Polyxeni (Pseudonym) (*1941)
in Griechenland
Übersicht Erzählwerkstatt
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Geraubtes Leben
Heimat Ich bin ein
Kind des Krieges - mitten im Zweiten Weltkrieg in Westgriechenland 1941
geboren- und ich habe einen Blick in die Hölle geworfen! Unser Dorf liegt nicht
weit weg von der Stadt Florina, nahe der
Grenze zu Mazedonien und Albanien, ca. 160 km von Thessaloniki entfernt. Berge
und Wälder prägen das Landschaftbild
meines Heimatdorfes Ano Ydrussa . Drei Flüsse fließen nahe unserem Dorf
zusammen, die die Dörfer Ano Ydrussa, Kato Ydrussa und Drosopigi von einander trennen. Wegen seines großen Wasserreichtums strotzten
die Gärten vor Fruchtbarkeit und Schönheit. Rosen und Lilien verströmten an
Sommerabenden ihren Duft.
Meine
Großfamilie besaß eine Farm mit ca. 165 ha Land und drei Mühlen, die mit
Wasserkraft betrieben wurden. Sie hatte viele Schweine, Schafe, Ziegen, Hühner,
Kühe und Pferde. In einem riesigen dreistöckigen Haus aus Stein wohnten meine Urgroßeltern,
Großeltern, Onkel und Tanten mit ihren Familien, meine Familie und meine vier
Geschwister. Neben dem Haus standen die Küche und ein Holz-Backofen, in dem Oma
einmal in der Woche wunderbar duftendes Brot gebacken hat. Es gab bei uns noch keine Autos für den privaten
Gebrauch: Esel und Ochsen zogen auf holprigen Wegen die Fuhrwerke. Vornehm war
es, mit der Pferdekutsche in die Stadt
zu fahren. Nicht alle konnten sich das leisten. Oma verkaufte auf dem Markt in
Florina alles, was der Garten hergab, und Käse, den wir reichlich produzieren
konnten. Wir sprachen einen
mazedonischen Dialekt, eine slawische Sprache, und schrieben kyrillisch.
Opa Kurz vor dem
Zweiten Weltkrieg wanderte mein Opa nach
Kanada aus. Er arbeitete hart und konnte so eine kleine Papierfabrik eröffnen. In
den folgenden schweren Jahren des Zweiten Weltkrieges und des Bürgerkrieges schickte er uns regelmäßig Geld und so waren
wir die reichste Familie im Dorf.
Oma Meine über alles
geliebte Oma war eigentlich die Stiefmutter meines Vaters. Sie war das Herz
unserer Familie. Mutter musste auf dem Feld arbeiten, aber Oma war für uns alle
da. Ich nannte sie Majko (Mama). Sie nahm mich abends mit in ihr Bett, ich
kuschelte mich dicht an sie, ich fühlte die Wärme ihres Körpers und sie kraulte
mich sanft. Wenn sie mir ihre fröhlichen
Geschichten erzählte, fühlte ich mich beschützt. Vergessen war das
Kriegsgeschehen um uns herum, das immer wie ein bedrohlich dunkler Schatten
über unserer Familie lag. Ich war in
Sicherheit.
Mein Vater Mein Vater
liebte mich sehr, da ich seine erste Tochter war. Leider war er fast immer weg.
Zuerst als regulärer Soldat im Zweiten Weltkrieg, dann kämpfte er als Partisan für
die sozialistische Idee gegen die Regierungstruppen. Ich habe meinen Vater immer
schmerzlich vermisst und ihn bestimmt idealisiert.
Der Zweite Weltkrieg An den
Zweiten Weltkrieg habe ich nur wenige Erinnerungen, aber eine Episode hat sich
fest in mein Gedächtnis eingeprägt: Von feindlichen deutschen oder italienischen
Soldaten, die auf einem Feld ihre Mahlzeit einnahmen, bekamen wir spielende
Kinder Weißbrot, Schinken und einen dreieckigen Käse geschenkt. Schinken und
diesen dreieckigen Käse gab es bei uns
nicht. Voll Freude brachten wir Oma unsere Beute. Es lag auf der Hand, dass
Oma es uns heftig verboten hat, mit unseren Feinden beim Spiel Kontakt
aufzunehmen und Geschenke von
feindlichen Soldaten anzunehmen.
