvertrag wurde
in einen Arbeitsvertrag für ein weiteres Jahr umgewandelt. Ich erinnerte mich an die Schulzeit in Indien. Wir mussten zweimal
umsteigen, wenn wir mit dem Bus in die Stadt fuhren, um von der Bücherei des
British Council Bücher und technische
Zeitschriften ausleihen zu dürfen. Es kostete uns viel Zeit, um an Wissen zu
gelangen. Deutschland war, in Bezug auf Bildung, ein Schlaraffenland. Abendkurse,
Sprachkurse, technische Ausbildung, alles war möglich. Man musste sich nur
anmelden und eine geringe Gebühr entrichten. Man konnte alles Erdenkliche
lernen. Die Bücherei war kostenlos und eine Unmenge an Wissen stand zur
Verfügung. „Was macht man mit diesem erweiterten geschenkten Jahr?“, fragte ich
mich. „Bildung ist die Lösung“, sagte mein Verstand. „Das ist die Basis für
deine Zukunft“, erklärte meine Vernunft. Mit einem Studium und einem akademischen Titel sei ich ein gemachter
Mann, dachte ich. Aber die Uni erkannte meine indischen Zeugnisse nicht an. Man
riet mir, das Kultusministerium anzurufen. Dort erteilte man mir eine Absage,
weil meine Zeugnisse und Bildungskenntnisse für das hiesige Bildungssystem
nicht ausreichend seien, was mich nicht
überraschte. Was ich nicht wusste, war: Auch die indische Kultusbürokratie
erkannte ausländische Zeugnisse nicht einfach so an. Was mich aber überraschte und beeindruckte, war die Form der Absage. Es war ein langer, höflicher Brief mit der Begründung, warum meine
Schul- und College-Zeugnisse in Deutschland nicht anerkannt werden könnten. Das
Ganze war mit zwei Unterschriften und Stempel besiegelt, ich empfand Respekt
vor dieser Absage. Allerdings musste ich meinen Studentenausweis abgeben. Ein anderes Mal schrieb mir ein Gremium der IHK, bestehend aus fünf
Mitgliedern, ausführlich, warum meine indische Ausbildung nicht dem Standard in
Deutschland entspräche, dass sie es bedauerten, mir eine negative Auskunft
geben zu müssen und mir für die Zukunft alles Gute wünschten! Wenn ich etwas nicht verstand und selbst nicht weiterkam, fragte ich
andere Menschen. Sharma, ein Freund, informierte mich über eine Ausbildung zum
Computer-Techniker. Zu dem Zeitpunkt erschien ein Artikel in der Zeitung, in
dem stand, dass ein Taschenrechner entwickelt worden sei, den sich jeder
durchschnittlich verdienende Mensch leisten könnte. Das Tolle war, man konnte
diesen Taschenrechner sogar programmieren. Da ich bereits Grundkenntnisse der
Elektronik aus Indien mitbrachte, wollte ich spontan eine Ausbildung zum
Programmierer absolvieren. Also bewarb ich mich bei Control Data Institut in Frankfurt. Ein paar
Tage später rief ein Herr Schüler aus Frankfurt bei Trafo Union an, wo ich mein
Praktikum absolvierte. Er stellte mir mehrere Fragen und schickte mir per Post
einen Fragenkatalog. Ich sollte diese Formulare ausgefüllt zur Aufnahmeprüfung
nach Frankfurt mitbringen. Da die Programmierer-Ausbildung in englischer
Sprache angeboten werden sollte, machte ich mir keinerlei Gedanken. In
Frankfurt empfing mich Herr Schüler sehr freundlich und bat mich, weitere
mehrseitige Formulare auszufüllen.
