Die ersten Gastarbeiter in Deutschland:
Ab jetzt heißt du nicht mehr Sultana. Ab jetzt heißt
du Susi.
Heimat
Ich bin 1960 in dem kleinen Dorf Ormenion im Nordosten Griechenlands
geboren. Es sind von dort nur 20 km bis zur bulgarischen Grenze. Meine Eltern
hatten einen kleinen Bauernhof, ein Haus aus Lehm mit einem Kamin. Unter dem
Wohnhaus war der Stall, draußen das Backhaus, die Scheune, der Kirschbaum, die
Tiere, der Misthaufen.
Die Sonne, die Gerüche trage ich heute noch tief in mir.
Das Leben auf dem Land im Nordosten Griechenlands war nicht einfach.
Wasser mussten wir vom Brunnen holen. Es gab keinen elektrischen Strom. Die
Familie lebte von dem, was auf den Feldern wuchs und von den Tieren. Auch die Wolle
wurde selbst gesponnen.
Meine Eltern haben mich schon als Säugling mit aufs Feld genommen. In
einer Hängematte, aufgehängt zwischen zwei Bäumen, schaukelte ich den ganzen
Tag. Das Rascheln der Blätter und der Duft der sonnenwarmen Kräuter wie Oregano,
Thymian, Salbei haben sich mir tief eingeprägt.
Die warme Sonne, die endlose Weite der Felder, der langsame Gang der
Kühe, die den Karren ziehen, voll mit Heu oder Getreide. Oben drauf liegt das
Baby. Ob es Hunger hat? Keiner merkt es. Die Arbeit hat Vorrang. Arbeit zum
Leben und Überleben.
Ein hartes Leben, das ohne den Rückhalt der ganzen Familie noch
beschwerlicher wird. Man ist voneinander abhängig und muss sich vertrauen
können.
Wenn ein Kind die ersten Schritte machte, war es Brauch, einen Kuchen
zu backen, in der Nachbarschaft von Tür zu Tür zu gehen und ihn anzubieten. Die
Nachbarn gaben dafür eine Münze, um das Kind auf seinem Weg ins Leben zu
segnen, damit es stark und gesund würde.
Als ich etwas größer war, lief ich mit meinem Bruder durch die Wiesen
und Felder. Einmal hat mein Bruder mir eine Puppe aus einer Mohnblume
gefertigt: - Schau her, sagte er. Die
zarten Blüteblätter legte er nach unten und oben schaute das Köpfchen heraus.
Oder er nahm mich mit auf den Kirschbaum und hängte mir zwei Kirschen
über die Ohren: - So jetzt hast du zwei
Ohrringe.
Wenn wir vom Brunnen Wasser holten, liefen wir um die Wette, wer als Erster
ankommt. Da gab es meist Tränen, weil ich immer Zweite war, auch wenn ich mal
schneller gewesen war.
Wir hatten so viele einfallsreiche Kinderspiele damals…
Die Eltern
Meine Eltern waren beide Halbwaisen. Mein Vater war der Erstgeborene.
Seine Mutter Sultana starb direkt nach seiner Geburt.
Man erzählte im Dorf, dass Oma sehr schöne lange Haare gehabt habe, und
wenn sie schlief, habe sie diese übers Fenster gehängt.
Eines Nachts, während Oma schlief, hat man ihr die Haare abgeschnitten.
Sie trauerte tief und starb.
Aus Not heiratete mein Opa wieder. So wurde mein Vater von seiner
Stiefmutter Stella großgezogen, die noch vier Halbgeschwister zur Welt brachte.
Mein Vater hatte immer das Gefühl, nicht dazuzugehören und musste darum kämpfen
und sich anstrengen, um als Gleichberechtigter anerkannt zu werden.
Meine Mutter war 12 Jahre alt, als ihr Vater von bulgarischen Partisanen
bei der Feldarbeit überrascht und umgebracht wurde.
Meine Oma, Babu Stanki, die dabei war, musste zuschauen und wurde
selbst schwer misshandelt.
Sie wollte danach nie wieder heiraten. Sie besaß genug Land und Vieh.
Meine Mutter musste ihr schon mit 12 Jahren bei der Feldarbeit helfen.