Der Bürgerkrieg 44-49 Unsere
Region, die nahe an der Grenze zu Jugoslawien liegt, war von 1946 bis 1949
Schauplatz verheerender Kämpfe zwischen der Demokratischen Armee (DSE) und der
regulären griechischen Armee. Die DSE stand unter kommunistischer Führung und
wurde vor allem von dem jugoslawischen Regierungschef, Marschall Tito,
unterstützt. Die rechtsgerichtete autokratische Regierung stand unter dem massiven Einfluss der Engländer
und später der Amerikaner, die sie mit Know-
how und Waffen versorgten. Sehr erfolgreich konnten sich die Partisanen im
unwegsamen Gebirge verstecken, die Dörfer, in denen die Zivilbevölkerung lebte,
waren ungeschützt.
Auf beiden
Seiten wurden viele Kriegsverbrechen begangen. Ich will und kann die Ziele und
Verbrechen der beiden Bürgerkriegsparteien nicht beschreiben und bewerten. Ich
möchte nur die Dinge erzählen, die ich
als Kind selbst erfahren musste.
Vergewaltigung der Mutter Im
Spätherbst 1947, mitten im Bürgerkrieg, pochte es brutal an unsere Türe. Sofia,
meine Mutter, knetete gerade den Brotteig in einer Backmulde, als drei oder
vier Soldaten hereinstürmten und drohend riefen: „Wo ist dein Mann?“ Sie suchten
Vater, da sie wussten, dass er Partisan war. Mutter knetet weiter ihren Teig
und sagte: „Lasst mich in Ruhe! Ich weiß nicht, wo mein Mann sich in den Bergen
versteckt hält!“ Der Reihe nach vergewaltigten die Soldaten nun bestialisch
immer und immer wieder unsere Mutter. Uns Kinder packte ein Soldat, stellte uns
in eine Reihe, so dass wir zusehen mussten, wie diese unserer Mutter quälten
und anschrien. Mutter schrie in höchster Not, dass sie nicht wisse, wo sich
Vater befinden würde und: „Nicht vor
meinen Kindern!“ Die gellenden Schreie meiner Mutter höre ich noch heute. Endlich
ließen die Vergewaltiger von meiner Mutter ab. Meine Mutter fiel halb
ohnmächtig und weinend vor Schmerzen auf die Knie.
Unseren Jüngsten, meinen zweijährigen Bruder, fragten die Soldaten nun, wo Vater sei. Er zeigte
mit seinem kleinen Zeigefinger nach oben, wo Vater sich im dritten Stockwerk
oft versteckt hielt. Die Vergewaltiger fanden Vater nicht, aber sein Gewehr. Mit
diesem schlugen sie auf Mutter ein. Voll Entsetzten und Panik sahen wir, wie
die Soldaten jetzt im Haus, im Stall und in der Scheune nach unserem Vater
suchten, da wir dachten, Vater hätte sich in der Scheune versteckt.
Glücklicherweise war er jedoch durch ein kleines Fenster am hinteren Ende des
Gebäudes entkommen und konnte sich mit
den anderen Partisanen in den Bergen verstecken Da die Suche der Soldaten
ergebnislos verlief, zündeten sie unsere
Scheune und Ställe an, um Vater zur Flucht zu zwingen, falls er sich doch noch
dort aufhalten würde . In kurzer Zeit loderten hohe Flammen in den Himmel, das
Feuer zerstörte unsere Gebäude und fraß unsere Wintervorräte auf. Einzig das
Vieh konnte sich retten, da die Soldaten die Stalltüren geöffnet hatten. Oma
versorgte meine Mutter und nahm uns Kinder zu sich. Mutter war nicht mehr in
der Lage, uns Kinder zu versorgen. Sie war von diesem schrecklichen Tag an eine
gebrochene Frau.
