Anna Löchner, geb. 1940 in Griechenland
 Feldarbeit
auf Baumwollfeldern (Nea Salona) 1958 (Anna 2.v.rechts)
 Der Vater (1967)
  Vater (1980) und Mutter
von Anna (1957)
 Anna 1956
im Fotostudio
 Die
Brüder Stelios und Manuel (1965)
 Anna (1.v.r) mit ihrer Familie in Griechenland (1978)

Anna (1. v. links) mit zwei ihrer Schwestern 2000
 Anna mit Sohn Konstantin (2015)
 Anna Grammenou-Löchner
Übersicht Erzählwerkstatt
|

|
Die Hoffnung auf ein besseres Leben
war größer als die Angst vor dem Unbekannten
Bericht der Hebamme Kyria
Despina
Der Zweite Weltkrieg hatte gerade begonnen, seine blutige
Spur durch ganz Europa zu ziehen, als ich, als das mittlere von neun
Geschwistern, im Dorf Gerakini auf der griechischen Halbinsel Halkidiki geboren
wurde. Kyria Despina, die Hebamme, die meine Mutter entbunden hat, erzählte mir
später, dass meine Mutter eine qualvolle Schwangerschaft durchleben musste ,während
dieser Zeit oft sehr krank war und ihre Kinder nicht versorgen konnte. Maßlos
enttäuscht und geschockt über den Anblick des unterernährten, hässlichen und
kaum lebensfähigen Wesens, das sie gerade geboren hatte, habe sie mit einer
vernichtenden archaischen Gebärde die fünf Finger der offenen rechten Hand in
meine Richtung geschleudert und dabei zornig und hasserfüllt ausgerufen: „Deinetwegen habe ich so viel
mitgemacht. „Kyria Despina erklärte mir jedoch, dass meine Mutter
wahrscheinlich durch ihre traumatischen Schwangerschafts- und Geburtserlebnisse
eine Psychose hatte und mich später trotzdem auf ihre Art liebte.
Tabu und magisches
Ritual nach der Geburt Das Weltbild der Griechen war früher von magischen
Vorstellungen geprägt. So durfte eine Mutter und ihr Neugeborenes 40 Tage lang
nicht besucht werden und es war ihnen nicht erlaubt, das Haus zu verlassen,
damit keine bösen Energien auf die beiden übergingen. Nach dieser Zeit führte ein
Priester ein spirituelles Reinigungsritual durch, indem er mit einem Bund
Basilikum, den er in Weihwasser tauchte, alle Bewohner des Hauses, die Gäste
und die Räume besprengte und dabei
betete. Erst nach dieser Zeremonie ging alles wieder seinen gewohnten Gang.
Pate wider
Willen Ein junger Mann, Joachim, der aus einer befreundeten Familie
stammte, hatte sich in die hübschen Babys, die meine Mutter bereits geboren
hatte, verliebt und wollte deshalb mein Patenonkel werden. Erwartungsvoll und bepackt
mit Geschenken kam er nach der Karenzzeit, um seine Patenschaft anzutreten.
Erschrocken über meinen Anblick, versuchte er sein Angebot spontan zurückzuziehen,
da er mit diesem hässlichen Kind nichts zu tun haben wollte. Zu spät: Für meine
sofortige Nottaufe, die bei meinem Gesundheitszustand dringend angesagt war,
benötigte meine Mutter einen Paten. Denn nach dem Glauben unserer Kirche kann
ein Neugeborenes, das ohne Taufe stirbt, nicht in den Himmel kommen. So wurde
unser Freund mein Pate wider Willen.
Du bist eine Katze Oft musste ich in den kommenden Jahren hören, ich sei eine
Katze, da ich die Geburt überlebt habe. Ich habe den Vergleich mit diesem Tier,
dem eine Redewendung sieben Leben zuschreibt, so häufig gehört, dass ich geglaubt
habe, mit diesem Tier verwandt zu sein. Diese Vorstellung hat mir in vielen
schwierigen Situationen, wie zum Beispiel Krankheit, enorme Kraft gegeben, die
Krise zu bewältigen. Identitätsprobleme waren aber die andere Seite dieser
Imagination. Ich bildete mir als Kind oft ein, kein richtiger Mensch zu sein,
sondern ein Mischwesen aus Mensch und Katze, was meine innere Einsamkeit sehr
verstärkte.
Familie
mütterlicherseits Meine Mutter, Sacharula Kliotou, wurde vermutlich 1912 in Ayvalik, einer romantischen
kleinen Stadt am Meer in Kleinasien geboren, in der bis zum Ende des Ersten
Weltkriegs viele Griechen lebten. Ihr Leben nahm einen tragischen Verlauf, da
es geprägt war von zwei Weltkriegen, dem griechisch-türkischen Krieg (1920-1922),
dem griechischen Bürgerkrieg (1945-49), Deportation, Armut und autoritären und diktatorischen
Regierungen. Ihre Familie, die griechischen Vorfahren hatte, gehörte dem
gehobenen Mittelstand an. Mein Opa, Besitzer einer kleinen Firma, die Kohlen
aus einem Bergwerk förderte, beschäftigte Griechen und Türken und hatte viele
Freunde aus beiden Volksgruppen. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass
seine Familie, die seit vielen Generationen friedlich mit der türkischen,
jüdischen, kurdischen und armenischen Bevölkerung in der heutigen Türkei
zusammenlebte, selbst Opfer des griechisch-türkischen
Krieges (1920-22) werden würde. Obwohl
nun jede Nacht Pogrome gegen Griechen stattfanden, dachte mein Opa, den
Konflikt unbeschadet überstehen zu können.
Deportation aus der
Türkei (1920) Eines Tages, als meine Mutter gerade 7 Jahre alt war, sah
sie im Morgengrauen viele Schiffe auf
dem Meer und die Straße voller Soldaten. Nun überstürzten sich die Ereignisse:
Alle griechischen Familien wurden von Soldaten hektisch auf die Schiffe getrieben
und durften außer einem kleinen Bündel Kleider nichts mitnehmen. Oma trug ihre
Nähmaschine, in die sie ein paar Goldstücke gesteckt hatte, mit sich, als sie
das Schiff bestiegen. Ein Soldat forderte sie sofort barsch auf, ihre Habseligkeiten
ins Meer zu werfen, da das Schiff extrem überfüllt sei. Was aus all den Dingen
geworden ist, welche die Griechen zurücklassen mussten, wissen wir nicht.
Ankunft der
Flüchtlinge Ziel der Deportation war die gegenüberliegende griechische
Insel Lesbos, von wo aus die Vertriebenen dann vornehmlich auf die Halbinsel
Halkidiki gebracht wurden. Die Siedlungen der Exilierten erhielten die Namen
der Orte, aus denen sie vertrieben wurden. So lässt sich z.B. der Name des
Ortes Nea Moudania von dem heutigen türkischen Ort Mudanya
ableiten. Nach ihrer Ankunft mussten
sich alle Heimatlosen in Listen eintragen. Mein Opa hatte einen Namen, der sich
türkisch anhörte, Basibagli und den er nicht in die Liste schreiben wollte, da dieser
Name in der aufgeheizten Kriegsstimmung
nur Probleme mit sich gebracht hätte. Der hilfreiche Beamte hatte Verständnis
für das Problem meines Großvaters, fragte nach Klio, dem Namen ersten Ortes auf Lesbos, der die Familie aufgenommen
hatte, und änderte, ohne zu zögern, die Namen der Großeltern. Mein Großvater
hieß ab diesem Augenblich Kliotis, meine Großmutter Kliotou. Mit ihrem Namen hatte
die Familie in Griechenland jedenfalls keine Probleme mehr.