Dieses Mal waren die Fragen auf Deutsch und es ging um Grundlagen der
Mathematik, Physik, Elektronik und Mechanik. Ich wurde in einen großen Saal geführt. Mehr als 80 Personen waren
anwesend. Nach einem Gongschlag durften wir mit der Aufnahmeprüfung für den
Programmierkurs beginnen. Keine zehn Minuten später kam Herr Schüler wieder in
den Saal und lief direkt auf mich zu. Er schnappte sich die Prüfungsblätter und
forderte mich auf, ihm zu folgen. Ich war geschockt, wusste nicht, wie mir
geschah, und alle Anwesenden im Saal schauten diesem Geschehen erstaunt zu. Ich
ging mit geneigtem Kopf mit Herrn Schüler aus dem Saal. Er brachte mich in
einen noch größeren Saal, wo mehr als 200 Personen saßen und fleißig an der
Aufnahmeprüfung arbeiteten. Herr Schüler wies mir einen Platz zu und ich
entdeckte, dass es sich dieses Mal um die Aufnahmeprüfung für
Computertechnik handelte. Alle Fragen
waren auf Deutsch. Ich schaute Herrn Schüler fragend an. Er ermunterte mich
lediglich leise: „Das schaffen Sie schon!”, und verließ den Saal. Mir blieb gar
nichts anderes übrig, also fing ich an, diese Fragen zu beantworten. Einige
Tage später rief Herr Schüler mich noch einmal an und teilte mir mit, dass ich
die Aufnahmeprüfung bestanden hätte. Ich solle vier Wochen später meine
Computertechniker-Ausbildung beginnen. „Es gibt immer eine neue Chance“,
stellte ich zufrieden fest, nahm mein ganzes angespartes Geld und investierte es in meine Ausbildung. Da ich weder vom Arbeitsamt noch
von anderer Stelle finanzielle Unterstützung bekam, nahm ich einen Kredit auf.
Ohne Hilfe hätte ich das nicht geschafft Herr Schüler organisierte eine Einzimmerwohnung in der Nähe und
genehmigte mir die Ratenzahlung. Meine gesamten Ersparnisse betrugen 7000 DM
und der Kurs kostete 8000 DM. Eine ältere Dame aus Stuttgart, die ich durch
meinen Klassenlehrer in Indien kennen gelernt hatte, übernahm die
Bürgschaft. Nach dem Abschluss wollte
ich mir einen Job suchen, aber das Arbeitsamt wollte mir keine
Arbeitsgenehmigung erteilen. Dies war die Bedingung für die
Aufenthaltsgenehmigung. Ein freundlicher Beamter vom Einwohnermeldeamt wollte
mir unter der Bedingung helfen, dass ich
zuerst Arbeit fände. Nach vier harten Wochen und einem Bewerbungsmarathon bekam
ich einen Job bei Wang Laboratories. Der nette Beamte vom Einwohnermeldeamt
rief das Arbeitsamt an und ich erhielt die Arbeitsgenehmigung. Innerhalb von
zwei Jahren konnte ich den Kredit zurückzahlen. Ohne Herrn Schüler, die hilfsbereite ältere Dame und den freundlichen
Beamten wäre das alles nicht möglich gewesen.
Was können meine Freunde in Deutschland von mir lernen? Was kann ich
nach Indien mitbringen? Der Auftrag meiner Chinnaachi (Omas jüngerer Schwester) beschäftigte
mich zu dieser Zeit häufig. In Briefen schrieb mir meine Mutter, dass die
Familie für mich einen Pooja (Ritual im Ganesha Tempel) veranstaltet hatte.
Mutter schickte mir die Relikte dieser Zeremonie in Form von weißer Asche und
Sandelholzpaste, die sie vom Priester erhalten hatte. Vierzehntägig schrieb ich
Aerogramme, erklärte das Leben in Deutschland und berichtete meist nur positiv.
Aber auch die negativen Seiten des Lebens beschrieb ich, z.B. dass es mir in
den Wintermonaten sehr kalt war und ich die Familie, die Feste und die leckeren
Dosas, Idly, Vadas, Sambars (vegetarische Gemüsegerichte) und den starken South
Indian decoction Kaafii (ungefilterten Kaffee) sehr vermisste. Im Frühjahr 1975 wurde mir klar, dass es nur noch wenige Monate waren,
bevor ich in die Heimat zurückkehren würde. Ich fragte mich, was ich mitgebracht hatte und was ich mitnehmen sollte. Die Zeit
drängte: Was würde ich meinen Verwandten
in Indien erzählen können? Würden meine Erzählungen ihren Erwartungen gerecht werden? Ich musste
doch als foreign returned person etwas präsentieren: Bilder vorführen,
erzählen, berichten. Oh Ganesha! Ja, ich musste ihn fragen. Wie viele Kokosnüsse hatte ich
schon für ihn aufgeschlagen? Er würde mir bestimmt helfen. An einem Freitagmorgen entschloss ich mich,
mein Ganesha Mantra zu rezitieren. Ich stellte die Ganesha Figur gen Osten
gerichtet auf den Fenstersims: „vakratuNDa mahAkAya suryakoTi samaprabha | nirvighnam kuru me deva sarva kAryeshu sarvadA ||…“ Wie oft ich die Mantra rezitierte, zählte ich nicht mehr. Ich versank in
tiefe Meditation. Als ich meine Augen öffnete, war die Sonne untergegangen.