Erneute Suche nach Partisanen Einige
Wochen später machten Soldaten der Regierungsarmee erneut in unseren Dörfern
Jagd auf Partisanen. Sie trieben die Menschen aus ihren Häusern und ca. 500 m
von unserem Dorf entfernt auf die Felder. Flugzeuge schossen wahllos in die
Menge, um die Menschen einzuschüchtern. Die Dorfbewohner sollten in ihrer Panik
die Verstecke der Partisanen preisgeben. Vermutlich hatten die Soldaten wenig
Erfolg mit ihrem Terror und nach kurzer Zeit stand das ganze Dorf in Flammen. Die
Wintervorräte, Wohnungen, Ställe, alles fiel den Flammen zum Opfer. Unser
Wohnhaus blieb glücklicherweise weitgehend verschont, da es aus Stein gebaut
war. Nur das Blechdach musste erneuert werden, da Geschosse es zertrümmert hatten.
Als der Angriff begann, waren mein Bruder und ich gerade auf dem Weg zu unserem
kleinen Esel, den wir vom Feld abholen sollten. Plötzlich flogen Flugzeuge über
unsere Köpfe und wir versteckten uns im Maisfeld. Auf einmal spürte ich einen
stechenden Schmerz in meinem Po. Splitter einer Bombe hatten mich dort
getroffen. Mein Bruder nahm mich an der Hand und führte mich auf die Straße.
Hier lag unser kleiner Esel, von einer Bombe in 1000 Stücke zerfetzt. Weinend
gingen wir in unser brennendes Dorf zurück. Dort entfernte mein Uropa die Splitter mit einer Werkzeugzange. Als die Wunde
heftig zu eitern begann, behandelte mein Uropa diese mit Pfeifentabak. Wir
hatten keine anderen Medikamente. Ein kleines Wunder ist geschehen: Nach
einiger Zeit heilte die Wunde. Ob alte Menschen oder Kinder während des
Angriffes verbrannten, weiß ich nicht. Die Erwachsenen haben mit uns Kindern
über die Kriegsereignisse nicht gesprochen. Jetzt begann ein massiver Terror
der Regierungstruppen gegen Frauen und Kinder, da die Soldaten die Verstecke
der Partisanen in den Bergen oft nicht orten konnten. Keine Sirenen warnten
unsere Region vor Tieffliegern, die auf alles schossen, was sich bewegte. Wenn
wir ein Flugzeug hörten, sprangen wir in unsere Löcher, die wir uns im Hof
unter unseren Vorrats-Gruben gegraben hatten. Auch wenn die Schutzlöcher sich
mit Schlamm und Wasser gefüllt hatten, mussten wir in ihnen verharren, bis die
Flugzeuge außer Hörweite waren. Meine Großtante hat es beim Hühnerfüttern
nicht mehr geschafft, sich vor einem Tiefflieger in eine Grube zu retten. Sie
wurde in unserem Hof von Geschossen tödlich verletzt.
Im Kindertreck nach Jugoslawien In dieser
Phase des grausamen Bürgerkrieges wurde
bekannt, dass die griechische Regierung plante, alle Kinder unserer Region in
die USA und Kanada zu verschicken und eventuell zur Adoption freizugeben. Die
Väter nahmen deshalb Kontakt zu den befreundeten sozialistischen Regierungen in
Rumänien, Jugoslawien, Ungarn und Tschechien auf, die sich nach 1945 bereits
gebildet hatten. Sie ersuchten diese Regierungen, die Kinder Mazedoniens
aufzunehmen. Alle Ostblockstaaten halfen, teils aus humanitären Gründen, teils
um ihren Einfluss auf die griechische Bevölkerung zu vergrößern. Da wir nahe der
Grenze zu Jugoslawien wohnten, sollten wir zu Tito ins Exil.