Leben unter katastrophalen Umständen Eine Menge Probleme hatte sie allerdings, ihr tägliches
Leben zu bewerkstelligen. Die Vertriebenen bekamen von den Behörden lediglich
ein Zelt, in dem die ganze Familie ihr Leben fristen musste. Katastrophal waren
auch die hygienischen Verhältnisse, da das ihnen zugewiesene Areal in einem Sumpfgebiet
lag. Ein hoher Prozentsatz der Vertriebenen starb an Malaria, Typhus und
anderen Infektionskrankheiten. Besonders betroffen waren natürlich die alten
Menschen und die Kinder. Mein Opa hat all das Elend nicht verkraftet und starb
nur kurze Zeit nach seiner Ankunft in Griechenland. Ohne Ernährer mussten sich
nun Oma Emilia und ihre drei Töchter: Sacharo, Stella und Hariklia alleine
durch das äußerst schwierige Leben schlagen.
Zwangsheirat meiner
Mutter Von Eltern arrangierte Ehen können das Leben eines Menschen zerstören. So war es auch bei Sacharo,
meiner Mutter. Sie wurde mit 17 Jahren von ihrer Mutter gezwungen, einen Mann
zu heiraten, der zwar sehr liebevoll, ruhig und tolerant war, den sie aber
nicht liebte. Er war Witwer, über 30 Jahre alt, und hatte bereits zwei Kinder,
die er mit in die Ehe brachte. Vielleicht hatte sich meine Oma für diesen Mann
entschieden, weil er ein Haus und Grundbesitz sein Eigen nannte und weil es nur
so möglich war, Wurzeln in der einheimischen Bevölkerung zu schlagen, die den
Vertriebenen oft misstrauisch gegenüberstand. Fremd und mittellos hatte meine
Mutter keine Chance auf eine gute Zukunft. Eine Brautjungfer meiner Mutter berichtete mir
viele Jahre später, dass meine Mutter, während sie von ihr für die Hochzeit
geschmückt wurde, verzweifelt weinte und sich so mit rot verquollenen Augen der
Hochzeitsgesellschaft präsentierte musste.
Vater Vater war ein herzensguter Mann, der aus einer bäuerlichen
Familie stammte. Ungeklärt sind aber die Umstände, weshalb meine Eltern ihr Hab
und Gut bereits vor meiner Geburt verkauft haben. Das Geld verflüchtigte sich
schnell, und seit ich denken konnte, war meine Familie bettelarm. Papa, der
ehemals selbstständige Bauer, musste sich nun als Knecht bei einem anderen
Bauer verdingen und dort auch seinen Lebensmittelpunkt haben, was bedeutete,
dass er nachts selten bei uns schlief. Papa überließ alle Entscheidungen über
die Familie unserer Mutter, die er sehr verehrte.
Die Familienmanagerin Als Lohn bekam Vater
bei der Ernte ein paar Säcke mit Weizen, der uns als Grundnahrungsmittel
diente. Wir haben den Weizen in eine Mühle gebracht, wo er gemahlen wurde. Aus
diesem Mehl buk Mutter dann Brot für uns alle. Mutter war im Dorf eine allseits
beliebte Persönlichkeit. Ohne jemals eine Lehre absolviert zu haben, reparierte
sie mit ihrer kleinen Nadel kunstvoll die Sonntags- oder Festkleidung der
Nachbarn, hörte sich deren Probleme an, war verschwiegen wie ein Grab und
deutete ihren Bekannten oft in schwierigen Situationen die Zukunft aus dem
Kaffeesatz. Gefragt waren ihre ausgezeichneten Koch- und Organisationskünste
auch bei Hochzeiten und anderen Festlichkeiten. Geld bekam sie für all dies
nicht, sondern nur ein wenig Essen, Obst oder ein paar Lebensmittel, die sie an
uns verteilte. Ein paar Drachmen verdiente sie als Köchin der kleinen
Polizeistation, die es in unserem Dorf gab. Kulinarischer Höhepunkt der Woche
war bei uns das Büffet, das meine Mutter jeden Sonntag nach dem Kirchgang für uns gestaltete: Salat aus Löwenzahn
und vielen anderen Kräutern, dekoriert mit Oliven, gebratene Pilzen, Reis,
Süßigkeiten, gekocht aus Weizen, Pita mit Brennnesseln. Fleisch gab es sehr selten,
das war einfach zu teuer.
Ohne Stelios hätten noch
häufiger unsere Mägen geknurrt Stelios, mein älterer Bruder, durfte nicht in die Schule
gehen, da Krieg und Armut dies nicht zuließen, sondern musste tagsüber Schafe
hüten. Stelios war in allen Dingen Autodidakt. Er hatte keine Lehrer, hörte nur
auf seine innere Stimme und beobachtete die Natur. Auf seiner selbstgebastelten
Flöte aus Schilfrohr spielte er abends, wenn er die Schafe nach Hause trieb, meist
traurige Melodien. Ich erwartete ihn immer voll Ungeduld, da er uns jeden Abend
eine Tasche voll Pilze, Fallobst oder Mandeln mitbrachte. Manchmal hat er auch Vögel oder eine Wildente
mit seiner Schleuder getötet, um unseren schlimmsten Hunger zu stillen.
Die Geschichte vom
Klapperstorch Kaum war ich vier Jahre alt, da legte mir unsere Hebamme,
Kyria Despina, ein wunderschönes, dickes Neugeborenes mit offenen Augen,
umwickelt mit einem Tuch mit aufgestickten Rosen, in meine Arme. „Du musst gut auf Manuel aufpassen, den hat
uns die Madonna gebracht“, erklärte sie. Unser Fluss führte nur Wasser mit
sich, wenn es geregnet hatte, und in dieser Nacht regnete es heftig. Um das
wundervolle Erscheinen Manuels noch plastischer zu erklären, fügte deshalb
Kyria Despina hinzu, dass Maria Manuel über den Fluss zu uns geschickt hätte. „
Hat die Madonna ihn so gebracht, wie er jetzt ist, mit diesem schönen Tuch? Und
warum ist Manuel nicht nass?“, wollte ich wissen. „Maria hat gut aufgepasst,
dass er nicht ertrinkt. Die Allerheilige kann alles.“ Später brachte ich Manuel
oft mit Moses, der in einem Binsenkörbchen von einer Königstochter aus dem
Fluss gerettet wurde, in Verbindung.
Kinderbetreuung,
statt Schulbesuch Mein Schulbesuch war für meine Eltern zweitrangig, da ich
meine Geschwister versorgen musste. Einmal kam mein Lehrer zu mir und hat mir
mein Zeugnis gebracht, obwohl ich drei Monate gar nicht in der Schule war. „Du
darfst nicht sitzenbleiben, du bist intelligent“, mahnte er mich, „Du musst
regelmäßig die Schule besuchen, sonst bekommst du keinen Abschluss.“ Die Schule
lag nur wenige Meter von unserem Haus entfernt und so bin ich häufig hin- und
hergependelt, um die Geschwister zu betreuen. Manchmal ging ich nicht gerne in
die Schule, da ich die Hausaufgaben nicht erledigen konnte und Angst davor
hatte, mich vor dem Lehrer und der Klasse zu blamieren. Allerdings war der Geruch
des Bleistiftes, den ich heute noch in der Nase habe, wie eine Droge für
mich. Keine Trauer empfand ich, als die Partisanen
im Bürgerkrieg, der in Griechenland wütete, die Lehrer immer wieder zum Kämpfen
abholten, sodass zeitweilig der Unterricht ausfallen musste.