Meine Füße schmerzten, denn lange hatte ich nicht mehr in Yoga-Asana gesessen.
Ich versuchte, mich zu konzentrieren und fragte mich fortwährend: „Was tue ich?
Wo bin ich? Was ist los?“ In solchen Augenblicken trinkt man einen Masala Chai
(Milchtee mit Gewürzen), aber nicht alleine. Ich verließ das Haus und ging zu
Freunden.
Am darauffolgenden Montag fragten die Kurskameraden: „Was hosch denn
g‘macht am Wochaend?“ „Nix, hab bissl Yoga gmacht, hab Freunde getroffen, war auf dem See Bootle fahre, so halt.“ Es war eine gemischte
Gruppe, ein junger Mann von den Philippinen war der Sohn eines Managers, er
hatte keine Geldsorgen, ein anderer kam aus Afrika, ein sympathischer Typ, der
immer laut redete und lachte, dann noch ein rundlicher Typ aus Tschechien, der
kaum etwas sagte, aber in den Prüfungen immer die besten Ergebnisse erzielte.
Die restlichen 18 Leute waren aus Deutschland. Die meisten deutschen Kameraden
hatten entweder eine Lehre oder mehrere Jahre Berufspraxis hinter sich. Ein
Polizist war auch dabei, er musste sich umschulen lassen und er erhielt
finanzielle Unterstützung vom Staat. Dieser sanfte Ex-Polizist wollte von mir
mehr über Yoga erfahren. Als ich die Pranayoga (lebendiges Lebensyoga)
vorführte und ein paar Asanas (Yogahaltungen) darstellte, war er sehr
beeindruckt. Die anderen grinsten zu Beginn meiner Erzählung und lachten, dann
wurden sie still und lauschten gespannt, ohne eine Miene zu verziehen und
kommentierten nicht. Ab diesem Zeitpunkt
musste ich jeden Mittwochnachmittag Yoga-Kurse geben. Da mir langsam das
Material für die Kurse ausging, bat ich meine Verwandten um schriftliche
Unterstützung. Ich bedauerte, dass ich mir in Indien nicht die Zeit genommen
hatte, um mehr über Yoga zu lernen. Als es bei einer Party nichts „gescheites“ zu essen gab, kochte ich mit
der Gastgeberin Sambar und Reis. Sambar ist eine Art vegetarische Ratatouille
auf südindische Art. Dieses Gericht war das einzige, das ich einigermaßen gut
kochen konnte, und es schmeckte allen Anwesenden. Später hieß es, ich hätte
ihnen einen Kochkurs gegeben. Da fiel mir ein, ich hatte die Menschen ja bereits in zwei indische
Künste eingeführt. Ich zählte sie auf, als Drittes könnte ich kleine Vorträge
über die Religionen und Weltanschauungen der Inder halten, über die indische
Geschichte, über die europäischen und arabischen Besatzer, über die Literatur,
Geschichten und Erzählungen der alten Inder und so fort. Es waren alltägliche
Dinge, die sich jeder Inder aus dem Ärmel schütteln konnte, alles nichts
Außergewöhnliches. Wie ich später erfuhr, taten auch die anderen Inder, die
hierherkamen, Ähnliches, ohne dafür von jemandem einen Auftrag erhalten zu
haben! In drei Jahren sammeln sich allerlei Souvenirs, Bilder, Bücher und
andere Erinnerungsgegenstände an. Diese Sachen verschiffte ich in zwei großen
Koffern. „In sechs Monaten werden die Koffer Madras Port erreichen“,
versicherte mir die Spedition. Nun wollte ich die Künste der Europäer kennenlernen,
damit ich in der Heimat etwas zu erzählen hatte. Singen war nicht meine Stärke,
aber vielleicht tanzen. Westliche Musik, Literatur, Malen, Kampfkunst, Fußball
und Kuchen backen standen auf meiner Liste als „noch zu erlernende Künste“. Ich
wollte ja keineswegs Meister dieser Künste werden, aber etwas vorführen und
erzählen sollte ich schon können. Die Zeit wurde knapp, also dachte ich: „Beginne mit dem Einfachsten und
meldete dich in einer Tanzschule an.“ Das brachte eine gewaltige Wendung in mein
Leben. Es gab nicht viele Tanzschulen in Stuttgart in den Siebzigern. Ein
deutsch-dänisches Paar betrieb eine Tanzschule auf der Königstraße. Mein Ziel
war, dort nur die Grundkenntnisse der lateinamerikanischen Tänze zu lernen.