Eines Nachts
wurden Kinder der Partisanen unseres Dorfes versammelt, um in einem Kindertreck
an die Grenze zu kommen. Mein kleiner Bruder wollte mich und meinen
achtjährigen Bruder begleiten, Mutter zog ihn aber energisch zurück. Es
war ein schwerer Abschied so mitten in einer unwirtlichen Winternacht. Mutter
und alle Verwandten weinten. Niemand wusste, ob wir uns jemals wiedersehen
würden. Als Wegzehrung gab uns Mutter einen Sack mit Brot, Käse, Zwiebeln und
Lauch mit.
Wir konnten
nur nachts marschieren, damit uns die Soldaten nicht entdeckten. Der Winter
1947 war kalt und schneereich. Meist zu Fuß führte unser Weg über
tiefverschneite Berge, Täler und gefährliche Gewässer. In jedem Bergdorf stieß
eine neue Gruppe Kinder zu uns. Die Dorfbewohner gaben uns Lebensmittel und
Wasser, manchmal auch Maultiere und Pferde, auf denen einige Kinder reiten
konnten. Ich selbst durfte einige Zeit zusammen mit meiner Tante und ihren drei
Kindern auf einem Pferd reiten, bis unser Pferd an einer vereisten Stelle ausrutschte
und sich die Vorderbeine brach. Wir mussten das Pferd liegenlassen und zu Fuß
weitergehen. Tagsüber versteckten wir uns in Höhlen, unter Brücken oder in
Büschen. Ich weiß nicht, wie viele Tage vergangen waren, als plötzlich Vater
auftauchte. Er hat mich und meinen Bruder lange umarmt und geküsst. Dann sagte er: „Ihr
werdet gerettet und wieder nach Griechenland zurückkehren.“ Gleich darauf ist
er verschwunden. Das war das letzte Mal, dass ich meinen Vater gesehen habe. Unser
schlechtes, meist von den Erwachsenen selbstgemachtes Schuhwerk aus
Schweineleder hielt die Strapazen nicht aus. Sobald die Schuhe zerschlissen
waren, mussten wir von unserer Kleidung Stoff abreißen, um damit die Füße zu
umwickeln. Bald litten wir Kinder an Erfrierungen, vor allem an den Füßen. Kurz
vor der Grenze wurden wir von Soldaten angegriffen. Schüsse überall, jemand
hatte uns an die Soldaten verraten. Schnell versteckte sich der ganze Tross
lautlos im Schnee. Wir zitterten vor Kälte und Angst. Kurze Zeit nach diesem
Angriff hörten wir von weither Autos hupen. Endlich hatten wir unser Ziel
erreicht, wir waren an der Grenze zu Jugoslawien. Partisanen hatten über Funk
das jugoslawische Militär benachrichtigt und bald standen Militärlaster bereit,
die uns aufnahmen. Kinder und auch einige Erwachsenen überlebten unseren Marsch
nicht. Wie viele starben, weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht, wie viele Kinder
nach Jugoslawien gezogen waren, da ich erst sechs Jahre alt war. Wenn ich mir
heute die große Anzahl der Militärfahrzeuge vorstelle, schätze ich, dass wir
mehrere hundert Flüchtlinge waren.
In Jugoslawien angekommen In einem Ort
namens Borle wurden wir dem Roten Kreuz übergeben. Häuser und ein großer
Schulraum waren für uns vorbereitet und viele freundliche Menschen nahmen uns
in Empfang, allerding fürchtete man das Ungeziefer, vor allem die Läuse, die sich
auf unserem Zug in unsere Haare eingenistet hatten. So wurden wir erst einmal
entlaust und vielen Kindern wurde eine Glatze geschnitten. Auch ich verlor
meine schönen, langen Zöpfe. Anschließend durften wir duschen. Ich stand zum
ersten Mal in meinem Leben unter einer Dusche. In vollen Zügen genoss ich das warme Wasser, das meinen erstarrten Körper zu
neuem Leben erweckte. Als ich nach einem guten Essen in einem weichen weißüberzogenen
Bett lag, dachte ich, ich sei im Paradies. Am nächsten Tag fanden ärztliche
Untersuchungen statt. Sechs Monate kam ich mit vielen anderen Kindern in ein Pflegeheim
in ein Dorf namens Krogle, da ich schwach und krank war und Erfrierungen an den
Füßen hatte. Nicht bei allen Kindern sind die Erfrierungen so gut abgeheilt wie
bei mir. Leider mussten die jugoslawischen Ärzte viele Amputationen vornehmen.