Der Hunger ist ein
tyrannischer Gast Hunger war unser ständiger Begleiter. Besonders mein Bruder
Joachim litt darunter. Er war spindeldürr, schrie sich als Baby oft vor Hunger
in den Schlaf. Die Schiffe, die aus aller Welt in unserem Hafen ankerten, zogen
ihn magisch an, da er sich von dort etwas zu essen erhoffte. Er schwamm deshalb
oft mit zwei oder drei seiner Freunde zu den Schiffen. Die hungernden Kinder
wurden von Matrosen an Bord gezogen, bekamen aus der Schiffsküche zu essen und
wurden dann wieder ins Wasser gelassen. Einmal musste mein Bruder beim
Zurückschwimmen gerettet werden, da er so viel verschlungen hatte, dass er im
kalten Wasser Kreislaufprobleme bekam. Später ist er dann Koch geworden, um nie mehr dieses
schreckliche Gefühl von Hunger haben zu müssen.
Darf man das
mütterliche Gebot übertreten? Meine Mutter war sehr stolz, sie hat sich dafür geschämt,
dass sie ihre Kinder nur mangelhaft ernähren konnte, und verbot uns deshalb zu
betteln. Wir durften nicht einmal sagen, dass wir Hunger hatten. Eines Tages,
als mal wieder überhaupt nichts zu essen in unserem Haus war, ging die Mutter
mit der Anweisung zur Arbeit: „ Bleibt alle in der Wohnung. Geht nicht auf die
Straße und bitte, bitte bettelt nicht.“ Da unsere Bleibe sehr eng war, lediglich aus
einem Raum bestand, war es sehr schwierig, Manuel, Eleni und Joachim, meine kleinen hungrigen und deshalb aggressiven Wölfe, den ganzen Tag
über zu beschäftigen. Ich hatte keine
andere Wahl, als mich einfach über das Verbot meiner Mutter hinwegzusetzen und
Nahrung zu beschaffen. Aber wie? Eine Mandelplantage in unserer Nachbarschaft war
gerade abgeerntet und alle Mandeln mussten von Hand aus der grünen Schale
gelöst werden. Dort gab es doch sicher Arbeit? In Panik schloss ich unsere
Wohnung ab, weil ich befürchten musste, dass die Geschwister ohne meine
Kontrolle auf die Straße gehen würden. „ Hast du Arbeit für mich?“, fragte ich
die Besitzerin der Plantage. „Ich möchte nur etwas zu essen für meine
Geschwister“, bettelte ich. Sie willigte. Ich betete, zitterte und weinte,
während ich arbeitete, so große Angst hatte ich davor, dass den Kindern etwas
passieren könnte. Vier Stunden später bekam ich ein Stück Brot und Käse. Sofort
rannte ich nach Hause, ich öffnete die Türe, alle standen verzweifelt und
weinend hinter der Türe und warteten auf mich. Sofort stürzten sie sich
wie hungrige Geier auf das Brot und den
Käse, zerrissen die Lebensmittel und verschlangen sie. Ich dankte Gott, dass
sie noch alle lebten.
Meine Mutter hat von dieser Aktion nie etwas erfahren, da
ein elterliches Gebot etwas Heiliges war, das nicht übertreten werden durfte.
Das verflixte
13.Lebensjahr Mein 13. Lebensjahr war eines der dramatischsten Jahre meines
Lebens: Ich musste teilweise meine drei jüngeren Geschwister betreuen,
stundenweise im Bergwerk arbeiten und abends noch die Schule besuchen, um die
Zeit nachzuholen, die ich während der sechs Pflichtschuljahre versäumt hatte.
Geburt einer
wunderschönen Schwester Plötzlich, im Juni, kam meine Schwester Rula, ein Baby, schön,
wie von einem Künstler gemalt. Sie hatte bereits bei ihrer Geburt so lange, schwarze
Haare, dass man ihr einen Zopf flechten konnte. Als Andonis und Morfula dem
Baby Geschenke brachten, war er so entzückt von Rula, dass er meinte, sie würde
eines Tages mit ihrer besonderen Ausstrahlung die ganze Halbinsel Halkidiki für
sich gewinnen. Spontan wollte er deshalb ihr Nonos, ihr Pate, werden.
Stirbt die Mutter? Meine Mutter hat diese, ihre letzte Geburt, jedoch kaum
überlebt. Sie blutete tagelang so stark, dass ich gar nicht in der Lage war,
die Berge ihrer blutigen Kleider und Tücher zu waschen. Der Arzt, der sie behandelte, gab sie einige Tage nach ihrer
Geburt auf. „Sacharo wird sterben“, teilte er Kyria Stella mit.
Was soll aus uns
Kindern werden? Kyria Stella, unsere Nachbarin
und Hausbesitzerin, rief in dieser tragischen Situation Nachbarinnen und
Freundinnen zusammen, um zu beraten, was mit uns Kindern geschehen sollte. Kurz
zusammengefasst planten sie, meine Geschwister an Adoptiveltern abzugeben. Für
Rula gab es die meisten Interessenten. Je älter die Kinder aber waren, desto schwieriger wurde
die Vermittlung, aber die Frauen fanden schließlich für alle Geschwister eine
Familie. Nur ich blieb übrig. Niemand wollte mich adoptieren. Für mich war eine
Stelle als Dienstmagd vorgesehen, damit ich mein Brot selbst verdienen konnte. Zufällig
hörte ich die Gespräche dieser Versammlung mit und versteckte mich eine ganze
Weile, doch dann bin ich voll Panik mitten in die Versammlung gesprungen, habe
meinen ganzen Mut zusammengenommen und gerufen: „Kein Kind verlässt das Haus.
Ich werde die Kinder großziehen.“ Dazu
war ich keineswegs in der Lage, aber ich hatte einfach große Angst, dass wir
auseinandergerissen werden. Es folgte eine kurze Diskussion zwischen den Frauen.
Ich zitterte und weinte, da nahm mich Kyria Stella in den Arm, drückte mich
fest und sagte: „Du hast mitgehört und
weißt jetzt alles. Wenn du dich stark genug für diese schwierige Aufgabe
siehst, dann helfe ich dir auch, soviel ich kann. Ich sehe auch keine andere
Lösung.“
Kyria Stella rettet
Mutter das Leben Kyria Stella nahm
mich ernst, was mich sehr beruhigte. Kurz darauf kam sie mit einer Ampulle, die
ihr ein fremder Arzt, der während des Zweiten Weltkrieges in der Gegend
stationiert war, geschenkt hatte. Das Medikament wurde als letztes und äußerst
riskantes Mittel bei Soldaten eingesetzt, deren Blutungen lebensgefährlich
waren, da es Embolien auslösen konnte. Selbstlos und souverän übernahm nun
Kyria Stella Verantwortung für das Leben meiner Mutter. Ich sah, wie sie das
Fläschchen öffnete und den Inhalt tröpfchenweise meiner Mutter einflößte, und
wusste, dass die Verabreichung dieses Medikamentes die letzte Chance war, das
Leben meiner Mutter zu retten. Durch die Gabe dieses Elixiers hat meine Mutter
überlebt. Sie war aber so schwach, dass sie noch mehrere Monate lang
bettlägerig von Kyria Stella gepflegt werden musste. Danach hat meine Mutter noch viele Jahre
gelebt, sie wurde 78 Jahre alt.