Irgendwann war Oma dann doch überfordert und heiratete noch einmal.
Der Stiefvater meiner Mutter brachte vier Kinder mit in die Ehe. Aber
er war ein gerechter Vater für alle.
Wir mussten damals nicht weg nach Deutschland, aber wir hatten niemand.
Meine Mutter erzählte mir dazu eine Geschichte, die sie selbst erlebt
hatte:
Eines Nachmittags hatte sie auf dem Feld die Säcke mit der Ernte auf
den Karren geladen und wollte wegfahren. Doch die Kühe wollten nicht ziehen. Sie
stampften mit den Hufen und schlugen mit den Hörnern auf den Boden. Weder
Ziehen noch Schlagen nützte etwas. Die Kühe blieben stur. Bald wurde es
dämmrig, und es war weit bis ins Dorf. In ihrer Verzweiflung flehte sie zu
Gott:
- Lieber Gott, was wollen mir die Kühe
sagen?
Sie schaute sich um. Plötzlich entdeckte sie in einem Gebüsch mehrere
Säcke mit Weizen.
Jemand hatte sie, anstatt sie nach dem Dreschen zur Abholung bereit zu
stellen, für sich auf die Seite geschafft.
Mein Vater sagte nur:
- Lass die Hungrigen essen, wenn sie
nicht satt werden.
Ankunft in Stuttgart 1964
Mein Vater Dimitrios ist 1962 mit meiner 15 Jahre älteren Schwester,
Stella, nach Deutschland gekommen.
Meine Mutter, Kaliopi, mein Bruder, Christos, damals 10, und ich,
Sultana, sind zwei Jahre später, 1964, nachgekommen. Da war ich vier Jahre alt.
Wir verließen Haus und Hof, die Tiere, die Felder, die Sonne, das
Licht.
Mit einem Koffer voller Hoffnung zogen wir in das neue Land.
Ich erinnere mich noch daran, wie ich für den Pass fotografiert werden
sollte. Ich wollte es einfach nicht, ich habe mich auf den Boden geworfen und
wild geschrien. Mühsam versuchte man mich zu zähmen.
Warum war das so? Ahnte ich
vielleicht, dass ich diesen Bauernhof, meine heile Welt, für immer verlassen
sollte?
Nach einer endlosen Bahnfahrt ein riesiger kalter Bahnhof- Stuttgart.
Mein Vater holte uns ab. Er nahm mich in die Arme und drückte mich. Ich
wollte seine Umarmung nicht. Er war mir fremd. Sein kratziges Gesicht, sein
Geruch. Ich wollte ihn nicht.
Lange konnte ich ihn nicht Vater nennen, redete ihn nur an mit "He du".
Susi
Meine inzwischen verheiratete Schwester
besuchte uns.
Sie hieß mich willkommen in Deutschland und
gab mir sofort einen neuen Namen.
- Ab jetzt heißt
du nicht mehr Sultana, du heiß jetzt Susi, Susanne oder Susanna, sagte sie zu mir – also, wie sollen wir dich jetzt nennen?
- SUSI, sagte ich mit meinen
4 Jahren, und so werde ich bis heute gerufen.
Vor 5 Jahren fragte mich meine Freundin Christine:
- Woher kommt eigentlich der Name Susi?
Ich erzählte ihr die Geschichte und sie beschloss, mich in Zukunft
Sultana zu nennen. Seitdem lasse ich langsam meinen Namen Sultana wieder ins
Leben zurückkehren.
Im Turnverein, in dem ich mit älteren Schwaben zusammen bin, stellte
ich jedoch fest, dass es mir nicht ganz leicht fällt, selbstbewusst meinen
Namen Sultana zu nennen.
Meine Schwester hatte bereits geheiratet, bevor wir, meine Mutter, mein
Bruder und ich, nach Deutschland kamen. Auch wenn ich ganz klein war, erinnere
ich mich an den Karren im Dorf mit der Aussteuer meiner Schwester, die zu ihren
Schwiegereltern gebracht wurde, weil sie jetzt dort leben würde. Selbst
gewebte, gehäkelte, gestickte Decken, viele schöne Sachen, deren kunstvolle
Verarbeitung von Verwandten und Freunden bestaunt wurde. Das war damals so
üblich. Wenn eine Frau das Elternhaus verließ, wurde ihre ganze Habe zu den
Eltern des Ehemanns gebracht. Wir haben den Karren mit schweren Herzen
verabschiedet.