Mein Bruder hatte eine robustere Natur. Er überstand die Strapazen besser und
benötigte keinen Sanatoriums-Aufenthalt.
Mein siebenjähriges Exil in
Jugoslawien Ich konnte
mir als Kind nicht vorstellen, sieben Jahre in einem fremden Land ohne meine
Familie verbringen zu müssen, aber es sollten nicht die schlechtesten Jahre
meines Lebens werden. Einquartiert wurden wir in Heime des Roten Kreuzes, die
sehr gut geführt waren. Auch für eine effiziente Schulausbildung war gesorgt.
Häufig wechselten unsere Quartiere, mal wohnten wir in Kroatien, mal in
Serbien, mal in Slowenien. Gesprochen haben wir mit unseren Erziehern mazedonisch.
Dies war aber nicht das Mazedonisch, das wir zu Hause gesprochen haben. Es war
die Sprache der Mazedonier, die in Jugoslawien wohnten, die wir fast wie eine
Fremdsprache lernen mussten. Liebevolle Pflege erfuhr ich während mehrerer
langer Krankheitsphasen. Eines Tages
war der hohe Besuch von Marschall Tito angesagt. Alle waren sehr aufgeregt, die
bekannte Hymne auf Tito: Druze Tito ljubicica
bjela (Freund Tito, du wirst von allen geliebt) war eingeübt. Versammeln
sollten wir uns alle unter der Fahne. Ich verspätete mich, da ich auf einer
Wiese einen Strauß mit schönen, bunten Blumen sammelte. Als ich zur Fahne kam,
war Marschall Tito bereits eingetroffen. Ich sah nur noch, wie die Augen meiner Erzieherin mich böse anfunkelten. Voll
Panik bin ich zu Marschall Tito gerannt und habe ihm meinen Blumenstrauß
übergeben. Tito hob mich auf, nahm mich in seine Arme und gab mir einen Kuss
auf die Stirn. Ich ließ die Erzieherin nicht aus den Augen und ich sah ihre
schnelle Vergebung. Nun war ich der Star des Tages, ein Bild von Titos Kuss
erschien in der Zeitung. Unsere Erzieher und Lehrer waren sehr streng. Sobald wir
den Unterricht störten, mussten wir hinter die Tafel stehen, die Hände nach
oben strecken und ein Bein hochheben. Wenn ein Schüler diese Pose nicht
durchhalten konnte, bekam er Stockschläge. Als ich in der zweiten Klasse im
Gymnasium war, verprügelte mich ein Lehrer auf den nackten Hintern, weil ich
mich in Biologie über seine Zeichenkünste lustig gemacht habe. Der Lehrer hatte
das Knochenskelett eines menschlichen Oberkörpers an die Tafel gezeichnet und ich fragte ihn
scheinheilig, ob der Mensch Fischgräten hätte. Da das Strafmaß des Lehrers weit überzogen war, informierten meine
Mitschüler meinen Bruder, der im zweiten Stock des Schulgebäudes Unterricht hatte. Mein
Bruder war sofort bereit, die Familienehre zu verteidigen: Aggressiv ging
er auf den Lehrer los und schlug ihn. Für
diesen Übergriff wurde mein Bruder ein paar Tage in den Karzer verbannt. Ein
Schulverweis war nicht möglich, da es in der Umgebung keine anderen Schulen für
Flüchtlingskinder gab. Nachtragend
war der Lehrer nicht, später hat er mich sogar in seine Familie eingeladen.