Auch Rulas Leben
liegt in Kyria Stellas Hand Mutter war nicht in der Lage Rula zu stillen. Es war damals
schwierig, ein Kind ohne Muttermilch zu ernähren, da es in unserem Dorf keine Milch zu kaufen gab und
industriell hergestellte Babynahrung noch unbekannt war. Wieder war es Stella, die das Leben Rulas rettete. Sie hat ihre einzige Ziege
täglich gemolken, die Milch sterilisiert und es war gerade so viel, dass Rula satt
wurde. Ich kann mich daran erinnern, dass diese Ziege sehr krank war. Stella
musste das große eitrige Krebsgeschwür, das die Ziege am Horn hatte, jeden Tag
operieren. Dazu klemmte sie die Ziege
zwischen ihre Beine, damit das Tier nicht entweichen konnte, schnitt das faule
Fleisch weg und legte einen neuen, frisch gewaschenen Verband an. Ich habe mich
vor dem herunterlaufenden stinkenden Eiter geekelt und Stella bewundert, dass
sie das alles für uns getan hat. Obwohl Rula nur die Milch dieser kranken Ziege
getrunken hat, ist sie prächtig gediehen. Stella hat mir mit allem geholfen: Sie hat
gekocht, Rula gewickelt und unsere Mutter gepflegt und mit jedem Problem konnte
ich zu ihr kommen
Ist Stehlen immer
Sünde? Ihr war es auch zu verdanken, dass wir nicht aus unserer Wohnung
herausgeworfen wurden, obgleich wir unsere Miete meist nicht bezahlen konnten. In
den Jahren zuvor mussten wir oft umziehen, da wir unsere Mietschulden nicht
begleichen konnten. Stella war Kriegswitwe, stammte aus einem wohlhabenden
Haus, hatte als Adoptivkind bei ihrem hartherzigen Vater aber keine gute
Stellung. Nach dem Tod ihres Mannes versorgte sie wieder ihren Vater, der sie
nicht gut behandelte. So verschloss er alle Lebensmittelvorräte in einem
kleinen Raum mit einem sehr schmalen Eingang. Stella ließ mich mehrfach durch
einen kleinen Türspalt in diese Schatzkammer steigen, damit ich ihr Speck, Öl
und andere Kostbarkeiten für unsere gemeinsamen Mahlzeiten herausreichen
konnte. Hätte uns ihr Vater erwischt, hätte er uns gnadenlos erschossen, was er
häufig glaubhaft androhte. Diese Gefahr hielt meine mütterliche Freundin jedoch
nicht ab, für uns zu stehlen. Eines Tages fragte sie mich, wie lange wir schon
kein Fleisch gegessen hätten. Ich konnte mich an diesen Genuss gar nicht mehr
erinnern. Um unsere knurrenden Mägen zu beruhigen, lockte sie die freilaufenden
Hühner eines begüterten Nachbarn mit Weizen an, fing eins von ihnen ein, schlachtete
es und kochte für uns alle eine nahrhafte Suppe. Dies wiederholte sie ein
paarmal im Jahr, damit wir bei Kräften blieben.
Stella ist für mich keine Diebin, sondern eine Heilige, ohne
deren uneigennützige Hilfe wir alle ein schreckliches Schicksal gehabt hätten.
Der Zweite Weltkrieg
Eine Katze auf
Futtersuche Bis 1944 waren in unserer Kirche Soldaten in Zelten
stationiert. Ich weiß nicht, ob es Bulgaren oder Deutsche waren. Sie haben in
riesigen Töpfen gekocht und ihr Eintopf duftete verführerisch durch das ganze
Dorf. Trotz des strengen Verbotes der Mutter und trotz ihrer Warnung, dass die
Soldaten Kinder töten würden, trieb mich der Hunger immer wieder in die Nähe
dieser Kochtöpfe. Eines Tages, als ich allein dort war und der Hunger mich
quälte, erinnerte ich mich an die oft wiederholten dramatischen Worte der
Mutter: „Du bist eine Katze!“ Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Soldaten
Katzen töten würden, und so habe ich Mut gefasst und bin zu ihnen hingegangen.
Ein Soldat musste Mitleid mit mir gehabt haben, denn er hat mich hergewunken,
in ein Blechgefäß aus Aluminium Eintopf gefüllt und lapidar gesagt: „Essen!“
Von meinen leckeren Sonderrationen, die ich mir täglich in der Kirche abgeholt
habe, hat meine Mutter nie etwas erfahren, da ich schon mit vier Jahren
überzeugend lügen konnte.
In dieser Situation war es vorteilhaft, dass ich mich als
Katze gefühlt habe, da mir diese Vorstellung die Angst vor den Soldaten
genommen hat.
Faschistischer Terror
auch bei uns Andere schreckliche Bilder aus dem Krieg verfolgen mich
heute noch: Ich sehe einen Lastwagen wegfahren, auf dem viele Menschen sitzen.
Eine Gruppe alter Menschen winkt, weint und gestikuliert verzweifelt. Ich war
neidisch auf die Leute und wünschte mir, zusammen mit ihnen auf diesem Lastwagen
sitzen zu können. Ich fragte deshalb verwundert eine alte Frau, weshalb sie
weine, die Menschen auf dem Lastwagen würden doch nur einen Ausflug machen.
„Das sind unsere Kinder, Freunde und Verwandte, die sehen wir nie wieder“,
schluchzte die Frau. Viel später erfuhr ich, dass es Juden und Armenier waren,
die in ein Konzentrationslager abtransportiert wurden.
Bürgerkrieg (1944-49) 1944 kamen die Engländer nach Griechenland. Mit ihnen
Care-Pakete von den USA und eine neue Phase des blutigen Bürgerkriegs, der in
unserer Gegend brutaler geführt wurde als der Zweite Weltkrieg. Von den
Siegermächten USA und Sowjetunion für ihre Zwecke manipuliert, wurde der
„Mensch dem Menschen ein Wolf“.
Vater wird Opfer rechter
Milizionäre Rechte Regierungsmilizen in Zivil kontrollierten im Auftrag
der neuen monarchischen Regierung unser Gebiet, um den kommunistischen
Partisanen die Versorgung abzuschneiden. Eines Tages, mitten im Bürgerkrieg,
transportierte mein Vater friedlich auf seinem Esel Mehl für unsere Familie.
Die Milizionäre hielten Vater an und unterstellten ihm, dass er das Mehl den
kommunistischen Partisanen bringen wollte. Obwohl mein Vater seine Unschuld
beteuerte, schlugen die Soldaten mit Sand gefüllten Socken so heftig auf ihn
ein, dass er mit Blutergüssen übersät war, viele Knochenbrüche hatte und
gemartert auf allen Vieren nach Hause gekrochen kam und dort monatelang im Bett
liegend gepflegt werden musste. Das Verhalten dieser Soldaten war besonders
kriminell und pervers, da diese Verbrecher meinen Vater kannten und genau wussten, dass er ein bekennender und
leidenschaftlicher Anhänger des Königs war und viele Kinder versorgen musste.
Einer dieser Schläger war sogar ein entfernter Verwandter meines Vaters.