Meine Mutter war von der Eile meiner Schwester nicht begeistert. Ich
glaube, sie ahnte, was das Leben dann leider bestätigte. Meine Schwester konnte
die Zeit allein mit meinem Vater in der Fremde nicht ertragen. Er hat sie allzu
sehr behütet, und so floh sie in die Ehe.
Kirchheim am Neckar
Wir wohnten die ersten Monate in einem Zimmer unter dem Dach in
Kirchheim am Neckar. Zu viert. Wenn da der Wind blies, blies er durch uns
durch. In der Mitte des Zimmers hatten wir einen Holzofen. Aber wenn das Feuer
in der Nacht erlosch, brach die Kälte herein. Mutter drückte mich dann fest an
sich und meinte, wenn du deinen Atem in
die Decke bläst, wird es ganz schnell warm.
Wir mussten sehr früh, schon um 4 Uhr, aufstehen.
Mein Vater hatte seinen ersten Arbeitsplatz in der Papierfabrik in
Gemmrigheim. Meine Mutter arbeitete als Büglerin in der Hemdenfabrik in
Bönnigheim.
Vor der Arbeit brachte sie mich zu einer deutschen Pflegefamilie. Sie
wickelte mich in eine Decke wie eine Mumie, ich noch im Halbschlaf, und übergab mich der draußen wartenden Frau.
Diese nahm mich entgegen und stellte mich im Kinderzimmer ihrer Tochter auf die
Füße.
In dieser Pflegfamilie gab es eine strenge Oma, drei nette Kinder und
eine ganz liebe alleinerziehende Mutter, die leider nur selten da war, weil sie
arbeiten musste. Aber wenn sie einmal da war, gab es Pfannkuchen, die ich
besonders liebte. Sonst gab es fast nur Maggisuppen und einen Apfel. Man durfte
erst vom Tisch aufstehen, wenn man den Apfel mitsamt dem Butzen gegessen hatte.
Den Maggigeschmack ertrage ich bis heute nicht.
Oft weigerte ich mich, die Suppe zu essen, und so musste ich ewig am
Tisch sitzen bleiben. Wenn dann die anderen alle verschwunden waren, kippte ich
die Suppe weg.
Ich blieb nicht lange da. Meine Mutter arbeitete für 400 DM im Monat.
Die Pflegemutter kostete allein 200 DM.
Heute würde ich gerne etwas über diese Familie erfahren.
Ich verstand die Sprache nicht und wuchs dann wie viele
Gastarbeiterkinder als Schlüsselkind auf der Straße auf. Die griechischen
Kinder haben sich selbstständig organisiert, in der Sprache, die ihnen vertraut
war, ohne Erwachsenenhilfe. Die Großen passten auf die Kleinen auf. Das war
etwas ganz Besonderes.
Mein Bruder musste mit 15 in die Fabrik. Die Empfehlung des Lehrers,
ihn weiter zur Schule gehen zu lassen, blieb für ihn ein Traum. Oft musste er
früh morgens weinend aus dem Bett gerissen werden, um zur Fabrik zu gehen. In
seiner Arbeit hat er sehr schnell ein gutes handwerkliches und auch
gestalterisches Geschick bewiesen, so dass sein Meister ihm empfahl, eine
Ausbildung zum Schlosser zu machen. Leider fehlte ihm der Mut. Seine
Deutschkenntnisse reichten noch nicht aus.
Einmal hörte ich ein Gespräch meiner Eltern. Vater sagte:
- Wir haben unserem Christos und unserer
Stella unrecht getan. Wir hätte sie in Griechenland studieren lassen sollen.
Schule
Ich besuchte bis zur vierten Klasse die griechische, später die
deutsche Schule und zusätzlich die griechische. Aber innerlich wehrte ich mich
vehement dagegen. Meine Eltern schwiegen.
Was mich im Unterricht begeisterte, und wobei ich als einziges
aufmerksam war, war die griechische Mythologie, die Abenteuer des Odysseus und
des Herakles. Ich fieberte und kämpfte immer mit ihnen.