1954 besuchte ich die zweite Klasse des Gymnasiums. Während des Schuljahres
erhielt ich die Nachricht, dass mein Bruder und ich zusammen mit vielen anderen
Kindern nach Griechenland zurück mussten. Der Abschied fiel allen schwer, viel
Gutes hatten wir erfahren, unsere Erzieher und Lehrer waren zu unseren Ersatzeltern geworden und Jugoslawien
unsere Heimat.
Heimkehr, März 1954 In
Thessaloniki endete unsere Zugfahrt. Schwerbewaffnete Soldaten patrouillierten
auf dem Bahnsteig. Schlimme Erinnerungen stiegen beim Anblick dieser Militärs
in uns hoch. Wir dachten, es wäre noch Krieg und wollten nicht aussteigen.
Schließlich wurden wir in das Heim Agios
Dimitrios (für Jungs) in Thessaloniki gebracht, wo viele Eltern auf uns
warteten. Da Vater gefallen war, empfing mich und meinen Bruder dort nur Mutter.
Nach sieben Jahren in jugoslawischen
Heimen war mir Mutter fremd geworden. Lustlos ging ich auf sie zu. Auch
sie war völlig überfordert. Sie umarmte mich kalt, ohne einen Kuss, ohne Wärme,
ohne Begeisterung, als ob ich eine weitläufige Bekannte von ihr gewesen wäre.
Sprechen konnten wir nicht miteinander,
da ich im Exil meine Muttersprache verlernt hatte. Ich war geschockt und ließ
sie los. Warum war meine Mutter nach sieben Jahren Trennung so gefühllos? Aufgewühlt
ging ich auf die Straße zu den fröhlich feiernden Menschen. Es war Feiertag,
Parelassi, der 25. März. Vor der königlichen Familie paradierten Schulklassen
und Militärs. Stumm nebeneinandersitzend, fuhren wir abends mit dem Zug nach
Florina, wo meine Mutter jetzt wohnte. Hier lauerte schon die nächste böse
Überraschung auf uns: Mutter stellte uns einen fremden Mann als ihren neuen
Lebenspartner vor. Mein Bruder konnte das alles
nicht verkraften, rannte weg und suchte bei Oma Unterschlupf. Ich blieb, um
meine beiden Geschwister nach dieser langen Zeit der Trennung kennenzulernen,
aber nur meine kleine Schwester , die ich
verlassen hatte, als sie sieben Monate alt war, lebte noch bei meiner Mutter.
Mutter musste meinen kleinen Bruder in ein Heim
geben, da sie ohne Verdienst nicht für zwei Kinder sorgen konnte. Bald kam ein
kleines, blondes, blauäugiges Mädchen auf mich zu…..
Spontan umarmte und liebkoste ich sie. Die Kleine schubste mich jedoch immer und immer wieder
von sich weg und rief: „Fije!“, was „Geh weg!“ bedeutet. Ich fühlte mich
traurig und alleine auf der Welt. Mutter und Schwester waren Fremde geworden.
Bei ihnen konnte ich nicht bleiben. Liebe und Geborgenheit bekam ich von meiner
Oma und von den Menschen in meinem Heimatdorf, die ich in den Ferien besuchte.
Schule und Ausbildung in Griechenland Viele Kinder, die der Krieg von ihren Eltern getrennt hatte, teilten mein weiteres Schicksal. Bis zum 21. Lebensjahr verbrachte ich mein Leben in Griechenland wieder in ständig wechselnden Heimen. Wir durften in die Schule gehen und bekamen eine Berufsausbildung. Da ich die griechische Sprache nicht verstand, wurde ich drei Schuljahre zurückgestuft, was ich als Schande empfand. Ich sehnte mich nach Jugoslawien, wo ich bereits in der zweiten Klasse im Gymnasium war. Das Gymnasium stand mir in Griechenland erst nach der 6.Klasse offen, da ich immer sIn
Thessaloniki endete unsere Zugfahrt. Schwerbewaffnete Soldaten patrouillierten
auf dem Bahnsteig. Schlimme Erinnerungen stiegen beim Anblick dieser Militärs
in uns hoch. Wir dachten, es wäre noch Krieg und wollten nicht aussteigen.