Die Bevölkerung massakriert
sich selbst. Eines Morgens klopfte es sehr laut an die Türe. Meine Mutter
verbot uns rauszugehen. Neugierig, wie ich war, drängte ich mich dennoch durch ihre
Füße hindurch ins Freie. Das hätte ich nicht tun sollen, denn direkt vor unserer
Türe lagen zwei Leichen mit abgeschnittenen Köpfen. Den Ermordeten die Köpfe abzuschneiden, war gängige Praxis der
Partisanen, damit die Familien der Opfer ihre Angehörigen nicht identifizieren
konnten. Nun wurde mir klar, dass Mutter uns mit ihrem Verbot schützen wollte.
Besuch einer
Partisanin Auch an eine andere schlimme Situation kann ich mich
erinnern: Wir schliefen, ich wachte auf und sah eine junge Griechin mit Zöpfen,
bewaffnet, und mit einer Art Uniform bekleidet. Sie schaute sich in unserer
armseligen Wohnung um, fand nichts, was mitnehmenswert gewesen wäre, außer zehn
frisch gebackenen Laiben Brot, die auf einem Wandregal lagen. Dieses Brot war
die Wochenration der ganzen Familie, die von meiner Mutter immer einmal in der
Woche gebacken wurde. Die Frau nahm diese Laibe, steckte sie, ohne etwas zu
sagen, in einen Sack. Meine Mutter bettelte, uns nur einen Laib zu lassen, da
sie kein Mehl mehr habe und die Kinder großen Hunger leiden müssten. Die
Partisanin antwortete: „ Wir kämpfen für das ganze Volk und du sorgst dich um
deine Kinder!“ Sie packte meine Mutter mit voller Kraft, schleuderte sie auf
die andere Seite des Zimmers und verschwand wieder in der Nacht.
Evakuierung Unser Dorf konnte leicht geplündert werden, da es sowohl vom
Meer als auch vom Gebirge her problemlos einzunehmen war und kein militärischer
Schutz da war. Unsere Situation wurde immer bedrohlicher, so dass wir in ein
anderes Dorf evakuiert werden mussten. Die Regierung hatte dort viel Polizei
positioniert, die uns beschützen sollten. Wir Kinder konnten nicht erfassen, in
welch gefährlicher Lage wir uns befanden. Lachend und singend saßen wir auf dem
Wagen, der uns ins Exil nach Agios Mamas brachte.
Grenzenlose
Hilfsbereitschaft Als Unterkunft diente uns ein Klassenzimmer in der
Dorfschule, das uns zusammen mit einer anderen Familie zugewiesen wurde. Der Vater der
anderen Familie, Eustsathios Statis, war Schattenspieler. Für seine
Darbietungen bekam er von den Zuschauern Eier, Käse, Wurst und andere
Lebendmittel, die er immer in unser Asyl mitbrachte. Magdalena, seine Frau, breitete
dann auf dem Boden eine Decke aus und verteilte das Essen gerecht auf dreizehn Teller. Für Magdalena war es
selbstverständlich, dass sie das Wenige, was sie hatte, mit uns, die nichts
hatten, teilte. Kostas, ihr kleiner Sohn, der wie wir von den kleinen Rationen
nicht satt wurde, schleckte nach den Mahlzeiten immer alle Teller aus, in der
Hoffnung, dass noch einige Krümel an seiner Zunge hängenblieben.
Brustdrüsenentzündung
der Mutter Zu allem Elend
entzündeten sich die Brustdrüsen meiner Mutter, welche die ca. sechs Monate
alte Eleni noch stillte. Die eitrige Infektion bedrohte ihr Leben, Fieberkrämpfe schüttelten sie, eine Operation
war unverzüglich geboten. Hilfreiche Männer legten meine Mutter auf einen
Karren und transportierten sie nach Nea Moudania, dem nächst größeren Dorf, wo
es einen Arzt gab, der die Operation durchführen konnte. Kurz vor der Abfahrt
habe ich mich unbemerkt auf dem Karren unter einer Decke versteckt, so dass ich
als blinder Passagier befördert wurde. Mich zurückzuschicken wäre zu gefährlich
gewesen. Bis meine Mutter wieder gesund war, hat Magdalena Eleni aus
christlicher Nächstenliebe gepflegt. Später wurde sie Elenis Patin. Beide
Familien stehen sich heute noch sehr nahe. Ohne die selbstlose
Hilfsbereitschaft vieler Menschen wie Magdalena hätten die Kriege noch
wesentlich mehr Todesopfer gefordert.
Unerwartetes
Kennenlernen meiner Halbschwester Maria Meine Eltern sahen sich nach ihrer Heirat nicht in der Lage, die beiden Kinder zu
versorgen, die Vater mit in die Ehe gebracht hatte. Aus diesem Grund gaben sie
Maria einer wohlhabenden Familie zur Adoption. Wir hatten keinerlei Kontakt zu
Maria. Ich wusste lediglich, dass sie existierte. Als ich ungefähr zwölf Jahre
alt war, informierte mich eine Tante ganz unerwartet, dass ich Maria zwei Tage
später auf einem 15 km entfernten Volksfest treffen könne. Die Vorstellung,
meine zehn Jahre ältere Halbschwester zum ersten Mal zu sehen, setzte mich in
so freudige Erregung, dass ich die nächsten beiden Nächte nicht schlafen
konnte. „Wie sieht sie aus? Wird sie mich mögen?“. Solche und ähnliche Fragen
beschäftigten mich Tag und Nacht. Den Weg zum Volksfest mussten ein paar
Freunde und ich zu Fuß bewältigen, da es damals weder Bahn noch Bus dorthin
gab. Völlig erschöpft, aber voll sehnsüchtiger Erwartung kam ich an.
Mir blieb einfach die Sprache weg, als wir einander
vorgestellt wurden. Eine liebenswerte, außergewöhnlich hübsche, junge Dame stand lächelnd vor mir. Maria brach den
Bann auf ihre herzliche Art. Sie drückte und umarmte mich ganz heftig und lud
mich zu ihrer bevorstehenden Hochzeit ein. Ab diesem Zeitpunkt fühlten wir uns
innig verbunden.
Mein erster
Arbeitsplatz Der Besuch eines Gymnasiums war nur einer hauchdünnen
Schicht, der sog. Elite, vorbehalten. Mit zwölf Jahren hatten die allermeisten
Kinder nach sechs Jahren Volksschule ihre Schulpflicht beendet und wurden in
den Arbeitsprozess eingegliedert. Ich selbst bekam einen Arbeitsplatz in
unserem Bergwerk, in dem Leukolith, Magnesit, Magnesium Karbonat, gefördert
wurde, das hauptsächlich für die
Produktion von feuerfesten Materialien gebraucht wird. Die Flaggen der Schiffe,
die in unserm Hafen mit Leuzit beladen wurden, zeigten an, dass dieser Rohstoff
in vielen Ländern der Welt gebraucht wurde.
Auf der Suche nach
der Geburtsurkunde Die Leitung des Bergwerks forderte mich auf, meine
Geburtsurkunde mitzubringen, damit sie mich als ordentliche Arbeiterin führen
konnte. Dieses Dokument gab es nur im Rathaus in der zwölf Kilometer von uns
entfernten Stadt Polygyros , also musste ich dorthin, um es zu erwerben. Der
Standesbeamte fragt nach meinen Daten,
blättert im Geburtsregister und stellt mir eine Urkunde aus. Doch was musste
ich lesen? Da stand nicht Anna Grammenou
(geb.1940), sondern Grammatiki Grammenou (geb.