Oder auch Religion. Mein wundervoller gütiger Jesus, ob er mich wohl
auch rettet?
In allen anderen Fächern machte ich zu. Das einzige Problem war, je
älter ich wurde, umso mehr schämte ich mich dafür. Bei den Klassenarbeiten ein
leeres Blatt abzugeben? Unmöglich! So lernte ich immer nur kurz vor einer
Klassenarbeit. Da las ich die Bücher von vorne bis hinten, schrieb mir das Wichtigste
heraus, erstellte mit einem Höchstmaß an Stress einen Spickzettel. Und jedes
Mal, bei jeder Arbeit wurde das gefragt, was ich mir aufgeschrieben hatte.
Kurz vor der Zeugnisausgabe betete ich zum lieben Gott, er soll doch
gnädig mit mir sein. Ich sprach mit ihm und handelte mit ihm:
-
Lieber Gott, ich weiß, ich bin keine gute Schülerin. Aber lass mich doch
bitte die Klasse bestehen. Vielleicht nicht gerade mit einer Eins, aber mit
einer Drei würde ich mich riesig freuen. Auch mit einer Vier wäre ich noch
zufrieden. Bitte lass mich die Klasse bestehen!
Ich bekam immer meine Wunschnote. Gott sei Dank!
Bereits mit 6 1/2 Jahren wurde ich eingeschult. Daheim war niemand da.
Die Eltern waren in der Fabrik. Wir Kinder wussten das einfach.
Die erste griechische Schule, die ich besuchte, war in Heilbronn, also
fuhren wir Kinder von Kirchheim Neckar nach Heilbronn mit dem Zug.
Später erfuhren wir, dass es in Ludwigsburg auch eine griechische
Schule gibt. Das war näher für uns.
So sind wir von Kircheim Neckar mit dem Zug nach Ludwigsburg gefahren.
Einmal hatte ich meine Fahrkarte vergessen. Als der Kontrolleur kam, nahmen
mich die großen Kinder in die Mitte und sagten: Sie ist noch zu klein. Sie
braucht noch keine Fahrkarte. Der Kontrolleur ließ das durchgehen.
Als ich in der erste Klasse der griechischen Schule war, kam mein Vater
eines Tages in die Schule und wollte den Lehrer sprechen. Er bat ihn vor die
Tür. Als der Lehrer zurück ins Klassenzimmer kam, sagte er zu der versammelten
Klasse:
- Die Susi sagt zu ihrem Vater nicht
Vater. Ab jetzt sagst du Vater zu ihm! Hast du das verstanden!?
Vater, das Wort war mir fremd. Und er blieb mir fremd. Ich habe ihn
erst geliebt, als er starb. Er starb in meinen Armen.
Dafür bin ich dankbar. Es war ein ganz besonderer Moment. Zu gerne
würde ich ihm von meinem Schmerz damals erzählen.
1969 wurde es Pflicht zur deutschen Schule zu gehen. Ich erinnere mich
noch genau, wie es eines Tages hieß: Ab
morgen geht ihr in die deutsche Schule.
Am nächsten Tag standen vor der deutschen Hauptschule in
Gemmrigheim ungefähr 40 Kinder. Der
Hausmeister kam auf uns zu und fragte, was wir hier zu suchen hätten.
- Wir müssen hier zur Schule, sagten wir.
Er meinte:
-
das kann nicht sein. Wir
sollen wieder gehen. Ratlos gingen wir.
Zuhause sagten die Eltern:
-
Das kann nicht sein. Ihr müsst morgen wieder hin.
So standen wir am nächsten Tag erneut vor dem Hausmeister. Diesmal
brachte er uns zum Schulleiter, Herrn Wildermuth. Er war ein gütiger Mann. Aber
er wusste auch nicht so recht, was er mit uns anfangen sollte. Immerhin wurden
wir nicht wieder weggeschickt.
Wir alle, kleine und große Schüler, wurden in die erste Klasse
gesteckt. Wir bekamen Bücher und wurden
dann dem Alter entsprechend in die Klassen verteilt. Man setzte uns in die
hinteren Bänke, wo wir oft den Unterricht störten.