Schließlich wurden wir in das Heim Agios
Dimitrios (für Jungs) in Thessaloniki gebracht, wo viele Eltern auf uns
warteten. Da Vater gefallen war, empfing mich und meinen Bruder dort nur Mutter.
Nach sieben Jahren in jugoslawischen
Heimen war mir Mutter fremd geworden. Lustlos ging ich auf sie zu. Auch
sie war völlig überfordert. Sie umarmte mich kalt, ohne einen Kuss, ohne Wärme,
ohne Begeisterung, als ob ich eine weitläufige Bekannte von ihr gewesen wäre.
Sprechen konnten wir nicht miteinander,
da ich im Exil meine Muttersprache verlernt hatte. Ich war geschockt und ließ
sie los. Warum war meine Mutter nach sieben Jahren Trennung so gefühllos? Aufgewühlt
ging ich auf die Straße zu den fröhlich feiernden Menschen. Es war Feiertag,
Parelassi, der 25. März. Vor der königlichen Familie paradierten Schulklassen
und Militärs. Stumm nebeneinandersitzend, fuhren wir abends mit dem Zug nach
Florina, wo meine Mutter jetzt wohnte. Hier lauerte schon die nächste böse
Überraschung auf uns: Mutter stellte uns einen fremden Mann als ihren neuen
Lebenspartner vor. Mein Bruder konnte das alles nicht verkraften, rannte weg und
suchte bei Oma Unterschlupf. Ich blieb, um meine beiden Geschwister nach dieser
langen Zeit der Trennung kennenzulernen, aber nur meine kleine Schwester Flora,
die ich verlassen hatte, als sie sieben Monate alt war, lebte noch bei meiner
Mutter. Mutter musste Dimitrios in ein Heim geben, da sie ohne Verdienst nicht
für zwei Kinder sorgen konnte. Bald kam ein kleines, blondes, blauäugiges
Mädchen auf mich zu. Es war Flora. Spontan umarmte und liebkoste ich sie. Flora schubste mich jedoch immer und immer
wieder von sich weg und rief: „Fije!“, was „Geh weg!“ bedeutet. Ich fühlte mich
traurig und alleine auf der Welt. Mutter und Schwester waren Fremde geworden.
Bei ihnen konnte ich nicht bleiben. Liebe und Geborgenheit bekam ich von meiner
Oma und von den Menschen in meinem Heimatdorf, die ich in den Ferien besuchte.ehr gute Noten hatte und meist Klassenbeste war, aber ich fühlte mich als 16-Jährige einfach zu alt dafür. So zog
ich eine Ausbildung als Schneiderin vor, die ich 1962 in der Königlichen Berufsschule in Athen
beendete.
Deutschland, meine neue Heimat Mein
sehnlichster Wunsch war es, Technische Zeichnerin zu werden, was in
Griechenland mit meiner Ausbildung nicht möglich war. Die Vergangenheit hinter
mir lassen, ein neues Leben beginnen und meinen Traumjob erlernen, das konnte ich in Deutschland, wohin ich 1962
zusammen mit tausenden anderen Griechen zog. Nach sechs Monaten musste ich
leider erschöpft meine Ausbildungsschule in Cuxhaven wieder verlassen, da ich
kräftemäßig nicht mehr in der Lage war, diese Schule zu besuchen, gleichzeitig Deutsch in einer
anderen Schule zu erlernen, meinen Lebensunterhalt und mein Schulgeld zu
verdienen und Mutter in Griechenland finanziell zu unterstützen.
54 Jahre bin
ich nun in Deutschland, war selbstständige Schneiderin und habe nebenher in
vielen Jobs gearbeitet, habe schwere Krankheiten überstanden und mich aus einer
sehr unglücklichen Ehe gelöst. Meine Stütze im Alter und meine ganze Freude
sind heute meine Kinder Sabine und Mario, mein Schwiegersohn Toni und meine Enkel
Domenico, Luana, Marlon und Josie.
Polyxeni, August 2016 (Der Text wurde von Christel
Banghard-Jöst redigiert)
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