1941), der Name meiner kurz nach der Geburt gestorbenen Schwester. Vergeblich
versuchte ich den Irrtum aufzuklären. Leider fand der Beamte trotz nochmaliger
intensiver Recherche meinen Namen weder im Tauf- noch im Geburtsregister. Für
die Behörden war ich also ein Phantom. Verzweifelt bin ich nach Hause gelaufen.
Meine Mutter war dem Rätsel aber auf der Spur: Der Postbote, Pavlos, unser
Nachbar, hatte die Aufgabe, die Geburts- und Taufdaten aller Kinder, die in
unserem Dorf geboren wurden, in der Hauptstadt von Halkidiki, Polygyros, registrieren
zu lassen. Außer mir hatte er bis jetzt kein Kind vergessen, ich existierte
nicht. Wie so oft, war auch dieses Mal Kyria Despina, unsere Hebamme, die
Retterin aus der Not: Über alle Geburten, die sie betreut hatte, führte sie
sorgfältig Buch und konnte deshalb den Standesbeamten von meiner Existenz
überzeugen, so dass ich in kurzer Zeit stolz meine eigene Geburtsurkunde in Händen
hielt . Um sicher zu gehen, dass alle Eintragungen im Geburtsregister, die
unsere Familie betrafen, stimmten, verglich sie ihre eigenen Daten mit den
Daten des Amtes. Keinesfalls deutsche Gründlichkeit sprang ihr da in die Augen.
Mal war meine Mutter bei der Registrierung der Geburt ihrer Kinder als „Sacharo“
(dt. Zucker), mal als „Sacharula (dt. Zuckerle, verniedlichende Form) eingetragen.
Der Standesbeamte hatte einfach geschrieben, was ihm Pavlos diktierte. Ab
diesem Zeitpunkt wusste ich, dass ich
mein Leben selbst in die Hand nehmen musste.
Arbeit im Bergwerk Als 12-Jährige bekam
ich im Bergwerk nur leichte Arbeiten zugewiesen. Ich saß am Ausgang des
Bergwerkes und gab jedem Arbeiter, der einen vollen Waggon mit Leukolith herausfuhr,
eine Marke. Die Arbeiter wurden nach der Anzahl
ihrer Marken bezahlt, einer Art Akkordsystem. Außerdem musste ich jedem
Durstigen aus einem großen Krug Wasser in die selbst mitgebrachten Tassen einschenken. Wesentlich
anstrengender wurde es im zweiten Jahr. Jetzt war meine Schonfrist vorbei. Bei
40 Grad Celsius in der Sonne wurde außerhalb des Bergwerkes der Inhalt der
Fördermasse sortiert und nur die verwendbaren Steine zum Verkauf vorbereitet.
Dichter weißer Staub wirbelte dabei auf, der unerbittlich in Mund und Nase
eindrang und die Augen reizte. Keine Arbeitsschutzmaßnahmen sorgten für unsere
Gesundheit. Lediglich um unser Haare vor dem Staub zu schützen, und als Sonnenschutz
trugen wir weiße Kopftücher, die wir manchmal auch wie eine Atemschutzmaske um Mund und Nase
banden. Mein Bruder und viele andere Arbeiter und Arbeiterinnen sind
vermutlich durch diese massive
Staubeinwirkung an Lungenkrebs gestorben.
Erste platonische
Liebe Mittags durften wir im Schatten der Bäume sitzen und unsere von
zu Hause mitgebrachte Mahlzeit essen. Niemals kam während dieser Zeit
Langeweile auf, da Kollegen alte Mythen, Märchen, Witze oder auch nur den
neusten Tratsch erzählten. Ich war besonders beeindruckt, wenn ein attraktiver
junger Mann, bestimmt 15 Jahre älter als ich, spannende Geschichten zum Besten
gab, denen die Arbeiterinnen und Arbeiter fasziniert lauschten. Plötzlich war
Nico, so hieß dieser Mann, meine erste große Liebe, die er aber keinesfalls
erwiderte. Nicht einmal angeschaut hat mich Nico, wenn er seine Geschichten
erzählte, sondern immer nur andere. Wie konnte ich, ein dürres, unscheinbares
12-jähriges Geschöpf, mich nur so bemerkbar machen, dass er endlich Notiz von
mir nahm?
Auch Anbaggern will
gelernt sein Mein erster Annäherungsversuch
war recht plump und ging voll daneben: Obwohl er mit einem randvollen Waggon
mit Leukolith aus dem Bergwerk kam, gab ich ihm keine Marke für seine Leistung,
sondern bemängelte, dass der Wagen nur unzureichend gefüllt sei. Beim dritten
Mal war er richtig böse. „Mach mit mir nicht solche Spiele“, zischte er und
setzte mich auf den Wagen. „So, jetzt ist er voll “, bemerkte er drohend. Ich
schrie, so laut ich konnte, da mein Plan so kläglich gescheitert war. „Er hat
mich geschlagen“, log ich unseren Chef an, der die Szene mitbekam. Der Chef
zögerte nicht lange und versetzte Nico in eine andere Abteilung. Natürlich
versteckt ich mich eine Zeitlang, wenn Nico in der Nähe war, denn seine Drohung:
„Wenn ich dich erwische, dann wirst du was erleben“, klang mir in den Ohren.
Endlich erreiche ich
mein Ziel Vier Jahre lang hatte ich keinen Kontakt zu ihm, aber meine Sehnsucht
war noch so heftig wie am ersten Tag. Eines Tages begegneten wir uns zufällig.
Zuerst bin ich erschrocken, weil ich nicht sicher war, wie Nico reagieren
würde. Zu meinem Erstaunen machte er mir Komplimente und suchte, wenn es
möglich war, meine Nähe. Nico verliebte sich in mich und wollte mich heiraten,
allerdings mit der Einschränkung, dass er zuvor mindestens zwei seiner vier
Schwestern verheiraten müsse. Es war damals Brauch, dass der älteste Sohn einer
Witwe erst heiraten durfte, wenn zumindest der Großteil der Schwestern einen
Ehemann hatte, was in Nicos Fall Jahre dauern konnte.
Blinddarmoperation,
um Nico nahe zu sein Eines Tages hörte ich
von meinen Kolleginnen, dass Nico ins
Krankenhaus nach Thessaloniki
wegen einer akuten Blinddarmentzündung gebracht worden sei. Ich erkannte
meine Chance, simulierte eine Blinddarmentzündung, indem ich vorgab, an meinem
rechten Unterbauch starke Schmerzen zu haben und mich häufig übergeben zu
müssen. Ich spielte so überzeugend, dass mich der Betriebsarzt in das
Krankenhaus überwies, in dem auch Nico lag. Der Weg dorthin war lang und
beschwerlich, fast 100 km, die ich im Bus in Begleitung meiner Mutter
zurücklegte. Aber was macht man nicht alles, wenn man verliebt ist. Im
Krankenhaus zog ich wieder meine Show ab. Die Ärzte operierten mich, da sie in diesem antiquierten
Krankenhaus ihre Diagnose nicht mit Hilfe von Laborwerten überprüfen konnten.
Nico und ich hatten nun die Gelegenheit tagelang ausführlich über Gott und die
Welt zu reden.
Wohin ist die Liebe
entschwunden? Nach dem Krankenhausaufenthalt war mein Blinddarm weg, aber
leider auch meine Schwärmerei für Nico. Heute weiß ich, dass ich noch nicht
reif für eine feste Beziehung war. Was ich fieberhaft suchte, war Bestätigung: War
ich, das ehemals hässliche Entlein, in der Lage, einen so attraktiven Mann wie
Nico in meinen Bann zu ziehen? Mit hohem Einsatz hatte ich das Spiel gewonnen.