Meine Tanzpartnerin hatte bereits Erfahrung und konnte Walzer und Tango. Für
sie war es ein Auffrischungskurs und für mich eine Katastrophe. Sie ließ sich
nicht führen, sondern führte mich, irgendwann fügte ich mich ein und niemand
bemerkte etwas von unserem Rollentausch. Der Tanzlehrer war auch zufrieden. In dieser Tanzschule lernte ich zwei schüchterne deutsche Mädchen
kennen. Beide sprachen im breitesten Schwäbisch und ich verstand vieles nicht.
Eine von ihnen gefiel mir sehr und es dauerte nicht lange, da hatte ich mich
„verguckt“. Der Abschlussball war wunderschön und blieb unvergesslich in meinen
Erinnerungen.
Dieses Mädchen veränderte mein Leben Sie war 20, ich vier Jahre älter und wir wurden in den darauf folgenden
Monaten ein Paar. Dabei hatte ich nicht an Heirat, Familie usw. gedacht. Das
Mädchen veränderte mein Leben, sie schenkte mir nicht nur ihr Herz, sondern
auch Zeit und Liebe, wie ich sie noch nie erlebte hatte. Aber meine Ausbildung
zum Computertechniker holte mich nach Frankfurt. Damals gab es weder Handys, noch Internet oder E-Mails. Da sie in
Stuttgart arbeitete, blieben uns nur abendliche Telefonate für unser
Liebesgeflüster übrig. Ich in der Telefonzelle, sie in ihrer Wohnung in
Stuttgart. Meine Ein-Zimmer-Dachgeschosswohnung in Frankfurt hatte keine Kochnische
und auch kein Bad. Ich musste zwei Stockwerke tiefer zum Vermieter gehen und
durfte nur zweimal die Woche duschen. Wenn man gewohnt war, täglich zu duschen,
hatte man ein ungutes Gefühl an den Tagen, an denen man nicht duschen konnte.
Ich besorgte mir eine Dauerkarte für das nahe gelegene Schwimmbad und ging
täglich dorthin. Richtig frühstücken konnte ich in der Einzimmerwohnung nicht,
weil ich dort nur Kaffee kochen durfte. Sogenanntes gutes Essen gab es nur
dienstags im Restaurant einer amerikanischen Fastfood-Kette. Für sieben D-Mark
konnte man sich hier sattessen. Eines Samstags, als ich meine Wohnung verließ, sah ich jemanden auf den
Stufen sitzen. Erstaunt fragte ich: „Was machst du hier? Wann bist du
gekommen?“ Sie war mit dem ersten Zug gekommen, um mich zu überraschen. Ich nahm
sie mit ins Zimmer und dann gingen wir frühstücken und die Stadt anschauen. Sie
übernachtete bei mir auf einem 1,20 m breiten Bett, was zu zweit nicht bequem
war. Am Sonntagabend brachte ich sie zum Bahnhof. Als ich zurückkam, fand ich
einen Briefumschlag, der an meine Wohnungstür geklebt war. Der Briefumschlag
hatte keine Briefmarken, der Absender war mein Vermieter. Darin wurde mir kurz
und bündig fristlos gekündigt. Begründung: Unerlaubte Übernachtung einer
fremden Person in meiner Wohnung. Ich war schockiert und wusste nicht, was ich tun sollte. Niemand hatte
mir damals gesagt, dass ein Mieter auch Rechte hatte. Ich rief einen Makler an
und eine Woche später hatte ich eine andere Einzimmerwohnung, dort war auch
eine kleine Küche. Meine Freundin besuchte mich jedes Wochenende. Mein Leben
veränderte sich völlig. Es waren schöne und stressige Zeiten. Da ihre Eltern
mit ihrer Wahl nicht einverstanden waren, war sie unglücklich. „Wenn sie mich
kennen lernen, wird alles anders“, beruhigte ich sie. Da ich von mir selbst
überzeugt war, war ich mir sicher, dass sie mich mögen würden. Schließlich
stand ich doch in Indien als Bräutigam hoch im Kurs. Ein paar Heiratsmakler