Ich war eines der ersten Immigrantenkinder in dieser Schule, und ich
war froh, dass ich nicht so ausländisch aussah. Einmal fragte mich der
Schulleiter, warum ich immer mit den Ausländerkindern zusammen sei.
- Ich bin Griechin, antwortete ich
selbstbewusst.
So gingen wir Kinder von 7-12h in die deutsche Schule und von 13-18Uhr
in die griechische Schule.
Dass wir damit völlig überfordert waren, hat niemand bemerkt.
Erst Jahre später - wir hatten die Schule bereits beendet - wurde der
Unterricht in der Heimatsprache gekürzt.
Vier Zimmer
Nach ungefähr zwei Jahren konnten wir endlich von diesem einen Zimmer
in eine Vier-Zimmer-Wohnung in Gemmrigheim umziehen und normal wohnen.
Auf der anderen Straßenseite war ein Haus mit einem Hof. Dort gab es
ein Mädchen mit tollen Puppen und Spielsachen. Wir schauten uns oft an. Lange!
Ich glaube, unsere Herzen schlugen gleich. Aber immer, bevor wir uns selber
näherkommen konnten, kam ihre Mutter und zog sie weg. So blieb uns nur der
Blickkontakt und der nie erfüllte Wunsch, miteinander zu spielen. Ich glaube,
wir wären Freundinnen geworden.
Eine andere Familie in der Nachbarschaft gehörte zu den Jehovas Zeugen.
Sie waren sehr freundlich. Mit ihren Kindern durfte ich spielen. Davon
waren meine Eltern wieder nicht begeistert, weil sie Jehovas Zeugen waren.
Wir waren Fremde, und sie waren für uns Fremde. Wir waren Gastarbeiter,
und immer noch Außenseiter. Dabei wünschte ich mir nichts sehnlicher, als gleich
zu sein, so wie die anderen und mich ihnen gleichwertig zu fühlen.
Begegnung der Kulturen
Das änderte sich mit der Pflicht, die deutsche Schule zu besuchen.
Heute weiß ich, die deutsche Schule war für uns Gastarbeiterkinder der
ersten Generation ein wichtiger Baustein.
Das war der Anfang der Begegnung der Kulturen und der daraus
erwachsenden Freundschaften. Auch wenn wir in den hinteren Bänken den
Unterricht gestört haben, und am Ende der Schulzeit der Lehrer bedauernd zu uns
sagte: " Aus euch wird leider nie etwas", konnte ich ihm doch beim 40-jährigen
Klassentreffen erzählen, dass ich Friseurmeisterin geworden bin und zusätzlich
eine Umschulung zur Industriekauffrau absolviert habe.
Aber nicht nur wir mussten lernen, uns im fremden Land zurecht zu
finden, auch die Deutschen mussten sich an uns Ausländer gewöhnen.
Als ich mit 22 meine erste deutsche Freundin Christa mit ihrem Ehemann
Richard, Sohn Thomas und Tochter Carina zum Essen eingeladen habe, schauten sie
misstrauisch den Vorspeiseteller an:
-
Schafskäse? Oliven? Was ist das?
Was ein Schwabe nicht kennt, das isst er nicht, ist ein sehr wahres
Sprichwort.
Der kleine Thomas war jedoch neugierig, und ganz offen machte er sich
an die Leckereien heran. Aber der Blick des Vaters war ablehnend.
- Papa, das schmeckt gut! meinte Thomas.
Der Vater antwortete darauf:
-
Jetzt iss nicht so viel, sonst kriegst du Bauchweh.
Heute lachen wir darüber. Und jeder weiß, was Oliven und Schafskäse
sind. Wir verstehen, ergänzen, vermischen uns. Wir lernen alle voneinander, und
das ist gut so. Heute fühle ich mich hier nicht mehr fremd. Ich bin daheim.
Dafür bin ich in meiner Heimat Griechenland eine Fremde geworden.
In der alten Heimat
Erst nach fast 10 Jahren in Deutschland sind wir im Urlaub nach Hause
in unser Heimatdorf gefahren.