Flucht in die Ehe Ich hatte genug von der Armut, von meiner schmutzigen,
unbefriedigenden Arbeit und der Enge unseres Dorfes. So wuchs mein Wunsch, das Dorf zu verlassen,
von Tag zu Tag. Es gab einfach zu viele Probleme, die ich nicht bewältigen konnte.
Von morgens bis abends dachte ich nur noch an Flucht. Für ein armes Mädchen
ohne Bildung gab es in der damaligen Zeit keine Chance, die Familie und das
Dorf zu verlassen, außer Heirat. Vielleicht hätte ich auch Dienstmädchen oder
Prostituierte in Thessaloniki werden können, aber das wollte ich nicht.
In dieser Situation tauchte Georg auf, ein hübscher Mann, der
ein Haus, eine liebenswerte Familie und Land besaß. Kaum kannten wir uns, da
hielt er auch schon bei meinen Eltern um meine Hand an. „Kein Ort der Erde kann
schlimmer sein als unser Dorf“, dachte ich, und war bereit, Georg zu heiraten
und zu seiner Familie nach Nea Salona, ca. 150 km von uns entfernt, zu ziehen. In
der Familie meines Mannes fühlte ich mich wohl, da ich wie eine Tochter aufgenommen
wurde. Wie ein Prinz wurde auch mein Sohn Konstantin behandelt, der ca. ein
Jahr nach unserer Hochzeit geboren wurde. Trotz dieser liebevollen Umgebung
geriet unsere Ehe in eine tiefe Krise, aus der ich keinen Ausweg mehr sah.
Georg und ich hatten vor unserer Hochzeit einfach keine Gelegenheit, uns näher
kennenzulernen, jetzt waren wir uns fremd. Verzweifelt besuchte ich mit Konstantin meine
Eltern, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
„Deutschland sucht
fleißige Hände“ Vielleicht war es ein Wink des Schicksals, als ich auf einem
Müllhaufen eine schon etwas ältere Zeitung mit der Schlagzeile: „Deutschland
sucht fleißige Hände“ sah. Schnell hob ich die Zeitung auf und las, die Zielgruppe
seien junge Frauen, die von einer deutschen Firma gesucht würden. Plötzlich
öffnete sich für mich der Himmel. Ich sah nun eine Möglichkeit, mein Leben zu
ändern: Die Firma Blech und Stähle in
Bad Cannstatt hatte in einem Hotel in Thessaloniki ein Anwerbebüro
eingerichtet, das von einer Griechin, die in Deutschland lebte, geleitet wurde.
Diese Dame erklärte mir sehr sachlich alle Formalitäten und die Arbeits- und
Lebensverhältnisse, die ich in Deutschland vorfinden würde. 1.90 DM war der
Brutto-Tariflohn pro Stunde. Überglücklich rechnete ich aus, wie schnell ich – bei
einer Arbeitszeit von zehn Stunden täglich - Drachmen-Millionärin werden würde.
Leider hatte ich keine Ahnung von Brutto und Netto und den anderen Abzügen, die
mich erwarteten.
Der Abschied Für meinen Pass benötigte ich damals noch die Unterschrift meines
Mannes, die er mir zunächst verweigerte. Erst als ich ihm zusicherte, dass ich
ihm eine Einladung, ohne die man nicht nach Deutschland kam, schicken würde,
unterschrieb er, da auch er in diesem Land arbeiten wollte. Für mich war mit
dieser Unterschrift die Ehe beendet. Mein Kind gab ich in die Obhut meiner
fürsorglichen Schwiegermutter. Als ich Konstantin zum letzten Mal in die Arme
nahm und er mich herzlich drückte, brach es mir fast das Herz. Ich wollte mein
geliebtes Kind unter allen Umständen nach Deutschland nachholen, was mir aber
das Schicksal versagte.
Mit dem Zug nach
Deutschland Im Frühling 1960
war es dann soweit. Nachts um drei warteten wir, eine Gruppe von ca. 12 jungen
Frauen, unsere Betreuerin und ich auf den Orientexpress Richtung Stuttgart.
Alle Frauen hatten mit der Firma Blech und
Stähle Arbeitsverträge abgeschlossen. Die Hoffnung, ein neues, besseres
Leben beginnen zu können, war größer als die Angst vor dem Unbekannten.
Mein Gepäck bestand
lediglich aus einem uralten Koffer mit Kleidern und einer Decke, den ich mit einer
Schnur fest zusammengebunden hatte, damit er nicht aufplatzen konnte. Da ich
keine Ahnung von der riesigen Distanz zwischen Deutschland und Griechenland
hatte, dachte ich, dass wir nach kurzer Zeit unser Ziel erreicht hätten. Erst nach einer 48-stündigen
Fahrt, die ich auf dem Koffer sitzend verbringen musste, erfasste ich, wie
weiträumig Europa ist.
Ankunft in
Deutschland Die Ansage: „Stuttgart Hauptbahnhof“ waren die ersten
deutschen Worte, die ich in meinem Leben vernommen habe. Unsere Begleiterin
übersetzte sie und führte uns durch den für mich gigantischen Stuttgarter Bahnhof zu einem Bus, der auf uns
wartete und uns in unser Domizil nach Strümpfelbach brachte. Die Firma Blech und Stähle hatte dort für alle ihre
griechischen Arbeiterinnen eine Pension mit ungefähr sechs Zimmern angemietet,
in denen jeweils drei Doppelstockbetten standen. Das Essen wurde von einer
griechischen Köchin zubereitet.
Fremd in der Fremde Unser Leben spielte
sich in den ersten Monaten nur zwischen Firma und Unterkunft ab. Nach dem
Abendessen standen wir immer am Fenster und schauten den spielenden Kindern zu,
die uns manchmal wie den Affen im Zoo neugierig zuwinkten, da wir die ersten
Exoten in Strümpfelbach waren. Manchmal winkten wir zurück, andere Beziehungen zur
deutschen Bevölkerung hatten wir ja nicht. Auch der Kontakt zu meinen
Mitbewohnerinnen war eher spärlich. Jeder wollte mit seinen Gedanken an seine
Familie, an Griechenland alleine sein und manchmal davon träumen, dass man in
fünf Jahren so viel Geld zusammengespart hätte, um eine neue Existenz zu
gründen. Dass die Realität anders war, erkannte ich nach meiner ersten
Lohnabrechnung. Jeden Monat schickte ich Mutter Geld für Essen, und damit Rula
das Gymnasium besuchen konnte. Übrig vom Lohn blieben mir dann nur noch wenige Deutsche
Mark. Erschwerend kam hinzu, dass die Kommunikation mit meiner Familie sehr
eingeschränkt war, da meine Familie und die Nachbarn kein Telefon besaßen. Wir
konnten uns gegenseitig nur Briefe schreiben, und gerade damit hatte die ältere
Generation, die nur wenige Jahre die Schule besucht hatte, Probleme.
Schicksalhafter
Besuch beim Chef Wenn man sich in
einem fremden Land nur mit der Zeichensprache und Worten wie: „Grüß Gott“,
„Komm mal her!“, „schnell!“ usw. verständigen kann, wird man einsam, depressiv
und man reagiert panisch. Ich bildete mir ein, meine Firma sei mit meiner
Leistung als Akkordarbeiterin nicht zufrieden, da ich keine Rückmeldung
bekommen konnte.