hatten meinen Eltern bereits Angebote unterbreitet und mir einige Bräute mit
hoher Mitgift vorgestellt. Der Antrittsbesuch im Schwarzwald verlief sehr kühl. Die jüngeren
Geschwister und die Mutter meiner späteren Frau waren neugierig und nett. Nur
der Vater stellte sich quer. Wir hatten nicht nur sprachliche Verständigungsprobleme,
wir verstanden uns auch später nicht mehr. Nein, eine feindselige, fremdenfeindliche Haltung oder ein solches
Verhalten habe ich nicht erlebt, aber ich passte nicht in ihre Vorstellung. Ich
hatte einfach Pech mit dieser Familie. Schlechtes Karma! Als ich mit meiner deutschen Freundin nach Hause in Indien ankam, gab es
zuerst Missstimmung. Aber die junge Deutsche, die später meine Frau wurde, war
so herzensgut und geduldig, dass man sie in die Familie integrierte.
Kulturelle Identität meiner Kinder Wir Eltern, eine Schwäbin und ein Inder, wollten unsere Kinder
interkulturell erziehen. Die Kinder kennen nun beide Kulturen und wir haben
immer beide kulturellen Festlichkeiten gefeiert. Es gab jedes Jahr einen
Weihnachtsbaum, Adventskerzen, das Lichterfest und Durga Puja (Gebetsrituale
für die Göttin Durga). Die beiden Sprachen, die zuhause gesprochen wurden,
waren allerdings Deutsch und Schwäbisch. Da ich im Außendienst tätig war,
konnte ich meinen Kindern die indische Sprache nicht beibringen. Es ist schade,
denn Sprachen bereichern die Menschen und erweitern ihren Horizont. Sie fühlten
sich eher als Deutsche und nur, wenn sie indische Trachten anhatten, benahmen
sie sich wie Inderinnen, aber auch nur zum Spaß. Wir motivierten die Kinder, andere
europäische Sprachen zu lernen. Heute sprechen unsere Kinder zwei bis drei
Fremdsprachen. Sie hatten kaum oder nie Probleme wegen meiner Herkunft, vielleicht auch
deshalb, weil sie sehr hellhäutig sind. Aber die Gesichtszüge und Haarfarbe
lassen erkennen, dass ich ihr Vater bin, wenn wir nebeneinander stehen. Meine Kinder haben Indien nie als ihr Herkunftsland bezeichnet, ich
bestand auch gar nicht darauf. Ich glaube, meine Kinder haben uns vor ihrer
Geburt schon als Eltern gewählt. Es mag vielleicht esoterisch klingen, aber so
sehe es eben. Außerdem betrachte ich es als ein Privileg, Vater meiner Kinder
zu sein.
Was ich in Deutschland vermisse? Manchmal habe ich Sehnsucht nach den Verwandten in Indien, den
regelmäßigen spirituellen Festen, den Gefühlscocktails der Bollywood Filme, den
Sprachen, Dialekten, die man alltäglich benutzt, den sinnlosen Diskussionen,
die meist zu nichts führen. Es ist besser, dass ich nicht darüber nachdenke,
sonst komme ich ins Grübeln und kriege Heimweh. Auch die Herzlichkeit und die Gastfreundschaft, die man in südlichen
Ländern wie der Türkei oder in Italien erfährt, vermisse ich in Deutschland
oft. Wenn ich hier von Lifestyle rede, dann denkt man in Deutschland oft an
Luxus, an teuren Sport, schicke Kleidung usw. Aber ich rede von Offenheit,
banalen oder ernsthaften Gesprächen, davon, einfach nichts Ernstes zu tun, die
Zeit zu genießen, in sich zu gehen, vor sich hin zu träumen, laut zu lachen und
Quatsch zu reden, auch davon, gemütlich mit Verwandten oder Freunden zu kochen,
mit den Kindern zu spielen, Spaß zu haben. Einfach zu leben, zu genießen und
nebenbei noch zu arbeiten.