Von da an fuhren wir jeden Sommer mit einem vollgepackten Auto nach
Griechenland. Die Fahrt war beschwerlich. 2000 Kilometer. Drei Tage dauerte die
Reise. Während der Fahrt waren wir immer laut. Aber wenn wir Thessaloniki
–Kavala - endlich Alexandrupolis erreichten, wurden wir still und stiller. Je
näher wir kamen, umso angespannter wurden wir.
Vertraute Wehmut, vertraute Träume, das vertraute Licht, die Gerüche,
die unvergessenen tief eingebrannten Bilder - alles war wieder da.
Wenn ich auf den sandigen Straßen des Dorfes die Runde machte, um meine
Tanten zu besuchen, wurde ich von den Kindern und den erwachsenen Dorfbewohnern
bestaunt. Sie bewunderten meine Kleider und meine Schuhe. Die Dorfkinder hatten
solche Sachen damals, 1970, noch nicht. Heute gibt es diesen großen Unterschied
nicht mehr.
Mein Vater hatte ein schönes großes Grundstück mit einem Haus gekauft.
Daneben wollte er ein neues Hauses bauen. Im Jahresurlaub ging es von da an
immer in die Heimat und jedes Jahr wurde eifrig am Haus gearbeitet.
Mit 22 Jahren machte ich einen kleinen Ausflug mit meiner Tochter zu
dem verlassenen alten Bauernhof, in dem ich geboren bin. Seit wir die Heimat
verlassen hatten, waren wir nie mehr dorthin zurückgekehrt.
Dort fand ich den ersten Brief meines Vaters aus Deutschland an meine
Mutter. Ich war schockiert. Er hatte geschrieben, was er niemals gesagt hätte:
"Wir sind nach Deutschland gekommen,
um reich zu werden. Wir sind nach Deutschland gekommen, um etwas Besseres zu
werden. Aber wir sind in Deutschland arm
geworden. Zuhause hatten wir für unsere Arbeit die Tiere. Hier sind wir die
Tiere."
Diese emotionale Seite kannten wir von ihm nicht. Diese Dinge hat er
nie ausgesprochen. Es war Zufall, dass ich diesen Brief in dem verfallenen
Bauernhof gefunden habe.
Tradition und Glauben
Die Fabrikarbeit im fremden Land war nur zu ertragen durch die Pflege
der alten Traditionen, der Religion und Sprache. Es war ein Stück Heimat, das
auch in der Fremde lebendig blieb.
In keinem griechischen Koffer fehlte die "Kandila", die das heilige Licht symbolisiert. Die Ikone
von Jesus und der Mutter Gottes "Panagia
Maria" hängt in jedem griechischen Haushalt an der Wand. Der orthodoxe
Glauben ist ein festes Fundament für die Griechen hier in der Diaspora.
Jeden Sonnabend, wenn meine Mutter die Kandila anzündete und sich vor der heiligen Ikone bekreuzigte, war
sie für einen Moment nicht in dieser Welt. Für einen Moment erschien auf ihrem
Gesicht der Ausdruck vollkommener Seligkeit. Die Erinnerung an diesen
Augenblick ist ein kostbarer Schatz und ich bin dankbar, dass ich das erleben
durfte.
Auch die Nationalfeiertage am 25.März und am 28. Oktober mit ihren
traditionellen Kreistänzen sind ein spirituelles Erlebnis, das einen trägt bis
ans Ende der Welt.
Uralte Traditionen und Bräuche, die zurückgehen bis zum Ursprung des
Landes, sind für einen Griechen lebenswichtig.
Sie leben zu dürfen auch in Deutschland, das haben wir den weltoffenen
Menschen in diesem Land zu verdanken. Zu uns sagten die Eltern immer:
Deutschland hat aus uns Menschen gemacht. Wir sind dem deutschen Volk zum Dank
verpflichtet.
Für meine Mutter bedeutete Deutschland eine Aufwertung als Frau und als
Mensch, und auch Freiheit. Ihre Arbeit wurde honoriert. Sie war froh, dass sie
kein Kopftuch mehr tragen musste und zum Friseur gehen und ihre Kleider selber
bezahlen konnte. Das waren wichtige Dinge für sie.
Zurück im fremden Land
Auf der Rückreise nach
Deutschland waren wir meist traurig. Wir fuhren heim in die Fremde. Vertrautes
ließen wir zurück. Der Ruf des Geldes und die Hoffnung auf ein besseres Leben
hatten einen hohen Preis.