Heimwehkrank und
verzweifelt forderte ich nach drei Monaten einen Dolmetscher, ging zum Chef und
verlangte meine Papiere. Mein Chef beruhigte mich: „Warum willst du weg? Wir
sind mit deiner Leistung sehr zufrieden. Was dir fehlt, ist nur die deutsche
Sprache.“ Er wies einen Mitarbeiter an,
mich zur Volkshochschule nach Stuttgart zu bringen, damit ich einen Deutschkurs
belegen konnte. Von da ab ging es mir besser.
Meine kleine Karriere Im Laufe meines Lebens hatte ich viele Jobs: u. A. Akkordarbeiterin, Betreuerin griechischer
Arbeiterinnen, Hausfrau und Mutter, Bankberaterin für griechische Gastarbeiter,
Maklerin für Bausparverträge, Sozialfürsorgerin in der Diakonie, vereidigte
Dolmetscherin im Gericht und Gefängnis
und viele ehrenamtliche Tätigkeiten. Ständige Weiterbildung in der VHS,
Privatunterricht und eine Prüfung im Oberlandesgericht in Stuttgart verhalfen
mir zu meinem Dolmetscherdiplom. Dankbar bin ich meinen ehemaligen Vorgesetzten
in der Diakonie, die eine Frau ohne staatlichen Berufsabschluss sehr gefördert
haben. Sie schickten mich in Seminare, die für Mitarbeiter der Diakonie
angeboten wurden. Dort bekam ich das Rüstzeug für meinen sehr anspruchsvollen
Beruf. In Deutschland habe ich viel Unterstützung bekommen und Freunde
kennengelernt, sodass ich froh bin, hier zu sein. Aber: Ohne Fleiß, kein Preis!
Mein Leben im
Spannungsfeld zweier Kulturen
Vorurteile sind
verletzend Dank meiner Tätigkeit als
Sozialarbeiterin war ich in einer besseren Situation als viele meiner
Landsleute, aber ich war nicht ganz verschont von Diskriminierungen, da hat mir
auch meine doppelte Staatsangehörigkeit nicht geholfen. Die Vorurteile, die
viele Menschen Fremden gegenüber formulieren, haben mich schon verletzt. „Bei
euch hat die Frau nichts zu sagen.“ „Bei euch ist es nicht so sauber.“ „Ihr
nehmt uns die Arbeitsplätze weg.“ „Die Griechen sind ein arrogantes Volk.“ Das
sind so die gängigen Stereotypen, die man als „Fremder“ immer mal wieder hören
muss. Dass ich aber so angenommen wurde, wie ich bin, beweist meine zweite Ehe
mit einem Deutschen, dessen Namen ich trage. Aus dieser Verbindung sind zwei
wunderbare Kinder hervorgegangen, die Ehe selbst ist allerdings leider auch in
die Brüche gegangen.
Anfeindungen im
Betrieb Die größten Anfeindungen erlebte ich von deutschen
Kolleginnen der Firma KACO in der ersten Hälfte der 60er Jahre. Sie haben die
spanischen und griechischen Kolleginnen feindselig spüren lassen, dass durch deren
hohe Produktionsleistung die Akkordzahlen in die Höhe schnellten. Je gebildeter
die Menschen waren, denen ich begegnet bin, desto offener und vorurteilsfreier
waren sie.
Probleme bei der
Wohnungssuche Besondere Probleme hatte ich bei der Wohnungssuche. Immer
wenn ich telefonisch auf Inserate geantwortet habe, hatte ich keinen Erfolg.
Durch meinen griechischen Akzent war ich sehr verunsichert, meine Stimme
zitterte und mein Deutsch wurde schlechter. Spätestens nachdem der Inserent am
anderen Ende der Leitung erfahren hatte, dass ich aus Griechenland komme, hörte
ich: „Die Wohnung ist leider schon vergeben.“, oder schlimmer noch: „ Wir
wollen Abstand (von Ausländern) halten.“. Ganz anders reagierte eine
Hausbesitzerin, die viele Bewerber hatte.
Da ich ihre Adresse von einem Makler bekam, umging ich das Telefon,
klingelte an ihrer Türe und erhielt spontan
die Wohnung. Ihr war es gleichgültig, woher ich kam. Sie fand mich sympathisch
und traute mir zu, dass ich die Wohnung in Ordnung halten würde. Meine
ehemalige Hausbesitzerin ist eine Frau mit Herz und Verstand. Solche Menschen
braucht Europa.
Auch in Griechenland
sind Emigranten stigmatisiert Bedauerlicherweise sind die Griechen, die nach Deutschland
ausgewandert sind, in Griechenland häufig stigmatisiert. Man redet manchmal
sogar in unserem Beisein abfällig von uns als den „Deutschen“. Mit diesem Wort
werden wir aus der griechischen Gesellschaft ausgegrenzt. Es wird uns damit
signalisiert, dass wir nicht mehr dazugehören. Auch die eher mitleidige Frage,
wo ich beerdigt sein möchte, habe ich schon mehrfach gehört. Da ich beide
Länder als meine Heimat betrachte, werde ich mich selbstverständlich in dem
Land beerdigen lassen, in dem ich sterbe.
Immigranten
bereichern die Kultur eines Landes Mit der Zuerkennung der doppelten Staatsbürgerschaft habe
ich mich nicht geändert. Noch immer bin ich die Anna. Ich bin froh und stolz,
in zwei Kulturen beheimatet zu sein, aber ich bin wütend, wenn ich
fremdenfeindliche Bemerkungen höre. Menschen, die in zwei oder mehreren
Kulturen ihre Wurzeln haben, sind eine Bereicherung für ein Land, da wir aus der
jeweils anderen Kultur vieles mitbringen, was befruchtend wirken kann. So
könnten die Griechen von den Deutschen z.B. das Funktionieren der Behörden und das
Gesundheitssystem übernehmen und mehr auf Pünktlichkeit und Ordnung achten. Fröhlichkeit,
Gelassenheit, Flexibilität, typische Merkmale der griechischen Lebensweise, würden
sicherlich mehr Lebensqualität nach Deutschland bringen. Die Krönung aber wäre,
wenn die griechische Sonne und die Ägäis in Deutschland Einzug halten würden.
Ein neues Europa, ein
humaneres Europa soll es sein Was bringt es den Menschen, wenn Europa seine Grenzen ständig erweitert und die Menschen und
Kulturen sich fremd bleiben? Es sollte
eine Freude sein, voneinander zu lernen und Erfahrungen auszutauschen. Wenn wir
nicht offen miteinander umgehen, verschwindet viel Wissen und Bürgerkriege
drohen. Ein humanes Europa kann nur durch Arete,
was in der griechischen Philosophie oft für Klugheit, Gerechtigkeit, Weisheit, Besonnenheit,
Tüchtigkeit und Tapferkeit steht, errichtet werden. Ich wünsche mir nicht nur
ein großes Europa, sondern ein Europa, auf das die Menschen stolz sind und das geprägt
ist von Toleranz und Menschlichkeit.
Die Geschichte wurde weitererzählt von Christel
Banghard-Jöst
|

|

Hier können Sie alle Themen
und Beiträge durchsuchen
Sie sind noch kein Mitglied und möchten trotzdem regelmässig über die Aktivitäten von Diaphania informiert werden?
Hier können Sie sich für die Newsletter unseres Vereins anmelden:
|