Fremdenfeindlichkeit und rassistische Erfahrungen? Natürlich gibt es diese Erfahrung. Jeder Fremde in Deutschland, zumal
mit einer anderen Hautfarbe, wird irgendwann damit konfrontiert. Ich könnte
eine Liste davon erstellen, welche idiotischen Vorstellungen meine Kollegen
Günter, Klaus, Micha und Hans-Dieter von Menschen anderer Kulturen haben. Aber
es sind immer die gleichen und es ist Zeitverschwendung, sie aufzuzählen.
Falsche Erziehung ist der Grund für dieses rassistische Verhalten. Als Beispiel
kann man Inder anführen, die ihre Kinder das Kastensystem lehren, obwohl sie
wissen, wie menschenverachtend es ist. Als technischer Berater im Außendienst
war ich in fast allen Städten in Süddeutschland bei den bekanntesten Firmen
tätig. Man lernt die Menschen hier von unterschiedlichen Seiten kennen. Dabei
erfährt man oft von ihren Wünschen, Einstellungen zum Leben, ihrer Motivation,
Bildung, ihren Familienhintergründen usw. Gebildete Menschen und Menschen, die
im Ausland gelebt haben, haben wenig Ressentiments gegenüber Fremden. Dabei
möchte ich nicht behaupten, dass ungebildete Menschen von Natur aus Vorurteile
haben, aber Vorurteile basieren meist auf Unwissenheit und falscher Erziehung.
Interessant fand ich zwei Bemerkungen, die man sich hinter meinen Rücken
zuzuraunen pflegte. Eine davon war der Spruch von Gertie: „Was hat der
Tempeltänzer doch für einen komplizierten Bericht erstellt!“ Der andere kam von
Armin, einem Monteur aus einer kleinen Gemeinde in Süddeutschland: „Der Angeröstete will von mir, dass ich alles
nochmals überprüfe und richtig mache.“ Ich empfand die beiden Sprüche nicht als
diskriminierend, denn mein Traumberuf war es, irgendwann einmal ein
Tempeltänzer zu werden und in tänzerische Ekstase zu geraten. Ein
„Angerösteter“ ist ein sehr weiser und lebenserfahrener Yogi.Weil ich
dunkelhäutig bin, werde ich von fremden Menschen meist falsch eingeschätzt,
entweder bin ich ein Arzt oder Ingenieur oder ein Rosen- oder Pizzaverkäufer.
Wenn die Menschen einen Fremden zu Beginn in eine falsche Schublade einordnen,
kann er Vorteile oder Nutzen aus diesen Vorurteilen ziehen. Dies kommt
besonders in dem Spruch „Kleider machen Leute“ zum Ausdruck, der seine Wirkung
bis heute nicht verloren hat. Wenn man gut gekleidet und zudem rhetorisch ein
bisschen gewandt ist, kann man bessere Behandlung und Freundlichkeit erleben.
Wird man unterschätzt, ist das möglicherweise auch vorteilhaft: Man hat weniger Stress und kann sich einiges
erlauben, hat sozusagen Narrenfreiheit. Durch Hautfarbe, Aussehen, Kleidung,
Körpersprache, Stimme und Verhalten lässt sich in Deutschland vieles leichter
erreichen, je nachdem, wie man diese Eigenschaften einsetzt und ob man die
kulturellen Codes kennt.