Wie an einem unbeweglichen Fels, an den man sich klammert, hielten die
ersten griechischen Immigranten an alten Sitten und Traditionen fest, während
in Griechenland die kulturelle Entwicklung weiterging und die strengen Sitten
sich allmählich lockerten.
Wir griechischen Mädchen der ersten Immigrantengeneration in
Deutschland wurden sehr streng erzogen. Wir durften nicht ausgehen wie die
deutschen Mädchen. Es hieß, die seien anders. Wir gehören nicht dazu.
Für die Generation nach uns gab es dieses krampfhafte Festhalten der
alten Kultur nicht mehr. Sie hatten es einfacher.
Drei griechische Mädchen
Wir waren ein Dreiergespann, Dimitra, Kula und ich. "To Trio Karo", nannte uns
meine Schwester. Wir waren immer zusammen.
Wir gingen miteinander zur Schule, machten die Ausbildung zur
Friseurin,
heirateten und bekamen Kinder.
Dimitra verlobte sich als Erste mit 16 Jahren und blieb von da an, wie
eine gefangene Prinzessin, daheim. Ihr Verlobter Takis war für drei Jahre zum
Militärdienst einberufen worden. Dimitra durfte von da an nicht mehr aus dem
Haus, um 'bösen Zungen keine Gelegenheit
zu bieten'.
So verlangte es die Tradition. Ich weinte eine Woche lang. Ich hatte eine
Freundin verloren und damit einen Teil meiner Kindheit.
Bald verliebte ich mich auch. Aber bevor ich meinen Schwarm richtig
kennen lernte, verlobten wir uns und es musste geheiratet werden. Ich weigerte
mich zuerst.
- Ich kenne ihn doch noch gar nicht! Ich
wollte mehr Zeit, um ihn kennenzulernen, bevor ich mich entscheide.
Nach der Verlobung merkte ich schnell, dass es ihm nicht um mich,
sondern nur um das Geld ging. Ich versuchte die Verlobung zu annullieren. Nach
den strengen Regeln der traditionellen griechischen Kultur kam das für meine
Eltern überhaupt nicht infrage. Da ist verlobt schon so gut wie verheiratet.
Meine Mutter tobte. Mein Vater schrie:
"Dich rumtreiben willst du, aber
heiraten nicht!"
Meine Mutter fügte hinzu:
"Du kannst froh sein, dass du
überhaupt einen kriegst!"
Ich kapitulierte und ließ dem Schicksal seinen Lauf.
Kula verlobte sich auch und heiratete sehr schnell. Unsere Kindertage
waren endgültig vorbei. Wir waren die letzten Griechinnen, die noch so erzogen
und verheiratet worden waren.
Für griechische Männer waren wir Töchter der ersten
Gastarbeitergeneration interessante Bräute, ein gutes Geschäft. 'Deutsche Ware', sozusagen, ein
Kuhhandel zwischen den Eltern und den Männern. Die jungen Frauen selbst hatten
dabei meist nichts zu sagen.
Die nächste Generation, die hier aufgewachsen ist, hat sich das nicht
mehr gefallen lassen.
Stigmatisiert
Als meine Tochter 2 Jahre alt war, wurde meine Ehe geschieden.
–Du bist jetzt nichts mehr wert, hieß es. Als Griechin geschieden zu
sein und noch dazu mit einem Kind im Arm, war ich ein Mensch zweiter Klasse.
Ich war 22 Jahre alt. Meine Freundinnen haben sich weggedreht. Ich war
stigmatisiert.
Aber ich bemühte mich, meine Ehre und meinen Stolz wieder zu gewinnen.
Ich lebte wieder bei meinen Eltern, weil ich mich dort geschützter
fühlte vor bösen Zungen und weil ich
ohne meine Eltern finanziell nicht überleben konnte. Meine Tochter war noch
klein und mein Einkommen als Jungfriseurin zu gering, um mit einem Kind davon
zu leben.
Der Vater meiner Tochter kümmerte sich um nichts. Er übernahm keinerlei
Verantwortung weder finanziell noch moralisch.