Wo ist meine Heimat? „Wohin gehst du in den Urlaub?“, wollte mein Arbeitskollege wissen. „In
die Heimat, wo meine Wurzeln sind“, sagte ich spontan. Aber nach vier Wochen in
der alten Heimat bekam ich immer Heimweh nach Deutschland, meiner Wahlheimat,
denn dort hatte ich ja auch ‚Wurzeln geschlagen‘. Dort waren meine Familie,
Freunde, Bekannte, Orte und vieles, was mir am Herzen lag. Ich fuhr dann immer
zum Strand in Kerala, nicht nur, um ein Glas kühles Bier zu trinken, sondern
auch um meine „Landsleute“ aus Deutschland zu treffen und mit den vielen
Ausgewanderten Deutsch zu sprechen. Dabei trinke ich selten Bier in Deutschland
und es war ein eher befremdliches Gefühl, dass ich plötzlich das Bier und meine
Wahlheimat vermisste. Seltsam! Ja, zu dem Zeitpunkt waren es bereits
zweiundzwanzig Jahre, dass ich in Deutschland lebte. Einmal, als ich aus Sehnsucht ein Bier trinken gegangen war und die Bar
auf der Mahatma Gandhi Road in Bangalore verließ, hörte ich, wie der Kellner
nach mir „Sir, Sir!“ rief und zu mir auf die Straße mit der 1,0 Liter
Bierflasche mit Schraubverschluss in der Hand lief. „Sir“, er schnaufte: „Sir,
die Flasche ist noch fast voll, Sie haben ja kaum etwas davon getrunken, aber
bezahlt. Bitte nehmen Sie die Flasche mit!“
Ich dankte und lehnte freundlich ab. Die ersten Schlucke waren wunderbar
gewesen, aber bald hatte es mir nicht mehr geschmeckt. Ich hatte „meine Leute“
gefunden und mit ihnen gesprochen, aber ich hatte nichts von meiner Sehnsucht
verraten. „Ich bin schon komisch“, dachte ich. Jahre später sollte ich den Begriff Heimat beschreiben. Sie ist überall
dort, wo du dich wohlfühlst, wo du ohne Furcht alles sagen kannst, wo deine
Freunde sind, wo du sorglos schlafen kannst, wo man dich versteht und wo du du
sein kannst. Ja, das Gleiche empfinde ich auch in meiner Mutterheimat, also
habe ich zwei Heimaten.
Heimweh Man sagt, Heimweh sei schlimmer als Durst. Der Mensch vermisst seine
Heimat, auch wenn er Wurzeln in der neuen Heimat geschlagen hat. Sein Horizont
erweitert sich in beide Richtungen und plötzlich hat er zwei Heimaten. Dann hat
der Mensch immer Heimweh nach der jeweils anderen Heimat. Ich persönlich finde
es nicht schlimm, sondern betrachte es als eine Bereicherung. Glück ist, wenn
man hin- und herpendeln kann.
Was bedeutet Integration? Man braucht zwei Hände, um zu klatschen. Bei der Integration von
Menschen ist es genauso und beide, der Ausländer und die Einheimischen, müssen
sie wollen. Es ist eine Art Assimilation, allerdings ohne kulturelle
Verschmelzung. Es ist wie bei der Currywurst: Ich bringe Curry mit, du vegane
Wurst und der Freund aus Amerika Ketchup. Das schmeckt doch prima. Wir haben
etwas Neues kreiert, das heißt aber nicht, dass wir in Zukunft nur noch Currywurst
essen müssen, das wäre ja furchtbar. Die Finger unserer Hände sind verschieden
lang und so gehört es sich auch. In den Siebzigern war Deutschland ein
Entwicklungsland in Sachen Integration. Heute ist Integration in aller Munde
und die Menschen sind aktiv daran beteiligt. Ich sehe diese Entwicklung sehr
positiv. Es ist noch verbesserungsfähig, aber die Tendenz geht in Richtung
Frieden und Toleranz, und das trotz Pegida und AfD. Das liegt vor allem auch
daran, dass die Menschen dank neuer Medien besser informiert sind als noch vor
einigen Jahren. Meinen Lebensabend möchte ich in meinen zwei Heimaten verbringen, mal in
Indien, mal hier, solange wie möglich.
Suresh Juli 2016 (Die
Lebensgeschichte wurde von Christel Banghard-Jöst redigiert)
² Quelle: http://wiki.yoga-vidya.de/Ayurveda_Marma_Massage
³Es mag sein, dass das Kastensystem, als es entstand,
seine Existenzberechtigung hatte, aber ich
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