Ich widmete mich jetzt voll meiner Arbeit. Ich war mittlerweile eine
erfolgreiche Friseurin im Breuningerland.
Ich machte den Meisterbrief.
Leider habe ich selbst als Meisterin nie den Mut gehabt, ein eigenes
Geschäft aufzumachen. Durch eine
berufsbedingte Allergie war ich nach 20 Jahren Arbeit als Friseurin gezwungen,
eine Umschulung zur Industriekauffrau zu machen.
18 Jahre habe ich danach noch im öffentlichen Dienst gearbeitet.
Nach 38 Jahren Berufstätigkeit wurde ich krank und wurde vorzeitig
berentet. Ich bin damit nur schwer klargekommen.
Da ich vor lauter Arbeit kaum Luft zum Atmen hatte, machte ich meine
deutschen Kundinnen zu meinen Freundinnen.
Meine erste deutsche Freundin war Ute. Von ihr fühlte ich mich
geschätzt. Aber ich vermisste das Griechische. Wenn ich mich mit Ute traf, war
alles geplant. Man konnte bei ihr nicht mal so spontan vor der Tür stehen. Es
war eine absolut schwäbische Freundschaft.
Ich lebe zwischen der griechischen und der deutschen Kultur bis heute.
Das ist oft nicht einfach.
35 Jahre
Ursprünglich wollten meine Eltern nur 10 Jahre in Deutschland bleiben
und nicht für die Ewigkeit. Aber erst ging ich zur Schule, dann heiratet mein
Bruder, dann kamen die Enkel. So vergingen 35 Jahre.
Und dann war die Rente da.
Das Haus in Griechenland war fertig.
Was nun? - Erst jetzt bemerkten meine Eltern, dass das Leben anders
verlaufen war, als sie ursprünglich geplant hatten.
Jetzt gingen sie also zurück. In die alte Heimat. In das große neue
Haus.
Zu den Menschen, zu denen sie nicht mehr gehörten. Sie waren Fremde
geworden in der eigenen Heimat. Jetzt waren sie 'die Deutschen'. Man begegnete ihnen mit Misstrauen und auch mit
Neid. Da sagte meine Mutter einmal leise:
"Ach, hätten wir das Haus doch in
Deutschland gebaut."
Das erste Jahr war noch ausgefüllt damit, den Garten anzulegen und dies
und das im und ums Haus fertigzustellen.
Als alles fertig war, wurde mein Vater krank und starb. Und fünf Jahre
später starb meine Mutter.
Unsere Eltern haben uns, ihren Kindern, ihr schwer verdientes Vermögen
hinterlassen. Dafür sind wir ihnen dankbar. Als Menschen und als Arbeitskräfte
haben sie immer viel Anerkennung erhalten. Immer waren sie gewissenhaft und
zuverlässig. Auch ich bin so erzogen. Nicht zuletzt deshalb konnte ich meiner
Tochter den Besuch des Gymnasiums und das Abitur ermöglichen. Sie studierte
Graphik-Design und ist heute eine erfolgreiche Designerin.
Aber wir, die Kinder der ersten Gastarbeitergeneration, sind hier nicht
glücklich geworden. Die Angst vor dem Versagen steckt immer noch tief in uns,
auch wenn wir heute nicht mehr ums Überleben kämpfen müssen.
Auf diesem langen und schwierigen Weg ist allzu viel in den Familien
zerbrochen.
Mein Vater hatte sich mit der Fließbandarbeit, eingesperrt in der
Fabrik, nie anfreunden können. Zuhause war er ein freier naturverbundener Bauer
gewesen. Er war ein weiser Mann, als er schrieb:
"Wir sind nach Deutschland gekommen, um reich zu werden. Wir
sind nach Deutschland gekommen, damit unsere Kinder es besser haben.
Aber wir sind hier arm geworden. Zuhause
hatten wir für unsere Arbeit die Tiere (…).
Der alte Bauernhof meiner Eltern und das Backhaus sind
zusammengefallen. Die Scheune steht noch mit letzter Kraft. Vielleicht wartet
sie ja noch auf jemand.
Im Garten meiner Mutter blühen immer noch - von Dornengestrüpp
überwuchert- ihre Blumen.
Redigiert von Lilo Klug
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